Читать книгу PERRY RHODAN-Kosmos-Chroniken: Alaska Saedelaere - Hubert Haensel - Страница 11
5.
ОглавлениеAlaska Saedelaere hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ob er erst seit wenigen Minuten oder schon seit Stunden am Panoramafenster stand, interessierte ihn nicht. Unbewegt, die Hände im Nacken verschränkt und die Ellenbogen gegen die Scheibe gestützt, starrte er in den Himmel über Mimas.
Sein Gesicht brannte – wie damals, das einzige Mal, als Tresham Saedelaere in einem Wutanfall zugeschlagen hatte. Alaskas Gedanken wanderten zurück.
Wo sein Vater heute lebte, wusste er nicht. In der Erinnerung sah er ihn als großen, muskulösen Mann mit stechendem Blick. Treshams Augen, kalt und hart, hatten immer eine beklemmende Unruhe verbreitet. Wenn Alaska es recht bedachte, war sein Vater stets auf der Suche nach Unerreichbarem gewesen.
Tresham Saedelaere stammte von einer unbedeutenden Siedlungswelt, deren Bewohner es über Jahrhunderte hinweg nicht verstanden hatten, ihre eigene Existenz zu sichern. Mit vierzig war Tresham zur Erde ausgewandert, einer der Welten, auf denen nach seiner Vorstellung Milch und Honig flossen.
Ohne je eine brauchbare Ausbildung erhalten zu haben, hatte Tresham Saedelaere sich als Frachtarbeiter auf den großen Raumhäfen in Terrania verdingt. Er war sogar zum Truppleiter über dreißig Arbeitsroboter aufgestiegen, doch im Jahr nach Alaskas Geburt war er erstmals mit bewusstseinserweiternden Drogen in Berührung gekommen – heiße Fracht von einer der Außenwelten, von der er möglicherweise eine größere Menge abgezweigt hatte. Aber zumindest Letzteres war nur unbewiesene Spekulation. Über das wirkliche Geschehen hatte sich Tresham nie geäußert, indes war er unleidlich und ungeduldig geworden. Alaska selbst war zu jung gewesen, als dass er sich eine tiefere Erinnerung bewahrt hätte. Er entsann sich jedoch, dass Tresham kurz nach seinem vierten Geburtstag spurlos verschwunden und das Leben in den Jahren danach von einer unausgesprochenen Furcht geprägt gewesen war.
Irgendwann waren Fremde in die Wohnung eingedrungen. Mutters Entsetzen hatte tiefe Spuren in Alaskas kindlicher Psyche hinterlassen. Die Erfahrung eigener Hilflosigkeit bedrückte ihn bis heute.
Ein Zittern durchlief seinen Körper. Einen Augenblick lang glaubte Alaska Saedelaere zu taumeln, dann hatte er die Hände aus dem Nacken gelöst und drückte die Stirn an die Scheibe.
»Warum?«, fragten seine Lippen lautlos. Falls es wirklich noch seine Lippen waren und nicht die eines Monstrums. Das alles erschien ihm wie ein böser Traum. Warum wachte er nicht endlich auf?
Warum war er damals nicht aufgewacht?
Oh doch. Er war wach gewesen – nur hatte er den Mut nicht aufgebracht, sich zu regen. Zitternd hatte er sich im Bett festgekrallt und gehofft, dass die Fremden ebenso schnell wieder verschwinden würden, wie sie gekommen waren. Ihre Fratzen hatten ihn in Panik versetzt. Am liebsten hätte er nur noch gellend geschrien – aber dann hätten die Eindringlinge bemerkt, dass er nicht mehr schlief.
Sie hatten Mutter geschlagen. Weil sie ihnen Treshams Aufenthalt verschwiegen hatte. Das hatte sie ihm erst viele Jahre später erzählt. Ebenso, dass sie in jener Stunde Tresham verflucht und um ihr Leben gebangt hatte.
Alaska Saedelaere blinzelte gegen die Nässe in seinen Augenwinkeln an. Wie damals sah er die Fratzen wieder vor sich: grün geschuppte Echsengesichter. Eine der Kreaturen schlug auf seine Mutter ein, bis Felissia urplötzlich ihre Finger in seine Fratze verkrallte.
Damals, vor zweiundzwanzig Jahren, hatte Alaska geglaubt, die Schuppenhaut zerfetzen zu sehen. Aber längst wusste er, dass die Angreifer nur Bioplastmasken getragen hatten.
Unter seiner Decke hatte er sich erst wieder hervorgewagt, als die plötzliche Stille und sein schlechtes Gewissen unerträglich geworden waren. Mutter hatte zitternd am Boden gelegen. Ihr Gesicht war blutig und verschwollen gewesen – doch urplötzlich hatte sie die Augen aufgeschlagen und ihm kaum verständlich erklärt, was er tun sollte. Mit einem feuchten Tuch hatte er ihr das Blut abgewischt.
Felissia hatte sich nie an die Behörden gewandt. »Weil ich Tresham trotz allem liebe. Egal, in welche Gesetzwidrigkeiten dein Vater verwickelt ist.« Alaska bildete sich ein, wieder ihre leise Stimme zu hören. Ruckartig löste er sich aus der Erstarrung und wandte sich um.
Er hatte seine Mutter jahrelang nicht gesehen. Das letzte Hyperkomgespräch lag schon mehr als vier Jahre zurück. Felissia hatte zu der Zeit auf Olymp gelebt, aber dort war sie nicht mehr auffindbar. Allen Meldevorschriften zum Trotz fiel es nicht schwer, in der Milchstraße unterzutauchen.
Ebenso leicht war es, wie aus dem Nichts heraus zurückzukehren. Als wäre es gestern gewesen, entsann sich Alaska des Tages, an dem sein Vater wieder in der Tür stand, äußerlich um Jahrzehnte gealtert und ohne einen Soli in der Tasche. Er entsann sich des erregten Disputs seiner Eltern nahezu wörtlich und sah noch heute Mutters Tränen.
Tresham war nur mehr ein Schatten seiner selbst gewesen. Er hatte für seine Verfehlungen teuer bezahlt, aber vielleicht gerade deshalb nie über die Gründe seines Weggehens gesprochen. Das Thema war krampfhaft vermieden worden.
Alaska, zwölf Jahre alt, hatte das Bemühen seiner Eltern durchschaut, ihm eine heile Welt vorzuspielen, die es in Wahrheit nicht gab. Er hatte darunter gelitten und noch vor seinem dreizehnten Geburtstag endgültig alles in Frage gestellt. Was war das schon für eine Welt, die sich für ihn auf einen einzigen Stadtteil in Terrania reduzierte, angefüllt mit dem Mief der Gleichgültigkeit und satter und verlogener Selbstzufriedenheit?
In den Nachrichtensendungen glänzte Terrania City als futuristische Metropole – neben Arkon, Olymp und einigen anderen Welten eines der Milchstraßenzentren überhaupt. Für ihn hingegen war die Stadt ein Moloch abstruser Hochhäuser, zwischen die sich die Sonne nur an wenigen Stunden am Tag verirrte. Die Waldregion im Osten bildete die Grenze zu einer anderen Welt, und erst kilometerweit jenseits der grünen Lunge pulsierte das wirkliche Leben, starteten und landeten Raumschiffe in ununterbrochener Folge.
Die Wohnung im 85. Stockwerk hatte über einen einzigen Vorteil verfügt: Sobald die Sonne im Zenit stand, tauchten die oberen Polrundungen der Kugelraumer aus dem Dunst auf. Der Handelsraumhafen Point Surfat lag mehr als sechzig Kilometer entfernt. Früher hatte Vater dort gearbeitet, inzwischen nicht mehr. Tresham kam und ging, wann es ihm beliebte, und das einzige Mal, als Alaska in den Dateien der Heimpositronik herauszufinden versucht hatte, was sein Vater wirklich tat, war er prompt ertappt worden.
»... lass die Finger von meiner Arbeit!«, hatte Vater getobt. »Wenn ich dich noch einmal dabei ertappe, dass du in meinen Daten schnüffelst ...« Wäre Mutter ihm nicht in den Arm gefallen, hätte Tresham damals schon zugeschlagen.
»Ich wüsste ebenfalls gerne, was du arbeitest.« Der Vorwurf in Felissias Stimme war unüberhörbar gewesen. »Jahrelange Angst, Tresham, lässt sich nicht einfach vergessen. Trotzdem gab ich nie die Hoffnung auf, es könnte eines Tages wieder besser werden. Wenn du erneut in ungesetzliche Machenschaften ...«
»Das ist es nicht.«
»Was dann? Ich war verrückt genug, auf dich zu warten. Inzwischen ist meine Geduld erschöpft. Ich will nicht die besten Jahre meines Lebens vergeuden, weil ich einem Phantom nachtrauere. Du hast dich zu sehr verändert, Tresham.«
»Über das Geld, das dir jeden Monat überwiesen wurde, beklagst du dich nicht? Du konntest die Wohnung behalten und den Lebensstandard. Von einer gehobenen Ausbildung für Alaska ganz zu schweigen.«
»Geld. Ist das alles, was für dich zählt? Seit das Olympische Sozialgesetz erlassen wurde, höre ich nichts anderes mehr. Ein Produktionsbetrieb nach dem anderen wird vollrobotisiert, und die Arbeiter erhalten Abfindungen dafür, dass sie ihren Lebensinhalt verkaufen. Rhodan und das Parlament werden die Herausforderung zweifellos meistern – aber ich fühle mich ebenfalls verkauft, Tresham. Von dir verraten und verkauft.«
»Unsinn!« Heftig hatte er abgewehrt.
»Dann sag mir, was ich glauben soll.«
»Ich kann es nicht, Felissia.«
Dieses Ich kann es nicht hatte in dem zwölfjährigen Alaska nachgehallt wie das Dröhnen einer angeschlagenen Glocke. Es hatte sein Denken überlagert und ihn in die Isolation einer Traumwelt getrieben, während er sich nach außen mit einem Panzer aus Schroffheit geschützt hatte.
Die Augen weit aufgerissen, stierte Alaska Saedelaere blicklos nach draußen. In einiger Distanz erhoben sich zwei hell erleuchtete Klinikkuppeln vor der Silhouette des aufgehenden Saturn. Das Bild wirkte unscharf und verzerrt, weil ihm die Augen übergingen.
Mehrmals schlug er mit der Stirn an die Scheibe. Doch die Erinnerung, die ihm nach all den Jahren noch zu schaffen machte, ließ sich nicht vertreiben.
Neue Szenen tauchten in sein Bewusstsein empor. Sie nährten das beklemmende Gefühl, selbst verantwortlich zu sein. Er hatte vieles falsch gemacht – und wenn er sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hatte.
Gedankenfetzen entstanden neu:
Die STARDUST Memorial School galt als eine der führenden Ausbildungsstätten Terranias, ihre technischen und naturwissenschaftlichen Labors standen denen der Universitäten kaum nach. Entsprechend hoch wurde der hauseigene Ehrenkodex geschätzt; dass sich zwei Kollegiaten prügelten, war schlechterdings undenkbar. Dennoch begann Alaska aus eher nichtigem Anlass heraus zwei Tage nach einem Streit seiner Eltern eine Schlägerei mit einem Mitschüler. Erst eine Lehrkraft trennte die Streithähne.
»... säubert euch – und in zehn Minuten will ich euch friedfertig in der Vorlesung sehen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«
Alaska suchte zwar den Waschraum auf, verließ aber danach die Schule. Er benutzte die Schwebebahn, stieg einen Knotenpunkt eher als üblich aus und ließ sich von einem Antigravlift in die Höhe tragen. Von der Dachterrasse des Crest-Einkaufszentrums aus konnte er die noch kilometerweit entfernten, sternförmig angelegten Wohnsilos sehen, die ihm in dem Moment so kalt und leblos wie ineinander greifende Zahnräder erschienen, aber auch fern am Horizont die Silhouette des Lärmschutzwalls, der den Handelsraumhafen stadtwärts abgrenzte.
Alaska wechselte in einen der transparenten Tunnel über. Sein Blick schweifte über das Gewirr von Gleitbändern, Rohrbahnen und Schwebekabinen, ohne dass er recht registrierte, was er sah.
Erst der Schatten eines schweren Lastengleiters schreckte ihn auf. Für einen bangen Moment befürchtete er einen Aufprall, einen gewaltigen Feuerball, in dem alles explodieren und in die Tiefe stürzen würde, aber die Sicherheitssysteme lenkten den Gleiter rechtzeitig um.
In rascher Folge wechselte er zwischen Tunneln, Gleitbändern und Schwebestraßen. Die letzten Kilometer stadtauswärts legte er sogar zu Fuß zurück. Die Peripherie von Happytown war eine gewaltige Baustelle. So, wie sich das Solare Imperium immer tiefer in die Milchstraße hinein ausdehnte, wuchs auch Terrania nach allen Richtungen. Die Metropole fraß dabei die Parks und Waldflächen aus der Gründerzeit, Flüsse wie der Sirius River wurden kurzerhand überbaut.
Roboter zogen atemberaubende Stahlskelette in die Höhe, während ein Heer von Lastenplattformen und stationäre Transmitter den Materialnachschub besorgten. Eines Tages, hieß es, würde der Großraum Terrania über einhundert Millionen Menschen und nichtmenschlichen Intelligenzen Wohnraum, Unterhalt und vielfältigste Freizeitmöglichkeiten bieten. Dann würde die ehemalige Wüste Gobi das Zentrum einer multinationalen Gemeinschaft erster Güte sein.
Keinen Gedanken verschwendete Alaska an den nächsten Tag, nicht einmal an die kommende Stunde. Zum ersten Mal seit langem begann er sich wirklich frei zu fühlen, weder eingeengt von den Zwängen der STARDUST Memorial School noch erdrückt von der Masse der Wohnsilos, die längst eine Stadt für sich bildeten.
Jahrelang hatte er sich danach gesehnt, seinen Vater wiederzusehen. Aber seit Treshams Rückkehr war nichts mehr erstrebenswert. Sie provozierten sich gegenseitig.
»Ich bin kein perfekter Sohn.« Wie eine Verwünschung zerbiss der Zwölfjährige den Satz zwischen den Zähnen. »Du verlangst das von mir, weil du selbst ganz anders bist.« Blinzelnd schaute er hinüber zu einem hohen Torbogentransmitter, der in schier endloser Folge meterdicke Träger aus Terkonitstahl ausspie, die von Robotern abtransportiert wurden.
Das Prinzip der Ent- und Rematerialisation kannte er aus dem Physikunterricht. Trotzdem fragte sich Alaska, welche Vorgänge im übergeordneten Hyperraum abliefen – der fünfdimensionale Bereich musste weit mehr sein als nur ein Trägermedium für die Überlistung der Lichtgeschwindigkeit.
Mit den Fingerknöcheln wischte er sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. Er hasste Tränen, die ihm die eigene Hilflosigkeit aufzeigten. Wegen Tresham wollte er schon gar nicht weinen. Bring erst dein eigenes Leben in Ordnung!, dachte er bitter.
Alaska verfiel in Laufschritt und begann schließlich zu rennen. Er lief vor sich selbst davon. Bis er atemlos innehielt.
Zwei Space-Jets glitten in geringer Höhe dahin. Schnaufend schaute Alaska den diskusförmigen Kleinraumschiffen nach, die in wenigen Kilometern Entfernung zur Landung ansetzten.
Das ursprünglich dicht bewachsene Gelände war bis auf einen schmalen Waldstreifen gerodet worden. Er fragte sich, weshalb die Space-Jets auf der anderen Seite niedergegangen waren. Dort gab es keine Bebauung, und die Hauptverkehrsader zum Handelsraumhafen verlief ohnehin weit entfernt.
Wollte er die Erde wirklich als blinder Passagier an Bord eines Raumschiffs verlassen? Er wusste, dass das nicht klappen konnte, dass seine Vorstellung nur träumerische Schwärmerei war. Andererseits erleichterte sie ihm manches. Es dauerte noch viel zu lange, bis er über sein Leben selbst bestimmen konnte.
Ich brauche dich nicht, Vater, dachte Alaska bitter. Nicht mehr. Die Zeit, in der mir deine Nähe wichtig gewesen wäre, ist vorbei.
Ein metallisches Dröhnen hallte ihm entgegen. Es hielt seine Neugierde wach. Alaska hastete weiter. Trockene Äste zerbrachen unter seinen Füßen, und er erreichte den jenseitigen Waldrand schneller als erwartet.
Ein hoher Zaun versperrte die Sicht, ein Konglomerat aus Betonmauern, dichtester Bepflanzung und in den Boden gerammten deformierten Stahlplatten. Der Stahl hatte denselben bläulichen Schimmer wie terranische Raumschiffe.
Es roch nach Ozon, nach Öl und Chemikalien ...
Benommen schreckte Alaska aus seinem Wachtraum auf. Vorübergehend hätte er nicht zu sagen vermocht, wo er sich befand, denn die Erinnerung wirkte immer noch nach. Erst nach einigen tiefen Atemzügen entsann er sich, dass Terrania für ihn längst der Vergangenheit angehörte. Zäh und verbissen hatte er sich als Techniker hochgearbeitet, um eines Tages sagen zu können, dass er es aus eigener Kraft geschafft hatte. Aber das alles zählte nicht mehr.
Warum ich?, hämmerte es unter seiner Schädeldecke. Was wäre geschehen, hätte ich zehn Sekunden mit dem Transmitterdurchgang gewartet? – Lächerliche zehn Sekunden.
»Ich bringe Ihr Essen, Mr. Saedelaere.« Die Roboterstimme erinnerte ihn daran, dass er vom Geräusch des aufgleitenden Schotts aufgeschreckt worden war.
Nach wie vor presste er die Stirn ans Fenster. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Einige Minuten, kaum mehr. Das Feuer in seinem Gesicht brannte unvermindert heiß.
»Was willst du noch?«, herrschte er den Roboter an, ohne sich umzuwenden. »Ich habe nicht um Unterhaltung gebeten.«
»Ihr Befinden, Sir ...«
»Mir geht es gut.« Viel zu hastig stieß er den Satz hervor. »Ich will nur endlich sehen, was aus meinem Gesicht geworden ist.«
»Fühlen Sie sich wirklich wohl?«
»Ich habe ein Recht darauf«, beharrte Alaska. »Und nun verschwinde!«
Erst Minuten später wandte er sich um. Er schnitt ein Stück vom Braten ab und kaute lustlos darauf herum, während er das Messer abschätzend in der Hand wog und schließlich in die Höhe hielt. Doch in der Klinge spiegelte sich nicht mehr als das orangerote Flackern, das er längst kannte.
Saedelaere aß langsam. Dabei starrte er das Messer an, als könne es alle Probleme lösen.
Die Menschen würden ihn fürchten. Das wusste er. Selbst in einer Zeit, in der niemand vor andersartigem Leben erschreckte, in der Echsenwesen fast ebenso selbstverständlich zum Straßenbild gehörten wie löwenmähnige Gurrads oder die zwei Meter großen, feingliedrigen Perlians mit ihren fast transparenten Körpern und dem rot leuchtenden Zeitauge auf der Stirn, selbst in einer solchen Zeit musste er mit seinem durch den Transmitterunfall veränderten Gesicht als missgestaltet und gefährlich gelten. Alaska ahnte, dass bald nur noch Maschinen um ihn sein würden.
Ist das wirklich so schlimm?
Nachdenklich zerbröselte er einen Vitamin-Mineralstoff-Keks zwischen den Fingern. »Roboter«, murmelte er gedehnt, »waren schon immer die besseren Menschen.«
Er hatte diese Erfahrung gemacht. Wenn er es recht bedachte, war sie der Anlass für seinen Entschluss gewesen, Techniker zu werden. Alaska Saedelaere versteifte sich. Er schob das Tablett von sich und schloss die Augen. Sein Kopf sank vornüber auf die Brust, so spürte er das Zucken im Gesicht am wenigsten.
Er flüchtete sich in die Erinnerung.
Zögernd tastete der Junge über die Stahlplatten, die ihm die Sicht versperrten. Sein Herz pochte bis zum Hals. Das war Terkonitstahl aus dem Raumschiffsbau. Aber die Oberfläche, so glatt sie zu sein schien, fühlte sich rau an. Deutlich registrierte Alaska millimeterfeine Vertiefungen, die willkürlich das Material zerfurchten.
Kosmischer Staub und Mikrometeoriten hinterließen ihre Spuren, sobald Raumschiffe ohne Schutzschirme flogen. Das war wie eine Patina, die den Hauch der Unendlichkeit fühlbar machte. Alaska lächelte, als er mit den Fingernägeln einige Rillen nachfuhr.
Zu welchem Raumschiff hatten diese Platten gehört? Die möglichen Namen waren Legion, und jeder Raumer bedeutete ein kleines Puzzleteil in der Geschichte der Menschheit. Vielleicht war der Zaun am Stadtrand von Terrania die letzte Ruhestätte eines Ultraschlachtschiffs von OLD MAN. Fast eintausend Jahre alte Bildaufzeichnungen der gigantischen Trägerkuppel hatten Alaska im Geschichtsunterricht fasziniert. OLD MAN, das Geschenk einer Hand voll im Kampf gegen die Meister der Insel tief in die Vergangenheit geratener Menschen für die Menschheit. An ihre Namen erinnerte er sich nicht mehr, wohl aber an ihre gewaltige technische Leistung. Über einen Zeitraum von zweiundfünfzigtausend Jahren hinweg waren OLD MAN und seine fünfzehntausend Ultraschlachtschiffe der GALAXIS-Klasse erbaut worden – doch eine Fehlschaltung hatte sie zu spät im terranischen Einflussbereich erscheinen lassen.
Hüfthohes Gras und verfilztes Gestrüpp auf dieser Seite der Platten verrieten Alaska, dass der Zaun seit Jahren stand. Unablässig eine Hand am Stahl, stapfte er weiter.
Die Betonsegmente zeigten das Alter deutlicher. Teilweise lag die Armierung bloß, und Flechten und kleinere Pflanzen beschleunigten den Verfall. Dennoch fand Alaska keine Stelle zum Hinüberklettern. Erst einige hundert Meter weiter, zwischen dornenbewehrten Hecken, gab es einen Durchgang.
Dass er sich die Haut aufriss, beachtete er kaum. Der Schrottplatz, auf den er geriet, faszinierte ihn vom ersten Moment an. Kilometerweit erstreckte sich das Gelände in alle Richtungen. Schier endlos ragten Stapel von Stahlplatten am Zaun entlang auf. Der Platz zwischen ihnen reichte gerade aus, Lastengleiter passieren zu lassen. Allerdings schien lange niemand mehr in diesem Abschnitt gearbeitet zu haben. Unkraut wucherte überall.
Alaska verfiel in einen gleichmäßigen Laufschritt. Er achtete weder auf die Vögel, die krächzend vor ihm aufstiegen, noch auf die Eidechsen, die fluchtartig ihre Plätze in den letzten Sonnenstrahlen verließen.
Unter einem Stapel hatte der Boden nachgegeben, die Platten waren verrutscht und blockierten den Durchgang. Alaska kletterte an den gut vierzig Zentimeter dicken Segmenten in die Höhe. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass die Nacht bald hereinbrach. In der beginnenden Dämmerung war das Areal schon nicht mehr zu überblicken.
Viele Kilometer entfernt geisterten Scheinwerfer über die Stahlwüste. Dort starteten soeben die beiden Space-Jets. Lautlos stiegen die Diskusschiffe in den Himmel und drehten Richtung Raumhafen ab.
Die Schatten wuchsen schnell.
Das Herz schlug Alaska bis zum Hals, als er eine halb abgewrackte Space-Jet entdeckte. In seiner Phantasie gewannen die absonderlichsten Visionen Gestalt, aber wahrscheinlich waren die Kuppel und die Zentrale darunter einfach demontiert worden. Andererseits bedeutete das Unterschiff einen willkommenen Unterschlupf für die Nacht.
Die Sonne war schon untergegangen, als Alaska das Wrack erreichte. Richtig dunkel wurde es nicht, aber der nahe Wald ragte als schwarze Silhouette auf. Dahinter gloste das Lichtermeer der Stadt, deren bunte Strahlenfinger und Werbeholos weit in den Himmel griffen.
In der entgegengesetzten Richtung markierte flackernde Helligkeit den Standort des Raumhafens. Sterne zogen mit beachtlicher Geschwindigkeit über das Firmament und setzten zur Landung an.
Der Eindruck war überwältigend. Ergriffen nahm Alaska das Bild in sich auf, das so ganz anders war als im Hochhausdschungel Terranias. Zum ersten Mal fühlte er sich wirklich wohl. Er wollte an nichts anderes mehr denken als an die ungeheure Weite da draußen, wollte die Stille genießen, die seine Sehnsucht weckte. Trotzdem schwang er sich nach wenigen Minuten in die offen stehende Bodenschleuse des Wracks. Die Space-Jet stand auf halb ausgefahrenen Teleskoplandestützen, als warte sie darauf, bald wieder zu starten.
Schwaches Streulicht tauchte den Laderaum in ein Halbdunkel, in dem menschliche Schatten hin und her eilten. Erst ein heftiges Blinzeln vertrieb die Schemen.
Alaska drehte sich einmal um sich selbst. Er war allein. Die Schatten stammten vom zentralen Antigravlift, der üblicherweise bis in die Zentrale führte, längst aber ohne Energieversorgung war und auf Ringwulsthöhe im Freien endete. Ein Streifen fahler Helligkeit fiel von oben herein.
Der Laderaum, in dem er sich befand und der Platz für zwei Flugpanzer, Kleinfahrzeuge oder Roboter bot, war leer. Knapp acht Meter hoch war das untere Ladedeck, mehrere Aufgänge führten zur umlaufenden Galerie empor. In ihr verbargen sich die Sprungfeldgeneratoren des Transitionsantriebs in Form eines massigen Ringaggregats, ebenso Teile der Zuleitungen vom Impulstriebwerk zu den Ringwulstdüsen. Das war die platzsparendste Bauweise für eine Space-Jet.
Alaska schwitzte, wischte sich immer wieder mit einem Arm übers Gesicht. Seine Anspannung wuchs. Im vergangenen Jahr hatte er sein Geld für Dutzende Datenspeicher über Raumfahrttechnik ausgegeben und war damit bei seiner Mutter auf pures Unverständnis gestoßen. Weil die Themen ohne hyperphysikalische Kenntnisse schwer verständlich blieben. Inzwischen kannte er Tabellen und Wirkungsweisen auswendig. Wichtiger als das waren ihm jedoch die holografischen Funktionen, die über ein Headset virtuelle Spaziergänge durch nahezu alle Schiffssektoren erlaubten.
Die technischen Daten eines halben Dutzend Space-Jet-Typen hätte Alaska vorwärts und rückwärts aufsagen können. Der Prototyp des Modells, in dessen Laderaum er stand, war im Jahr 2435 konstruiert worden, zu einem Zeitpunkt also, als die Magellanschen Wolken im Brennpunkt der Geschichte gestanden hatten. Dass seither wenig Veränderungen vorgenommen worden waren, zeugte für Robustheit und Zuverlässigkeit des 30-Meter-Diskusschiffs.
Alaska stieg zur Galerie hinauf. Für einen Augenblick ließen ihn seltsame Geräusche innehalten, aber wahrscheinlich hatte er nur eine große Eidechse aufgeschreckt.
Viele der entlang der Außenwand installierten Kontrollgeräte und den Waring-Konvertern zuzurechnenden Aggregate waren ausgebaut worden. Bedauernd ließ der Zwölfjährige seinen Blick über die gekappten Anschlüsse huschen.
Dann erstarrte er.
Da war ein rotes Glühen, sechs oder sieben Meter entfernt. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er es wahr.
Alaska wagte kaum zu atmen. »Ist da jemand?«
Er verwünschte das Zittern in seiner Stimme. Die wildesten Vermutungen sprangen ihn an. Was, wenn ausgerechnet in diesem Wrack eine Kreatur von den Sternen hauste? Die Video-Programme zeigten täglich Dutzende Filme, in denen solche Gefahren heraufbeschworen wurden; der Vorrat der Filmemacher an Schreckensbotschaften musste unerschöpflich sein.
Unwillig schüttelte Alaska den Kopf. Über das Alter, in dem er Filmproduktionen für bare Münze nahm, war er längst hinaus.
Nichts regte sich.
Alaska bedauerte, keine Handlampe dabeizuhaben. Flüchtig dachte er an seine Eltern; es war das erste Mal, dass er ohne Ankündigung länger ausblieb.
Vor ihm wurde die Düsternis bedrohlicher. In der Wand gab es eine Nische oder gar einen engen Gang nach außen. Die Holoprogramme sagten über solche Modifikationen wenig aus. Etwas zaghafter als zuvor trat Alaska auf den Rücksprung zu und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Düsternis. Aber vor ihm gab es keine Kontrollskalen oder Ähnliches, abgesehen davon, dass das Wrack ohnehin ohne Energie war.
Die Nische maß kaum mehr als drei Meter. Sie endete vor der Außenwand. Armdicke Kabelstränge hingen herab, ihre Schnittstellen schimmerten metallisch blank. Doch nicht das erschreckte Alaska und entlockte ihm einen heiseren Aufschrei.
In der Nische lag ein verstümmelter Leichnam. Beide Beine waren am Oberschenkel abgetrennt, der linke Arm im Ellenbogengelenk. Schlaff hing die einfache Bordkombi von der Schulter herab.
Offensichtlich hatte ein Strahlschuss den Schädel des Toten verbrannt. Alaska schluckte krampfhaft und begann, seine Nasenwurzel zu massieren. Der Anblick der verkohlten Haut und des zu einer schwarzen Masse zusammengebackenen Haares bereitete ihm Übelkeit. In dem Moment öffnete der Tote die Augen.
Alaska prallte zurück, fing sich aber sofort wieder. Die roten Augen waren weder menschlich, noch gehörten sie einem Arkoniden. Ihr Glimmen verriet die Sehzellen eines Roboters, dessen Äußeres wegen des Bioplast-Überzugs nicht sofort als künstlich zu erkennen war.
»Du hast mich erschreckt«, stieß Alaska hervor.
Der Roboter verzog den entstellten Mund zu einer Grimasse. Die Stimm-Membran produzierte ein kaum verständliches Krächzen. Erst nach mehreren Versuchen wurden deutliche Worte daraus.
»Das ... wollte ich ... nicht. Mein Name ... ist Torras.«
»Nenn mich Alaska«, sagte der Junge und fügte etwas gefasster hinzu: »Warum bist du hier?«
»Ich warte.«
»Hm. Warten, worauf?«
»Dass meine Datenspeicher gelöscht und meine noch funktionsfähigen Bauteile einer besseren Verwendung zugeführt werden.«
»Du meinst«, Alaska schürzte die Lippen und kniff die Brauen zusammen, »du wartest auf den Tod?«
»Auf eine sinnvolle Weiternutzung.«
»Das macht dir gar nichts aus? Zu warten, meine ich. Seit wann ...«
»... ich hier liege, willst du wissen? Siebzehn Monate, acht Tage und neun Stunden Standardzeit.«
»So genau wollte ich es gar nicht.« Der Junge winkte ab. »Du gehörst zu dieser ... zu diesem Wrack?«
»Ja.«
Immer noch fiel es Alaska schwer, den verstümmelten Roboter anzuschauen. Torras wirkte zu menschlich. Andererseits spürte Saedelaere, dass sich der Roboter in einer bedeutend schlechteren Verfassung befand als er selbst.
Unsinn, redete er sich ein. Roboter kennen keine Emotionen. Ihm ist es egal, ob er ein Jahr hier liegt oder zehn. Seine Verstümmelung spielt ebenfalls keine Rolle.
»Was ist mit dir geschehen?«, platzte Alaska dennoch heraus. Er war selbst überrascht, dass er mehr wissen wollte. Das Schicksal des Roboters interessierte ihn.
»Nichts von Bedeutung«, schnarrte Torras.
Alaska zuckte mit den Achseln. Dann wandte er sich zögernd zum Gehen.
»Im Gegensatz zu mir gehörst du nicht an Bord«, erklang es hinter ihm. »Wohin gehst du, Alaska?«
»Ich weiß nicht.« Der Junge blieb nach zwei Schritten schon wieder stehen. »Und vielleicht will ich ebenso wenig wie du wissen, was geschieht. Dieses Wrack wird irgendwann verschrottet.«
»Die SJ-EX-847 war ein stolzes Schiff.«
Alaska reagierte verblüfft. Um seine Mundwinkel zuckte es verhalten. Urplötzlich glaubte er den Hauch des Weltraums zu spüren, unbekannter Welten und endloser Weite. »... das Beiboot eines Explorers?«, fragte er staunend. »Wirklich eines der Schiffe, die neues Gebiet erforschen?«
»Ich war für die Wartung der Beiboote zuständig«, antwortete der Roboter.
In Alaskas Blick mischten sich Bewunderung und Mitleid. »Wieso trägst du einen richtigen Namen? Ich dachte, Roboter werden mit Nummern bezeichnet.«
»Torras ...« Der Roboter schien dem Klang zu lauschen. »Das Wort entstammt der Sprache eines Volkes von Pflanzenwesen. Übersetzt bedeutet es soviel wie Der Sorgsame, der die Wurzeln zu behüten weiß.«
»Die Pflanzen gaben dir den Namen?« Alaskas Neugierde wuchs mit jedem Satz.
»Staatsmarschall Bull nannte mich so.«
»Reginald Bull?«, platzte Alaska heraus. »Du bist dem Aktivatorträger Bull begegnet?«
»Er war Kommandant der EX-847 für elf Monate Standardzeit.«
»Mann«, staunte der Junge endgültig. »Das musst du mir erzählen!« Er stockte. »Ich meine, Torras, wenn du nichts anderes ...«
Der Roboter produzierte das Äquivalent eines menschlichen Lachens. Es klang fürchterlich blechern – und irgendwie traurig. Aber darauf achtete Alaska nicht.
»Ich habe nichts anderes zu tun«, schnarrte Torras. »Wenn dich mein Aussehen nicht stört, setze dich zu mir.«
Immer noch vermied Alaska, direkt in das entstellte Gesicht zu schauen. Das rote Glühen der Sehzellen machte es unheimlich.
Zögernd ließ er sich in die Hocke nieder. Zum Greifen nahe lag der Torso neben ihm. Kein Mensch hätte eine solche Verwundung ohne sofortige medizinische Hilfe überlebt, für den Roboter war sie bedeutungslos.
»Was willst du hören, Alaska?«
»Alles über den Explorer.«
Zwischen dem Torso und Saedelaere begann die Luft zu flimmern. Von zunehmenden Reflexen begleitet, stabilisierte sich ein Hologramm.
Winzig klein erschien die schmale Sichel des blauen Planeten. Terra stand nur eine Handbreit über dem schroffen Mondhorizont, eingebettet in die Schwärze des Weltraums. Die kürzer werdende Brennweite ließ erkennen, dass die Aufnahme aus dem Innern einer energetischen Kuppel gemacht wurde. Ein Schwenk erfasste das soeben aus der Tiefe der sublunaren Werft an die Oberfläche emporschwebende Raumschiff.
Für den zwölfjährigen Jungen war das ein atemberaubender Anblick. Die Bilder waren anders als in den Nachrichtensendungen, nicht die kühle, Effekt haschende Darstellung, sondern packender.
Zweihundert Meter durchmaß die Kugel aus Terkonitstahl. Zwölf Teleskoplandestützen hielten das Schiff auf der Plattform des Antigravlifts. EX-847, prangte in riesigen Lettern auf dem Rumpf.
Im nächsten Moment sprang das Bild um, zeigte ein markantes, lächelndes Gesicht. Das rote Stoppelhaar entsprach dem neuesten Modetrend. So jung der Mann auch wirkte, so viel Erfahrung besaß er: Reginald Bull, nicht nur Chef der Explorerflotte, sondern in erster Linie Stellvertreter des Großadministrators Perry Rhodan.
»Ich beneide dich«, entfuhr es Saedelaere. Im nächsten Moment hätte er sich dafür ohrfeigen können, doch der Roboter schien seine Bemerkung gar nicht registriert zu haben. Alaska konzentrierte sich wieder auf die Bildwiedergabe.
Verwirrt blinzelte er in die Düsternis. Alaska benötigte mehrere Augenblicke, um sich bewusst zu werden, wo er sich befand. Die Luft roch würziger als gewohnt, nicht von den Filtern der Umwälzanlagen gereinigt, sondern feucht und schwer vom nächtlichen Regen der Wetterkontrolle. Zugleich war da der Geruch von Stahl und Farben, eine Patina, die High-Tech-Verbindungen anhaftete.
Er war eingeschlafen. Aber wann? Alaskas Gedanken schwirrten wild durcheinander.
Reginald Bull hatte mit der EX-847 ein Gebiet dunkler Materie vermessen, eine Region, in der viele neue Sterne geboren wurden. Der Forschungsflug dieses Schiffes hatte in elf Monaten mehr Daten gesammelt, als die Wissenschaftler in Jahrzehnten aufarbeiten konnten.
Sein Rücken schmerzte. Er lag auf etwas Hartem, das unnachgiebig seine Wirbelsäule stauchte. Mit einer ruckartigen Bewegung wälzte Alaska sich auf die Seite ...
... und spürte im gleichen Moment die schwer auf seiner Schulter liegende Hand, als wolle sie ihn festhalten. Seinem Erschrecken folgte die Erleichterung. »Torras«, murmelte er halblaut, als fürchte er, jemand anders als der Roboter könnte ihn hören, »ich wollte nicht schlafen. Du hast so viel zu erzählen.«
»Die Sonne geht auf, mein Freund«, schnarrte der Torso. »Du wirst mich bald verlassen.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun.«
»Sei nicht töricht, Alaska. Du hast Menschen, die auf dich warten. Der Schrottplatz ist nicht deine Welt.«
Die Hand, die ihn eben noch festgehalten hatte, versetzte ihm einen sanften Stoß. Er wollte schon aufbegehren, als er im weichenden Halbdunkel das unstete Flackern der Sehzellen des Roboters bemerkte. »Warum lässt man dich hier liegen wie ein Stück Schrott?«, entfuhr es ihm spontan.
Alaska entsann sich. Torras hatte davon gesprochen, dass er bis zuletzt für die Space-Jet verantwortlich gewesen war. Er hatte das während eines Hypersturms irreparabel beschädigte Beiboot abwracken sollen. Doch beim Ausbau des Waring-Konverters hatten Überschlagsenergien seine Beine und den Arm zerschmolzen, und nach dem Abtransport des Konverters schien das Wrack unwichtig geworden zu sein.
Mit dem ihm verbliebenen Arm stemmte sich der Roboter am Boden ab und richtete sich schräg auf.
»Du willst Techniker werden, Alaska. Dann träume nicht nur davon, sondern mach deinen Wunsch wahr. Du darfst nicht vor dir selbst davonlaufen; entschuldige dich bei deinen Eltern und ...«
»Nicht bei meinem Vater!«
»Er meint es bestimmt gut mit dir. Wäre er sonst nach so vielen Jahren zurückgekommen?«
»Das verstehst du nicht.«
»Warum hast du mir dann davon erzählt?« Die Stimme des Roboters klang zunehmend kratziger, auch legte er merkliche Pausen ein.
»Ich weiß es selbst nicht«, gestand der Junge irritiert.
»Vielleicht, weil du mich magst.«
»Du bist ein Roboter«, brachte Alaska überrascht hervor. »Deine Funktionen sind rein mathematisch.«
»Wer behauptet das?«
Alaska zögerte. »Das ... ist logisch«, sagte er dann.
»Logik, mein junger Freund, hat ihre eigenen Gesetze. Ich glaube nicht, dass du das heute schon verstehen kannst.«
»In zwei Wochen werde ich dreizehn.«
»Das ist ein Grund mehr für dich, ein normales Leben zu führen.«
»Und worauf wartest du seit Monaten?«, antwortete Alaska mit einer Gegenfrage. »Du hättest dich längst über Funk bemerkbar machen können. Wurde dir kein Selbsterhaltungstrieb einprogrammiert?«
»Die Robotergesetze, eine Wertschätzung der eigenen Existenz und Zusatzprogrammierungen für Explorermissionen.«
Der Junge hatte sich inzwischen mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Beine angezogen und die Arme vor den Knien verschränkt. Nachdenklich betrachtete er den Torso, dessen Arm unkontrolliert zu zucken begann.
»Es ist dunkler, wenn ein Stern erlischt, als wenn er nie geleuchtet hätte«, schnarrte der Roboter.
Alaska schürzte die Lippen. Der Satz gefiel ihm.
»Wer sagt das?«, wollte er nach einer Weile wissen.
»Der Ausspruch stammt von Staatsmarschall Bull. Während unserer ... gemeinsamen Mission ...« Mehrmals verstummte Torras mitten im Satz. »Geh jetzt!«, herrschte er den Jungen übergangslos an. »Hier kannst du nicht bleiben.«
»Das ist nicht wahr«, begehrte Alaska auf. »Sag, dass das nicht wahr ist. Ich glaube es einfach nicht.«
Er erhielt keine Antwort. Sekunden später bemerkte er, dass das Glimmen der Sehzellen nahezu erloschen war. »Was ist los mit dir?« Er warf sich herum, umfasste den Robotertorso mit beiden Händen und rüttelte ihn. »Verlass mich nicht, Torras, nicht du auch noch. Ich weiß nicht, wohin ich gehen ...«
»Doch, du weißt es. – Ich schalte mich ... jetzt ab ... Energiereserven schwinden ... Hologramm hat zu viel ... verbraucht.«
Alaska biss sich die Unterlippe blutig. Eine kleine Ewigkeit lang versuchte er, den Torso irgendwie wieder in Funktion zu setzen, aber er schaffte es nicht. Inzwischen war es hell geworden und Lärm fraß sich in seine Einsamkeit.
»Es ist dunkler, wenn ein Stern erlischt, als wenn er nie geleuchtet hätte«, murmelte Alaska im Selbstgespräch. Der Satz gefiel ihm sehr, er würde ihn sich merken.
Der Lärm kam näher, und irgendwann ertrug der Junge die Ungewissheit nicht mehr. Von der Schleuse aus sah er mehrere Antigravkräne die Plattenstapel abtragen und auf Lastengleiter verladen. Bei gleich bleibendem Arbeitstempo würden sie bis zum späten Nachmittag das Wrack erreicht haben.
Alaska schaute zurück auf den reglosen Torso. »Torras«, versuchte er es noch einmal, »sie werden dich einschmelzen ...«
Ein Lastengleiter kam näher.
»Du hast sie gerufen!«, schrie Alaska in jäher Erkenntnis auf. »Warum hast du das getan?«
Sekunden später, der Roboter würde ihm nie mehr antworten, sprang Alaska aus der Ladeluke ins Freie. Er strauchelte und raffte sich auf, während der Gleiter schon zur Landung ansetzte. Blindlings rannte Alaska davon.
»Bleib stehen, Junge!«, erklang eine befehlsgewohnte Stimme hinter ihm. »Hörst du nicht?«
Er hetzte weiter. Turbinengeräusche folgten ihm in geringer Höhe, sie kamen näher und zogen vorbei, als er sich in die Lücke zwischen zwei unregelmäßigen Schrottstapeln zwängte.
Aus der Deckung heraus konnte er schon den Zaun sehen. Dennoch zögerte er. Es war ruhig geworden in unmittelbarer Nähe, nur aus der Distanz klang das Kreischen von Stahl herüber.
Nach wenigen Minuten konnte Alaska nicht mehr untätig bleiben. Er stieß sich ab, hastete erneut durch hohes Gras und achtete nicht auf die dürren Zweige, die ihm ins Gesicht peitschten. Urplötzlich war der Gleiter, eher eine überbreite Lastenplattform, vor ihm. Alaska schlug Haken wie ein Hase und hatte Glück. Bis der Pilot das sperrige Gefährt landete, hatte er den Durchschlupf im Zaun fast erreicht.
Alaska Saedelaere tauchte ein in das Dickicht – und war hindurch, bevor sein Verfolger richtig verstand, was geschah. Er hielt erst inne, als das Herz rasend gegen die Rippen hämmerte und ihm beinahe schwarz vor Augen wurde. Ausgepumpt ließ er sich an einem knorrigen Baum zu Boden sinken.
Nach einer Viertelstunde kauerte er immer noch auf dem Waldboden. Nur einen Steinwurf entfernt entdeckte er einen kleinen Teich. Wer immer die Wasserfläche angelegt hatte, kümmerte sich nicht mehr um ihre Pflege. Das Ufer verwilderte – und auf dem gewölbten hölzernen Steg, der über den Teich führte, sammelte sich dürres Laub.
Den morschen, von Pflanzen überwucherten Zaun bemerkte Alaska erst aus der Nähe. Unmittelbar dahinter, so platziert, dass die Lichtung ungehinderten Sonneneinfall ermöglichte, hatte jemand vor Jahren Gemüsebeete angelegt. Mittlerweile wucherte alles Mögliche darauf.
Der Junge bückte sich nach einer knallbunt bedruckten Folie und drehte sie unschlüssig zwischen den Fingern. Es handelte sich um eine handflächengroße Tüte. 1a Karottensamen, lautete der Aufdruck. Sorte Ilt-Träume. Gelbe Riesen, genetisch unbehandelt.
Alaska schüttelte den restlichen Tüteninhalt in seine hohle Hand. Einige vertrocknete Samenkörner fielen noch heraus. Es gab keinen Datumsaufdruck auf der Verpackung.
»Ilt-Träume ...«, murmelte Alaska gedankenversunken. Da war die aberwitzige Vorstellung, dass der Mausbiber Gucky den Teich und die Beete angelegt haben mochte und gleich mit einem Teleportersprung materialisieren würde. Gucky persönlich zu kennen wäre das Megaereignis überhaupt gewesen.
Aber der Ilt hatte es nicht nötig, im Verborgenen Karotten zu pflanzen. Der Garten seines Bungalows am Goshun-See war ausreichend groß.
Wenn nicht Gucky, wer dann? Alaska ging in Gedanken alle Möglichkeiten durch:
Bull? Es gehörte zu den amüsanten Anekdoten, dass der Staatsmarschall auf seinem eigenen Grundstück Mohrrüben anbaute, aber Gucky sie erntete. Inwieweit sich Dichtung und Wahrheit vermischten, wussten wohl nur die Betroffenen selbst.
Vielleicht kam einer der Mutanten als Teich- und Gartenbesitzer in Frage. Ein Teleporter möglicherweise. Also Ras Tschubai?
Die Tagträume eines Jugendlichen waren das. Alaska zuckte mit den Achseln. Es war ihm egal. Zumindest redete er es sich ein.
Achtlos ließ er das Samentütchen fallen, als aus der Ferne das Tosen im Alarmstart abhebender Raumschiffe heranrollte.
Mit einem kräftigen Tritt testete Alaska den Steg. Das Holz knirschte, hielt aber stand. Trotz der glitschigen Bretter blieb der Junge am höchsten Punkt des Steges stehen, der den Blick in Richtung Raumhafen erlaubte. Ein monströses Gebilde schwebte soeben ein, eine Art Würfel, mit unzähligen Auswüchsen und Aufbauten übersät. Trotz der Distanz schätzte Alaska die Kantenlänge auf gut zwei Kilometer: ein Fragmentraumer der Posbis, jener Roboterzivilisation aus dem intergalaktischen Leerraum, die zu den besten Freunden der Menschheit zählte. Schiffe wie dieses erschienen selten in der Milchstraße.
Alaska wartete wieder – ohne zu wissen, auf was. Für kurze Zeit hatte er geglaubt, die Welt bewegen zu können, nun schweiften seine Gedanken zu Torras zurück. Was der Roboter gesagt hatte, klang im Nachhinein so verdammt plausibel und beinahe schon menschlich.
Es gelang Alaska nicht mehr, seine Gedanken und Gefühle abzuschalten. Während die Sonne höher stieg und sich dem Zenit näherte, ließ er vom Steg aus die Beine baumeln. Das Wasser glitzerte im Sonnenschein wie ein Sternenmeer.
Wenn jeder der kurz aufflammenden Lichtpunkte einer Galaxie vergleichbar war ...
... dann lag das Universum zu seinen Füßen.
Eine aberwitzige Vorstellung, durchzuckte es den Jungen. Er schloss die Augen, aber das Glitzern hatte sich schon tief in seine Netzhaut eingebrannt. Jeder Punkt wurde zu einem rotierenden Feuerrad, einer Galaxie mit Hunderten Milliarden Sonnen und noch mehr Planeten, und auf vielen Welten existierte Leben, wenn auch jenseits des Abgrunds von Raum und Zeit in der Mehrzahl für immer unerreichbar.
Alaskas Hände verkrampften sich um den Rand des Stegs.
Noch vor eineinhalb Jahrtausenden, zur Zeit des Aufbruchs in den Weltraum und antiquierter Versuche, unbemannte Sonden zu Venus, Mars und Jupiter zu schießen, hatten die Terraner ihre Einzigartigkeit beschworen. Das erschien ihm wie eine der täglichen Lügengeschichten bei Terravision, für deren Lösung es teure Preise zu gewinnen gab. Die Erde als einziger Planet, der Leben hervorgebracht hatte, war unglaublich, vor allem die ungeheure Verschwendung an Platz, Energie und Zeit. Ein Dozent im ersten Ausbildungsabschnitt hatte den bislang zutreffendsten Vergleich formuliert: »Wenn es nur eine einzige Mikrobe auf der Erde gäbe und sonst keine Spur von Leben, wäre das ungefähr die gleiche Verschwendung – vor allem würde nie geklärt werden, welcher Sinn hinter der Existenz dieser Mikrobe steht.«
Im Gegensatz zu früheren Zeiten kannte heute schon jedes Kind die raumfahrenden Völker. Nicht nur die heimische Milchstraße war ein Tummelplatz intelligenter Lebensformen, auch die benachbarten Galaxien. Wenn es aktuell hieß, es gäbe keinen Raumschiffsantrieb, um jemals mit vertretbarem Aufwand Sterneninseln in einigen hundert Millionen Lichtjahren Entfernung anfliegen zu können, ähnelte das so mancher Behauptung aus der Anfangszeit des Solaren Imperiums, die sich ebenfalls sehr bald als unzutreffend erwiesen hatte.
Alaska blinzelte zwischen halb geschlossenen Lidern hindurch. Die Sonnenspiegelung im Wasser erinnerte ihn an die Deep-field-Aufnahme in seinem Zimmer, die eine weit entfernte Ansammlung Hunderter Galaxien jenseits der Großen Leere zeigte.
Oft dachte er über solche Dinge nach, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Es erschien ihm logisch, dass jede Epoche ihre eigenen Lösungen hatte, die dem Vorstellungsvermögen und der wirtschaftlichen Leistungskraft entsprachen. Aus dem Verkehrsmuseum kannte er die bodengebundenen Autos, die durch Gleiter und Transmitter ersetzt worden waren. Vielleicht würde es eines Tages nicht einmal mehr Raumschiffe geben.
Eine Brücke, schoss es ihm durch den Sinn, während er über die Bretter tastete. Als er aufstand und zur anderen Seite des Teiches hinüberging, stellte er sich nur vor, dass das Funkeln unter ihm tatsächlich von fernen Galaxien stammte.
Alaska spürte, dass er abrutschte. Einen Augenblick lang kämpfte er vergeblich um sein Gleichgewicht – dann schlug das Wasser über ihm zusammen.
Die Kälte trieb ihm die Luft aus den Lungen. Panisch begann er um sich zu schlagen und verstrickte sich in dem Geflecht der Wasserpflanzen, die den Teich längst erobert hatten. Mit einem Dutzend Krakenarmen hielten sie ihn zurück.
Alaska trat um sich, spürte endlich Schlamm unter den Füßen und stieß sich ab. Pflanzenstrünke zerrissen, als er gleich darauf die Oberfläche durchbrach und das Wasser von ihm abfloss.
Wie mit Nadeln stach die Kälte ins Fleisch. Alaska Saedelaere fröstelte. Erst als er sich besann, dass es nur eines Kommandos bedurfte, um den Wasserfluss zu beenden, wich die Erinnerung.
Er tastete nach dem Handtuch und vergrub das zuckende Gesicht in dem flauschigen, die Nässe aufsaugenden Stoff. Eine Weile stand er wie zur Statue erstarrt.
Er hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als den Kopf zum wer weiß wievielten Mal unter die Dusche zu halten. Nur hatte er diesmal keine überreizten Nerven abkühlen, sondern die lästige Erinnerung vertreiben müssen. Er floh in die Vergangenheit, die er allerdings ebenso wenig mochte wie die Gegenwart und die ihm keineswegs Erleichterung brachte.
Alaska hängte sich das Handtuch über die Schulter und fuhr mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Dass die Ärzte dem Phänomen ratlos gegenüberstanden, war ihm bedrückend klar geworden. Aber warum glaubten sie, alle Probleme von ihm fern halten zu müssen, und vergaßen die biologischen Selbstheilungskräfte? Dachten sie wirklich nicht daran? Sie brauchten ihm nur einen Spiegel in die Nasszelle zu hängen, und er würde die Veränderung entweder akzeptieren oder wie alle anderen, die sein verändertes Gesicht gesehen hatten, verrückt werden und sterben.
»Verrückt werde ich bestimmt.« Wie einen Fluch zerbiss der Techniker den Satz zwischen den Zähnen.
Er verkrampfte die Hand im Gesicht und drückte mit Daumen und Zeigefinger unter die Wangenknochen. Die Haut war immer noch unnatürlich glatt, das Fleisch darunter pulsierte kaum merklich.
Alaskas Griff wurde fester. Er fügte sich bewusst Schmerzen zu, um endlich vergessen zu können. Genau so hatte Tresham ihn damals gepackt ...
Den Gleiter bemerkte er erst, als sich die Maschine schon auf die Lichtung herabsenkte. Es war ein schneller und extrem wendiger Typ, den er erst ein- oder zweimal in Nachrichtensendungen gesehen hatte und der künftig zur Ausrüstung terranischer Sicherheitsbehörden gehören sollte. Offiziell im Einsatz war diese Maschine aber noch nicht.
Alaska hatte am Weiherrand ein Stück weit Unkraut ausgerissen und das Gras niedergetreten. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lag er in der Sonne und schaute den in großer Höhe treibenden Wolken nach. In Minutenabständen sah er Raumschiffe starten oder landen.
Als der Schatten des Gleiters auf ihn fiel, rollte er sich herum und sprang auf. Warum er nicht an einen Zufall glaubte, hätte er selbst nicht beantworten können. Wahrscheinlich weil er den Gleiter sofort mit Unangenehmem in Verbindung brachte.
Alaska kam keine fünf Meter weit, dann schien sich die Luft in ein zähflüssiges Medium zu verwandeln, das ihm unüberwindbaren Widerstand entgegensetzte. Es war ein aberwitziges Gefühl, gegen eine watteweiche, aber unnachgiebige und unsichtbare Wand zu laufen.
Alaska verlor den Boden unter den Füßen und wurde langsam in die Höhe gezogen. Übelkeit wallte in ihm auf.
Sie fangen mich mit einem Traktorstrahl ein, erkannte er betroffen.
Der Gleiter schwebte über den Baumwipfeln. Alaska war schweißgebadet, als sich das Einstiegsluk öffnete. Ein bärtiges Gesicht grinste ihm entgegen, der Mann packte zu und zog ihn nach innen.
»Tja, mein Junge, das war's dann wohl.«
Die Lippen aufeinander gepresst, sah Alaska sich um. Das Cockpit barg weit weniger technische Spielereien, als er geglaubt hatte.
»Halb Terrania ist deinetwegen in Aufruhr«, fuhr der Bärtige fort.
»Bestimmt nicht.«
»Aber deine Eltern sorgen sich«, begann nun auch der zweite Mann im Pilotensitz.
Der Gleiter schoss mit Wahnsinnswerten in den Himmel und schwenkte um einhundertachzig Grad. Alaska hatte Mühe, seinen rebellierenden Magen zu beruhigen, weil der Blick durch die Frontverglasung die irrwitzige Bewegung erkennen ließ. Instinktiv suchte er nach einem sicheren Halt. Nur die Andruckabsorber verhinderten, dass er herumgeschleudert wurde.
Der Pilot stieß ein amüsiertes Lachen aus. »Kurzer Trip zum Mond gefällig?«
Saedelaere schnappte nach Luft.
»Wohin wolltest du eigentlich?«, fragte der Bärtige.
Mindestens fünfzehn Kilometer hoch flog der Gleiter. Der Blick zwischen Wolkenschleiern hindurch auf die Hauptstadt Terras war atemberaubend. Alaska hob dennoch nur die Schultern.
»Hast du Hunger?«
Ein stummes Kopfschütteln. Vor einer Stunde hatte er seinen letzten Konzentratriegel gegessen. Alaska fragte sich, warum die Männer einfache Kleidung trugen und nicht einmal Rangabzeichen. Er war in dem Moment sogar enttäuscht darüber.
»Durst?«
»Hm.«
Er bekam eine venusische Cola, deren belebende Wirkung sofort einsetzte.
»Wie ... haben Sie mich gefunden?«, brachte er endlich hervor, während der Gleiter in einer weiten Spiralbahn wieder tiefer sank. Es gab wahnsinnig viel zu sehen, was ihm den Atem raubte. Wie die glitzernden Fäden eines Spinnennetzes verwoben Hochbahnen, Gleitbänder und Glastunnel die Stadtteile Terranias miteinander. Die Raumhäfen und gelandeten Schiffe weit entfernt wirkten wie Spielzeuge.
»Gucky, der Retter des Universums, hat dich telepathisch ...«
»Lass das!«, unterbrach der Pilot. »Sonst glaubt Alaska den Unsinn noch.«
»Also gut, Gucky hat uns nicht geholfen. Aber es gibt einige technische Spielereien ...«
»Individualtaster«, unterbrach der Junge. »Ich kenne die Grundzüge der Aufzeichnung von Gehirnwellenmustern, die eine eindeutige Identifizierung ermöglichen. Flottenstützpunkte werden auf die Art abgesichert, Regierungsstellen und was weiß ich noch alles.«
»Hat dir das dein Vater erzählt?«
»Es gibt genug Speicherdaten zu dem Thema«, antwortete Alaska schroff.
»Ich wusste gar nicht, dass wir ein so schlaues Bürschchen ...«
»Lass den Jungen zufrieden!«, brummte der Pilot. »Wir sollen ihn nur abliefern, nicht verwirren.«
Alaska blickte von einem zum anderen. »Wer seid ihr?«
»Freunde«, meinte der Bärtige lapidar.
»Von wem?«
»Vielleicht Freunde deines Vaters.«
»Eigentlich will ich es gar nicht wissen«, sagte Alaska trotzig. Von da an schwieg er hartnäckig, aber sein Blick war überall.
Vergeblich suchte er nach einem Hinweis auf die Herkunft des Gleiters, und alles Mögliche schoss ihm durch den Sinn, angefangen von der Condos Vasac, der Geheimorganisation der Akonen, von der er irgendwann gelesen hatte, über einen Geheimbund der Antis bis hin zu einer der Schmugglerorganisationen, von denen hin und wieder in den Medien zu hören war. Die Idee von Treshams illegalen Machenschaften hatte sich längst festgefressen. Lange Zeit hatte Alaska es sogar geschafft, nicht mehr darüber nachzudenken, doch Treshams Eigenheiten hatten die alten Wunden wieder aufbrechen lassen.
»Was ist eigentlich mit dir los? Du weißt, dass wir über alle Probleme reden können.«
Ausgerechnet Tresham sagte das, für den seine Familie immer nur Staffage gewesen war. In einem heftigen Aufbegehren wollte Alaska seinem Vater die Stirn bieten, doch zwang ihn dessen unwiderstehlicher Blick, den Kopf zu senken. Vielleicht hätte er anders reagierte, wäre seine Mutter in der Nähe gewesen.
»Du kannst dir denken, welche Folgen dein Benehmen bei der Ausbildung nach sich zieht?«
»Ich habe nicht angefangen.«
»Du bist davongelaufen, und das ist wie ein Eingeständnis deiner Schuld. Ich musste alles aufbieten, um deinen Platz in der STARDUST Memorial zu sichern.«
»Ist mir egal«, murmelte Alaska.
Sein Vater griff blitzschnell zu und zog ihn am Oberarm zu sich heran. »Ob es dir gefällt oder nicht – ich will, dass du eine Elite-Ausbildung erhältst. Mein Sohn wird jedenfalls nicht als einfacher Techniker enden.«
»Keine Bange, ich decke bestimmt keine Rauschgiftgeschäfte von Antis oder Aras ...« Treshams Finger krallten sich schmerzhaft in seinen Arm. Gerade deshalb stieß Alaska keuchend hervor: »Wer waren die Männer, die mich zurückgebracht haben?«
»Ich kann es dir nicht sagen.«
»Du willst nicht ...« Alles brach auf, was er jahrelang unterdrückt hatte. »Ich weiß nicht, was du treibst, aber mit illegalen Geschäften kannst du mich nicht halten.«
»Schluss jetzt!«
»... ich laufe wieder davon, und beim nächsten Mal schaffe ich es, das verspreche ich dir.«
Tresham griff auch mit der rechten Hand zu, seine Finger drückten auf Alaskas Wangenknochen. Kaum noch verständlich stieß der Junge hervor: »Wer waren die Männer? Akonen? Arkonidische Kriminelle? Ich hasse dich dafür.«
Sein Gesicht hatte wie Feuer gebrannt ...
... wie vorhin, als er sich unter die Dusche stellte. Saedelaere schüttelte die letzte Benommenheit von sich ab und tastete über seine Wangen.
Der Aufschrei des zwölfjährigen Jungen hallte in ihm nach: »... ich laufe wieder davon, und beim nächsten Mal schaffe ich es, das verspreche ich dir.« Genau das würde er tun. Vielleicht war es sein Schicksal, immer vor etwas davonlaufen zu müssen. Dass die Ärzte auf Mimas ihm ebenso wenig helfen konnten wie auf Peruwall, war abzusehen. Keinesfalls würde er warten, bis er endgültig zum Gefangenen wurde.
»Du bist davongelaufen, und das ist wie ein Eingeständnis deiner Schuld.« Das hatte Tresham gesagt. Bedeutungsschwer. Vier Tage später war er selbst zum zweiten Mal verschwunden. Diesmal für immer. Alaska hatte nie mit jemandem über seine Folgerungen gesprochen, nicht einmal mit seiner Mutter.
Nun würde er ebenfalls gehen. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit.
Wohin? So wenig wie mit dreizehn Jahren wusste er das heute. Weit hinaus jedenfalls, die Grenzen hinter sich lassen, bis zu denen die Menschheit vorgestoßen ist.
Sich in ein Schneckenhaus vertrauter Umgebung zurückzuziehen – wie Torras seinerzeit – kam nicht in Betracht. Ein Vierteljahr später hatte er nämlich noch einmal den Schrottplatz aufgesucht, aber weder das Wrack noch den Roboter wiedergefunden. Alles war im Umbruch gewesen, und weitere sechs Monate später hatte eine riesige Baustelle den Wald, den Teich mit den verfallenen Karottenbeeten und den Schrottplatz verschluckt.
Hartnäckig fraß sich das Summen des Schottmelders in Saedelaeres Bewusstsein vor. Vermutlich wollte einer der Ärzte nach ihm sehen. Alaska griff nach dem handlichen Deflektor, zögerte, legte sich das Gerät schließlich doch um und aktivierte das optische Ablenkungsfeld.
Ein Mann ohne Kopf, das war aus ihm geworden.
Mit einem knappen Befehl aktivierte er die Sprechanlage.
»Ich habe mich schon gefragt, wieso du nicht reagierst«, sagte eine vertraute Stimme. Alaska setzte zu einer Antwort an – und brachte keinen Laut hervor, seine Empfindungen spielten jäh verrückt. »Geh!«, wollte er hervorstoßen, ebenso vergeblich.
Dann hatte er sich entschieden, durchmaß den Raum mit schnellen Schritten und stellte sich so, dass er vom Schott her nicht sofort gesehen werden konnte.
»Öffnen!«, sagte er leise, aber mit bebender Stimme.