Читать книгу Ratekrimis zum Selberlösen : 40 x dem Täter auf der Spur - H.P. Karr - Страница 3
ОглавлениеTable Of Contents
06. Abschied eines Frauenhelden
09. Marlene macht sich Gedanken
13. Marlene und das schwarze Schaf
16. Das Geheimnis der Totentafel
22. Attentat auf einen Teddybären
23. Ermittlung im Morgengrauen
35. Vergangenheit kann tödlich sein
Leseprobe H. P. Karr präsentiert Geister, Gräber, Gänsehaut – 13 Gruselstorys
01. Sein letzter Brief
In dem Studierzimmer herrscht eine ruhige, weltentrückte Atmosphäre, die nicht ohne Wirkung auf die Beamten der Mordkommission bleibt. Jedenfalls registriert Kommissarin Marlene Kemper, dass die Spurensicherer und die Angestellten der Rechtsmedizin schweigsamer als üblich ihre Arbeit verrichten. Für einen Moment lässt Marlene ihren Blick über die deckenhohen Bücherregale und die historischen Kupferstiche gleiten, mit denen Lothar Brandt die Wände seines Arbeitszimmers verziert hat. Es ist ein Zimmer, wie Marlene es von ihrem Onkel kennt, bei dem sie aufgewachsen ist. Er ist einer der bekanntesten Anwälte in der Stadt, und Marlene ist ihm heute immer noch dankbar dafür, dass er es ihr damals nach der Schule ermöglicht hat, zur Kriminalpolizei zu gehen. Das ist jetzt mehr als zehn Jahre her. Inzwischen hat Marlene es bis zur Leiterin der Mordkommission gebracht. Sie schiebt sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und widmet sich wieder dem Fall, den sie zu lösen hat.
Der Tote liegt mit dem Oberkörper auf der Platte seines wertvollen viktorianischen Schreibtisches. Lothar Brandt ist seit mehr als vier Stunden tot, wie der Rechtsmediziner eben festgestellt hat. Auf einem Beistelltisch links von dem Toten steht eine geschliffene Wasserkaraffe und ein leeres, benutztes Glas. Neben dem Glas liegt ein leeres Medizinfläschchen mit einem Giftsymbol auf dem Etikett.
»Blausäure«, diagnostiziert der Rechtsmediziner. »Er muss den Inhalt des ganzen Fläschchens auf einmal eingenommen haben. Danach ist sofort der Tod eingetreten.«
Selbstmord, so scheint es. Lothar Brandt, der bekannte Historiker, dessen Bücher Millionenauflagen erzielten, hat sich das Leben genommen.
Marlene mustert die gediegene, mit viel Sorgfalt zusammengestellte Einrichtung des Studierzimmers und fragt sich, warum ein Mann, der so viel Zeit und Mühe in die Gestaltung dieses Zimmers und seines ganzen Hauses gesteckt hat, seinem Leben jetzt einfach selbst ein Ende gesetzt haben soll?
Lothar Brandt ist vor einem Stunde von seinem Neffen Werner gefunden worden. Werner hat seinen Onkel besuchen wollen und ist, als dieser nicht öffnete, ums Haus herumgegangen. Durch das Fenster des Arbeitszimmers hat er Lothar Brandt zusammengesunken am Schreibtisch entdeckt und dann die Scheibe der Terrassentür eingeschlagen, um ins Haus zu kommen. Dann hat er sofort einen Notarzt angerufen. Der ist zehn Minuten darauf eingetroffen und hat, wie bei Selbstmorden üblich, die Polizei verständigt.
»Vorsicht bitte!« Beamte der Spurensicherung richten den Toten auf. Dabei kommt ein angefangener Brief zum Vorschein, den Brandt mit seinem Oberkörper verdeckt hat. Auch ein Kolbenfüllfederhalter wird sichtbar, der links neben dem Brief in der Nähe von Brandts Hand liegt. Der Tatortfotograf macht rasch ein paar Aufnahmen, ehe Marlene Kemper sich über den Brief beugt.
Der Brief ist mit roter Tinte geschrieben: »Den Tod selbst zu wählen scheint mir die einzige Mögli...« liest die Kommissarin. Die Schrift bricht mitten im Wort ab und verfließt zu einer unsicheren Wellenlinie. Marlene Kemper wartet, bis ein Spurensicherer die Fingerabdrücke von dem Füllfederhalter abgenommen hat. Dann streift sie sich ihre dünnen Gummihandschuhe über, schraubt den Füller auf und schreibt damit ein paar Worte in ihr Notizbuch. Die rote Tinte ist identisch mit der des Briefes. Auch Federform und Strichstärke stimmen überein.
»Er scheint Linkshänder gewesen zu sein!«, bemerkt einer der Spurensicherer und deutet auf die Armbanduhr, die Brandt am rechten Handgelenk trug.
»Chefin?« Marlene Kempers Kollege Nils Krüger kommt von der Befragung der Nachbarn zurück. Er klappt sein Notizbuch auf. »Interessante Neuigkeiten. Brandts Neffe Werner wurde heute schon einmal gegen 13 Uhr hier gesehen, also zu dem Zeitpunkt, als Brandt starb. Gegen 16 Uhr tauchte er ja wieder auf, wie wir wissen. Die Nachbarn sahen jedes Mal Werners Wagen in der Einfahrt zum Grundstück stehen. Werner profitiert übrigens vom Tod seines Onkels - Brandt hat keine leiblichen Kinder und machte deshalb Werner zu seinem Erben.«
»Gute Arbeit!« Marlene Kemper geht hinaus in den Vorraum, wo Werner Brandt darauf wartet, seine Aussage zu Protokoll zu geben. »Sie waren also gegen 13 Uhr schon einmal hier?«
Werner bleibt ruhig. »Ja«, sagt er zögernd. »Ich habe geklingelt, aber niemand machte auf. Also ging ich wieder.«
»Zu dieser Zeit starb Ihr Onkel«, wirft Krüger ein.
Werner schluckt. »War es Selbstmord?«, fragt er. »Ich habe mir in letzter Zeit Sorgen um Onkel Lothar gemacht. Er wirkte depressiv, hatte kaum noch Freude am Leben. Ich hatte mir vorgenommen, mich etwas mehr um ihn zu kümmern. Doch dass er so labil war, dass er sich das Leben nehmen wollte, das habe ich nicht geahnt.«
»Ihr Onkel hat sich nicht das Leben genommen«, meint Kommissarin Marlene Kemper. »Der Selbstmord ist vorgetäuscht, Werner. Lothar Brandt wurde vergiftet. Dann hat der Täter den Abschiedsbrief gefälscht, damit es so aussah, als sei er beim Schreiben gestorben. Nur hat der Mörder dabei einen gravierenden Fehler gemacht.«
Werner Brandt starrt Marlene an. Er wird blass.
»Ich glaubte, es wird Zeit, dass Sie ein Geständnis ablegen, Werner«, meint Marlene.
Werners Lippen bewegen sich tonlos, bis er die Stimme wieder findet. »Ja«, flüstert er. »Ich habe das Wasser in Onkel Lothars Glas vergiftet, als ich ihn heute Mittag besuchte. Das Gift… habe ich mir von einem dubiosen Apotheker gegen Geld besorgt. Nachdem Onkel Lothar gestorben war, habe ich alles wie bei einem Selbstmord arrangiert.« Er sieht Marlene Kemper an. »Was habe ich falsch gemacht?«
Woran konnte Kommissarin Marlene Kemper erkennen, dass der Selbstmord vorgetäuscht war?
Lösung:
Wäre Lothar Brandt wirklich, wie es scheinen sollte, beim Schreiben seines Abschiedsbriefes gestorben, wäre der Füllfederhalter offen liegen geblieben. Doch als man die Leiche hochhob, fand man den Füller zugeschraubt.