Читать книгу PERRY RHODAN-Kosmos-Chroniken: Alaska Saedelaere - Hubert Haensel - Страница 12
6.
Оглавление»Bleib, wo du bist!«, hätte er am liebsten geschrien. »Quäl mich nicht auch noch!« Aber er schwieg betroffen.
Schritte wurden laut ... verhielten einen oder zwei bange Atemzüge lang ... klangen dann entschlossener. Alaska spürte Livs Zögern deutlich, aber schon ging sie weiter. Drei Schritte, also knapp zwei Meter, damit verließ sie den Erfassungsbereich der Sensorik. Das Schott begann sich zu schließen.
Weitere drei Schritte ...
Auch ohne Liv zu sehen, wusste Saedelaere, dass sie in dem Moment die Brauen zusammenkniff und den Blick schweifen ließ. Von rechts nach links drehte sie den Kopf, während sie trotzig die Lippen aufeinander presste, bis sie nur noch einen schmalen Strich bildeten. Die linke Hand ballte sie gleichzeitig zur Faust und massierte mit der Rechten die Knöchel.
Der Durchgang zum Waschraum stand noch einen Spalt weit offen, und die Beleuchtung brannte.
»Bist du in der Nasszelle, Alaska?« Liv konnte ihre Aufregung nicht verbergen. Natürlich wusste sie, was geschehen war. Dennoch konnte sie nicht ahnen, wie es wirklich um ihn stand.
»Alaska ...?«
Saedelaere schluckte krampfhaft. »Dreh dich nicht um!«, stieß er endlich hervor. »Ich will nicht, dass du mich so siehst.«
Liv Andaman stand keine fünf Meter entfernt und wandte ihm den Rücken zu. In Alaska wuchs das Verlangen, auf sie zuzugehen und sie in die Arme zu nehmen. Er brauchte ihre Nähe und Berührung mehr als je zuvor. Zugleich warnte ihn eine innere Stimme. Selbst wenn Liv minutenlang übersehen konnte, was mit ihm geschehen war – die Realität würde danach umso schmerzhafter sein.
Ihre Schultern zuckten; es fiel ihr schwer, sich nicht umzudrehen. »Aus unserer geplanten Reise wird vermutlich nichts«, sagte sie.
»Sieht ganz so aus«, versetzte Saedelaere knapp.
»Wir holen alles nach.«
Ihr Haar floss kaskadenförmig über die Schultern, selbstleuchtende Farbfäden waren eingeflochten. Liv trug das eng anliegende rote Schuppenkleid, das ihre Figur ideal zur Geltung brachte.
»Du hast mit den Ärzten gesprochen?«, fragte Alaska, ohne eine Antwort zu erwarten. »Sie haben dir bestimmt erklärt, dass sie nicht weiterwissen.«
»Sie sagten mir, dass du dich allen Argumenten verschließt. Du bist im Begriff, dich selbst aufzugeben. – Also stimmt es«, fügte sie hinzu, als Alaska sich in der kurzen Pause, die sie einlegte, nicht äußerte.
»Ich werde Mimas verlassen.«
»Und dann?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »So einfach ist das Leben nicht – vor allem wirst du nicht ewig vor dir selbst davonlaufen können. Was auch mit deinem Gesicht geschehen ist, Alaska, es macht mir nichts aus.«
»Vergiss es! Das glaubst du heute. Aber morgen ...?«
»Du hattest stets ein Talent, Freunde vor den Kopf zu stoßen, nun übertreibst du dein Selbstmitleid.«
»Bist du nur nach Mimas gekommen, um mir das zu sagen?«
»Ich wollte dich sehen!«
»Aber ich will keine Liv Andaman auf der Liste der Verrückten und Toten, die ich zu verantworten habe.«
»Weißt du, dass ich es hasse, mit dir zu reden und dir gleichzeitig den Rücken zuzuwenden? – Mir wurde gesagt, dass du einen speziellen Deflektor trägst. Ich will dich jetzt sehen, Alaska – jetzt, nicht irgendwann.«
Auf dem Absatz fuhr die Frau herum. Saedelaere sah ihre Augen sich weiten, aber auch sofort wieder enger werden. Dieses kurze Aufblitzen mochte Livs Anspannung entsprungen sein, eine andere Regung zeigte sie nicht. »War das so schlimm für dich?«, fragte sie herausfordernd. »Du solltest endlich aufhören, alle Menschen zuerst als deine Gegner anzusehen.«
Liv ließ sich auf das Sofa sinken. Beide Arme auf die Lehne gelegt, schaute sie Alaska auffordernd entgegen und spitzte die Lippen. Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Sie versuchte, seine Veränderung zu ignorieren, schaffte es aber nicht. Ihre Sorge war deutlich. »Ein wenig anders hatte ich mir unser Wiedersehen schon vorgestellt«, sagte sie.
»Tut mir Leid, falls ich dich enttäusche.«
»Halb so schlimm. – Jetzt könnte ich allerdings einen Drink vertragen. Gib mir einen Vurguzz, der brennt den schalen Geschmack weg.«
Alaska ging zur Bar und schenkte zwei Gläser voll. Liv taxierte ihn unablässig; ein Mann, dessen Leib an den Schultern aufhörte, war mehr als gewöhnungsbedürftig. Zweifellos versuchte Liv nachzuvollziehen, was er empfand, aber sie konnte es nicht ermessen. Er taumelte in einer Achterbahnfahrt zwischen naiver Ungläubigkeit und panischem Entsetzen.
Wie war das wirklich, wenn sich das Leben von einer Sekunde zur anderen derart grundlegend veränderte?
Das Alleinsein machte ihm wenig aus, daran war er seit früher Kindheit gewöhnt. Viel schlimmer war die Ungewissheit. Er glaubte nicht an Heilungsaussichten.
Den Zwang, zum wiederholten Mal in sein Gesicht zu fassen, unterdrückte Alaska, indem er ruckartig nach beiden Gläsern griff.
Viel zu oft hatte er seit der Ankunft auf Mimas die Ränder der Veränderung abgetastet. Das anfangs befürchtete Weiterwuchern der Anomalie hatte sich nicht bewahrheitet, zumindest davon blieb er verschont. Trotzdem glaubte er nicht daran, dass sich »nur« die DNA seiner Zellen verändert hatte. Was da in seinem Gesicht zuckte und hin und wieder erschreckend glühte, war alles andere als sein eigenes Fleisch.
Er musste sich erinnern! Erst dann würde er wirklich erkennen, welche Bedrohung er mit sich herumschleppte.
Der Transmitter in der Handelsstation von Bontong, das in grünen Schlieren die Sendebereitschaft anzeigende Entstofflichungsfeld ...
»Pass auf, Alaska, du verschüttest den Vurguzz!«
Klebrig feucht rann es über seine Finger, als Livs Ausruf ihn aufschreckte. Beinahe hätte er vergessen, wo er sich befand.
Ein einziger Schritt ...
Stille. Zeitlos.
Irgendwann der Schmerz, ein Aufprall ... Woher kamen das grelle rote Licht und die eigenartigen Säulen?
»Ich rufe einen Medoroboter«, drang Livs Stimme in sein Bewusstsein vor.
»Nein«, hörte Saedelaere sich keuchen. »Ich will nicht, dass sie mich wieder untersuchen. Sie finden nichts.«
»Du bist krank, Alaska.« Liv nahm ihm den verbliebenen Vurguzz ab. Sie trat so dicht an ihn heran, dass er schon fürchtete, der Deflektorschutz würde nicht mehr ausreichen.
»Das weiß ich selbst.« Mit einer unkontrollierten, heftigen Bewegung schlug er Liv die Gläser aus den Händen, sie zerbrachen nicht, aber der Vurguzz hinterließ ein abstraktes grünes Muster auf dem Boden.
»Du hast eben phantasiert«, fuhr Liv unbeeindruckt fort.
Alaska wollte heftig widersprechen, besann sich aber und schob die Frau nur ein Stück weiter von sich. Ein bitterer Zug hatte sich um Livs Mundwinkel eingegraben, und wenn er sich nicht irrte, schimmerten ihre Augenwinkel feucht.
»Was habe ich gesagt?«, wollte er wissen.
Liv riss sich los, holte ein neues Glas aus dem Barfach und schenkte selbst ein. Sie trank in einem Zug. »Das brennt bis in den Magen«, ächzte sie.
»Ich muss wissen, was ich eben gesagt habe«, drängte Saedelaere. »Das ist wichtig für mich.«
Sie zögerte. »Schatten, warum gibt es keinen Schatten? – Das war alles.«
Saedelaere schüttelte den Kopf. Liv starrte ihn eine Weile an – oder sie starrte ins Leere, so genau war das nicht zu erkennen –, presste in stummer Verzweiflung die Lippen aufeinander und schenkte sich erneut das Glas voll. Erst in dem Moment verstand Alaska, dass sie auf seine Reaktion gewartet hatte.
»Ich kann nichts damit anfangen«, sagte er hart. »Noch nicht. – Aber ich frage mich inzwischen, ob du Alkohol brauchst, um meine Nähe zu ertragen.«
Liv wirkte irritiert. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«
»Warum bist du gekommen?«
Sie lehnte sich an die Barwand, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen. »Weil ich dich liebe, Alaska. Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Und weil ich dir helfen will.«
Saedelaere schwieg lange. »Ich werde weggehen«, sagte er dann. »Irgendwohin, wo es weder Menschen noch andere Intelligenzen gibt, die ich gefährden kann. Ich fürchte die Einsamkeit nicht.«
»Ich begleite dich.«
»Also gibst du es zu?«, fragte Saedelaere bedrückt.
»Was? Was soll ich zugeben?«
»Dass die Ärzte keine Heilungschance sehen! Haben sie dich geschickt, um mir das schonend beizubringen? Ich kann sehr gut eins und eins zusammenzählen.«
»Niemand hat mich geschickt«, widersprach die Frau. »Allerdings soll ich dir etwas geben. Dr. Bishar ...«
»... er will mit meinem Fall goldene Lorbeeren verdienen.«
»Er sagte mir, dass Galbraith Deighton ihm die Leitung der Untersuchungen übertragen hat. Also muss er gut sein.«
»Objektstudie Transmittergeschädigter nennt sich das«, schnaufte Saedelaere. »So viel habe ich schon mitbekommen. Kein Name, nichts – ich bin für die Quacksalber nur ein Objekt. Sie studieren mich, Liv. Deshalb weder Operation noch genetische Therapie.« Er stockte und unterbrach sich endgültig, als Liv mit spitzen Fingern in ihren Ausschnitt fasste und eine graue, eine Handspanne messende und etwa zwei Zentimeter dicke Rolle zum Vorschein brachte. »Was ist das?«, wollte er wissen.
Liv verzog die Mundwinkel zu einem bedauernden Lächeln. »Ich hatte gehofft, du würdest es von selbst finden. Aber vielleicht hast du sogar Recht mit deiner Zurückhaltung.« Sie drückte dem verdutzten Alaska die Rolle in die Hand. »Mit einer Empfehlung von Dr. Bishar«, setzte sie hinzu. »Er meinte, darauf wartest du seit Tagen. Vor allem sieht er keinen Grund mehr, dir das vorzuenthalten.«
Saedelaeres Finger zitterten, als er die Rolle öffnete. Es war eine dünne, mehrfach gefaltete Folie, deren dunklere Seite einen aufgerauten Eindruck vermittelte: Mikrokügelchen mit variabler Molekularstruktur, die unter exakt definierten Bedingungen die Mnemo-Eigenschaften des polymorphen Materials aktivierten. Folien dieser und ähnlicher Art wurden vor allem für Reparaturzwecke eingesetzt, speziell für rasche Abdichtungen, die später durch dauerhafte Lösungen ersetzt wurden. Integrierbare optische Trägerschichten ließen heute schon die Entwicklung optischer Systeme für die unterschiedlichsten Verwendungen voraussehen. Kleinformatige Folien wurden bereits mit Bildsequenzen von bis zu neunzig Sekunden Dauer beschickt, die eingespeicherte Energie erschöpfte sich aber je nach Datenfülle innerhalb weniger Monate.
Dass es sich um eine Bildfolie handelte – möglicherweise mit den Szenen seiner Ankunft im Transmitter von Peruwall –, schloss Alaska sofort aus. Der zusammengefaltete Zustand hätte Datenverluste bedeutet, deshalb wurden die Folien erst in geglättetem Zustand bespielt.
»Ein Spiegel?«, fragte Saedelaere verblüfft.
»Dr. Bishar meint, du wüsstest genug damit anzufangen.«
»Verdammt, ja. Aber weshalb gibt er dir die Folie anstatt einem Roboter ...«
»Danke für den Vergleich«, protestierte Liv. »Wenn das so ist, geh künftig auch mit einer von diesen Blechkisten ins Bett.«
»Das ist doch nebensächlich.« Flüchtig berührte Alaska mit zwei Fingern die Lippen seiner Gefährtin, er wandte sich um und verschwand in der Nasszelle.
»Sei vorsichtig!«, rief Liv von draußen. Dem Klang ihrer Stimme nach zu schließen, war sie ihm bis zur Tür gefolgt.
»Das liegt nicht an mir«, antwortete Saedelaere, während er die Folie andrückte. Bebend streifte er mit der Hand abwärts und konnte zusehen, wie das Material vom Untergrund angezogen wurde und sich zu glätten begann. Nicht einmal zehn Sekunden nahm der Vorgang in Anspruch – eine Zeitspanne, in der Alaska mit offenem Mund und angehaltenem Atem verfolgte, wie die Folie ihre Farbe veränderte und zu spiegeln begann.
»Dr. Bishar meinte, der Versuch könnte gefährlich sein«, erklang es von draußen. »Er hat mir einen Sender mitgegeben, mit dem ich die halbe Klinik alarmieren kann.«
»Er soll sich nicht so haben.«
»Alaska – sei vorsichtig!«
»Was kann mir denn noch geschehen?«
»Ich würde gerne die nächsten Jahre mit dir zusammen sein.«
»Und dann?« Die Abbildungsqualität war nur unwesentlich schlechter als die eines geschliffenen Spiegels. Alaska Saedelaere riss die Augen auf, als er die hochgewachsene dürre Kreatur sah, die einem Albtraum entsprungen zu sein schien, ein Monstrum ohne Kopf. Er zögerte, den Deflektor abzuschalten. Was er nicht für möglich gehalten hätte, war eingetreten: Er hatte Angst, erbärmliche Angst davor, seine wildesten Vermutungen bestätigt zu sehen.
»... und dann vielleicht noch länger«, erklärte Liv soeben. »Bislang sind wir doch gut miteinander ausgekommen.«
Bislang, dachte Saedelaere bitter, schloss die Augen und schaltete den Deflektor ab. Das Herz pochte ihm bis zum Hals, sein Puls raste, und in den Schläfen brauste ein Orkan. Was würde er sehen, wenn er gleich die Lider öffnete? Ein Anblick, der Menschen in den Wahnsinn trieb, musste grauenvoll sein. Im letzten Moment schreckte er davor zurück.
Mach der Qual ein Ende!, schoss es ihm durch den Sinn.
Er konnte es nicht, hatte nicht mehr den Mut dazu, und das mochte auch damit zu tun haben, dass Liv nebenan auf ihn wartete. Einen Strahler in die Hand zu nehmen, die Projektormündung an die Schläfe zu setzen und abzudrücken wäre einfacher gewesen. Der Betreffende spürte wohl nicht einmal die Hitze, die ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils tötete.
»Was ist?«, drängte die Frau.
Alaskas Rechte umklammerte den Deflektorfeldgenerator, der Zeigefinger tastete nach dem Schalter. Nur ein kleiner Ruck, dann war der Status quo wiederhergestellt ...
... und er würde sich für den Rest seines Lebens vorwerfen, im entscheidenden Augenblick versagt zu haben.
»Warum antwortest du nicht?«
Alaska hörte Livs Schritte näher kommen.
»Nein!«, schrie er auf ...
... und rastete den Schalter ein.
Erneut im Schutz der partiellen Unsichtbarkeit, fuhr er herum. Livs dunkler Teint war einer wächsernen Blässe gewichen, dicke Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn. Der Blick ihrer grünen Augen schien wesenlos, ging starr durch ihn hindurch und verlor sich in unbekannter Ferne.
Das änderte sich erst, als Alaska Livs Schultern umfasste. Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln und zeichneten unübersehbare Spuren auf die gerötete Haut.
»Nicht doch, Mädchen!« Seine Hand glitt an ihrer Wange aufwärts und fuhr, die Finger gespreizt, in ihr dichtes Haar. »Ich ... will dich nicht verlieren, Liv. Ich hab nur dich.«
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Eine Hand auf Saedelaeres Arm, die andere in seinem Nacken, versuchte sie, ihn zu küssen. Der Transmittergeschädigte wich jedoch zurück.
»Sei froh, dass du noch lebst!«, herrschte er die Frau an. »Fordere dein Glück nicht heraus!«
»Ich habe es gesehen«, sagte Liv Andaman betont. »Na ja, vielleicht nicht die ganze Veränderung, aber da war ein Flackern im Spiegel – rötlich orange Blitze. Ich bin weder verrückt geworden, noch hat mich der Schlag getroffen.«
»Du hattest einfach Glück.« Mit Nachdruck schob Alaska Saedelaere die Frau in den angrenzenden Wohnraum.
»Der Arzt meinte, dass meine Nähe auf dich positiv wirken würde«, fuhr sie fort. »Ich bin froh, dass es so ist. – Was hältst du von deinem Gesicht ...?«
»Ich weiß nicht«, unterbrach Saedelaere den Redefluss, mit dem Liv ohnehin nur die eigene Unsicherheit kaschierte. Bevor sie ihm die Spiegelfolie gegeben hatte, war sie ruhiger gewesen.
»... kommst du damit zurecht?«
»Nein«, log Saedelaere. »Ich will eine Operation. Sag das bitte Dr. Bishar.«
»Was gäbe ich darum, dein Gesicht wirklich zu sehen«, sagte Liv.
»Es würde dich umbringen, begreif das endlich!«
Liv presste die Lippen zusammen. Verbitterung sprach aus ihrem Blick, wobei ihre Augen suchend hin und her pendelten. Ihr plötzliches Lachen klang wie ein Alarmsignal.
»Bleib auf Distanz!«, warnte Saedelaere.
Das Lachen kippte, wurde fast hysterisch. »Ich schließe die Augen, Alaska. Dann gibt es keine Probleme, wenn wir uns küssen.«
»Geh jetzt!«, forderte er in einem Tonfall, der sie zusammenzucken ließ.
»Was ist los mit dir, Alaska? Wenn ich es nicht genau wüsste, würde ich sagen, du bist ein Fremder.«
»Ich melde mich bei dir, wenn ich hier entlassen werde.«
Die Frau zögerte und schüttelte den Kopf. »Das meinst du nicht ernst«, sagte sie seufzend. »Verstehst du denn nicht, dass ich dir helfen will?«
»Dafür bin ich dir dankbar.« Wie Alaska das sagte, klang es wie eine Bestellung für Bürobedarf. Nicht die Spur einer Emotion schwang in seinen Worten mit.
»Du bist stur wie ein Roboter.« Liv Andaman ließ sich nicht hinauskomplimentieren, sie ging von selbst mit dem Stolz einer gekränkten Frau. Unter dem Schott blieb sie noch einmal stehen. »Ich hoffe für dich, dass du die Einsamkeit ertragen kannst.«
Das Schott schloss sich.
»Leb wohl«, murmelte Saedelaere und schaltete den Deflektor ab. Ein tiefer Atemzug erschütterte seinen ausgemergelten Körper, dann wandte er sich zur Nasszelle um.
»Wir müssen Geduld haben, Miss Andaman.« Dr. Bishar taxierte Liv mit einem wohlwollenden Blick, der ein gewisses Bedauern nicht verhehlen konnte. Die junge Frau gefiel ihm. Mit 1,90 Metern war sie auf den Zentimeter so groß wie er selbst; ihre grünen Augen, die leicht schräg stehenden Wangenknochen und die vollen Lippen entsprachen dem geltenden Schönheitsideal bis ins Detail. Sie war schlank, ohne zerbrechlich zu wirken, und ihre Beine wuchsen schier ins Endlose. Unumwunden musste Bishar eingestehen, dass Saedelaere und diese Frau ein schönes Paar abgaben.
»Nach wie vor können wir die Ursache seiner Veränderung nur mutmaßen«, fuhr er bedächtig fort. »Da die Literatur keinen ähnlichen Fall aufweist, fangen wir mit unseren Untersuchungen sozusagen bei Adam und Eva an.« Er lächelte, doch es war ein bitterer Zug, der seine Mundwinkel umfloss. »Die Anzahl theoretischer Erklärungsversuche hat mittlerweile die vier Dutzend überschritten, angefangen von einem leider nicht mehr nachweisbaren Fehler während der Wiederverstofflichung über hyperenergetische Einflüsse bis hin zu einem Verschmelzen zweier Trägerfrequenzen.«
»Sicher gibt es Therapieansätze«, vermutete Liv. »Ich erinnere mich an einen Uraltfilm über die Anfangszeit der Transmittertechnik, in dem Zellstrukturen eines Menschen und eines Insekts vermischt wurden.«
Dr. Bishar lachte leise. »Das ist technischer Unsinn. Der Film muss wirklich uralt sein, von der Phantasie der Produzenten ganz zu schweigen.«
»Ausgehendes zwanzigstes Jahrhundert.«
Bishar vergaß, den Mund zu schließen. Irritiert schaute er die Frau an. Sein Blick war ein einziges großes Fragezeichen.
»Ich studiere an der Universität von Olymp«, sagte Liv. »Frühgeschichte des Solaren Imperiums, Spezialgebiet: Auswirkung des Technoschocks auf die psychische und physische Konstitution des Homo sapiens. Aktuell arbeite ich an einer Abhandlung zu diesem Thema.«
»Dann ist ein ungeklärter Transmitterunfall für Sie ...«
Die gezielte Anspielung unterbrach Liv mit einer schroffen Handbewegung. »Ich liebe Alaska«, sagte sie schwer. »Das mögen Sie mir glauben oder auch nicht. Und ich gäbe alles dafür, ihm helfen zu können. Vor allem habe ich Angst, dass er sich etwas antun wird.«
»Die Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf eine Suizidgefährdung. Mr. Saedelaere ist selbst daran interessiert, die Unglücksursache herauszufinden. – Seine Psychostruktur zeigt zwar eine deutliche Introvertiertheit, aber wohl als Folge des Unfalls.«
»Alaska war schon immer in sich gekehrt und unnahbar. Wenn Sie es jedoch schaffen, seine Barrieren zu durchdringen, lernen Sie einen anderen Menschen kennen. Alaska liebt das Leben, seine Träume sind eine unstillbare Sehnsucht; er ist keinesfalls dafür geschaffen, auf Dauer in einer begrenzten Zimmerflucht zu leben.«
»Sie glauben also, Saedelaere wäre bereit, mit dem Deflektorfeld eine Art ›halbes Leben‹ zu führen?«
»Nein«, sagte Liv schroff. »Machen Sie ihm nie diesen Vorschlag. Alaska wäre zutiefst gedemütigt. In dem Fall würde er wohl wirklich lieber sterben. – Besteht die Möglichkeit eines operativen Eingriffs?«
Dr. Bishar begann eine unruhige Wanderung. Dass die Frau mit brennendem Blick seine Bewegungen verfolgte, versuchte er zu ignorieren. Dann fasste er einen Entschluss.
Unvermittelt blieb er stehen und stützte sich an seinem Arbeitstisch ab. Mit knappen Handgriffen nahm er Schaltungen vor, in deren Folge sich das große Panoramabild der Stirnwand veränderte. Was eben noch wie ein direkter Blick auf den Planeten Saturn und seine sturmgepeitschte Atmosphäre wirkte, verwandelte sich übergangslos in die dreidimensionale Wiedergabe einer Transmitterhalle.
Liv hielt den Atem an, wie der Arzt aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Die Halle war schmucklos kahl und ohne Fenster. Wie viele ähnliche Bauten stammte sie aus der Zeit nach 3030, als die Gütertransportabläufe und das Umschlagwesen im Solsystem gravierend verändert worden waren.
Der Transmitterbogen stand auf Empfang und glomm in düsterem Rot. Da es sich um ein Gerät für den Warentransport handelte, standen beidseits der Halle Lastenschweber in Warteposition. Hinter ihnen spannten sich Kabelstränge und Rohrleitungen in schwer überschaubarem Gewirr. Sie hinterließen einen Eindruck von Unfertigkeit und Provisorium, obwohl eher Kostenaspekte eine Rolle spielten und Peruwall seit Jahrzehnten den Warenaustausch mit benachbarten Sonnensystemen störungsfrei bewältigte. Normalerweise wurden keine großen Güterströme über die Transmitter abgewickelt, sondern individuelle Mengen, die den Einsatz großer Frachtraumer nicht lohnten.
Das Anfangsbild wechselte und zeigte nur noch einen Ausschnitt. Liv versteifte sich, als das Transmitterfeld eine hagere, hoch aufgeschossene Gestalt ausspie. Der Mann taumelte, riss die Arme hoch, als müsse er einen unsichtbaren Gegner abwehren, und hielt nach mehreren unsicheren Schritten inne. Sekundenlang schien er direkt in die Aufnahmeoptik zu blicken, aber sein Gesicht war ein schwarzer unregelmäßiger Fleck, ein Black Hole, das kein Lichtquant entfliehen ließ.
Liv kniff die Brauen zusammen. Ihr Blick pendelte zwischen Dr. Bishar und der Bildwand.
Der Mann in der Projektion war Alaska. Die wohl aus Sicherheitsgründen eingespielte Abdeckung erweckte den Eindruck, als hätte jemand sein Gesicht ausgestanzt. Er schrie, riss die Hände hoch und schien sich gar nicht bewusst zu werden, dass er über verkrümmt am Boden liegende Männer stolperte, die eben noch versucht hatten, ihn aufzuhalten.
Der Blickwinkel wechselte.
Sicherheitsleute erreichten Alaska. Sie hielten ihn fest und redeten auf ihn ein, während er vergeblich versuchte, sein Gesicht zu verdecken. Sekunden später brach der erste der Uniformierten in die Knie und übergab sich.
»Schalten Sie's ab!«, stöhnte Liv.
»Wieder und wieder haben wir die Sequenzen analysiert«, erläuterte der Arzt. »Saedelaere reagierte erst nach mehreren Sekunden auf die Veränderung, das ist deutlich zu erkennen. Obwohl er mit vier Stunden Verspätung materialisierte, scheint er diese Zeitspanne nicht bewusst erlebt zu haben.«
»Sie haben ihn danach gefragt?«
»Natürlich.« Bishar nickte zögernd. »Er erinnert sich nicht – oder er will sich nicht erinnern. Deshalb erhoffte ich mir von Ihrem Besuch einen positiven Einfluss.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Spiegelfolie der große Erfolg war. Warum ignorieren Sie alle technischen Möglichkeiten, Alaskas Erinnerung zu reaktivieren?«
»Versucht und fehlgeschlagen, Miss Andaman. Ihr Freund spricht weder auf Medikamente an, noch erzielten wir mit einem Psychostrahler zufrieden stellende Wirkung. Zu Ihnen hat der Patient eine besondere Beziehung. Unter anderen Voraussetzungen hätten wir es kaum riskiert, ihn schon zu diesem Zeitpunkt sein verändertes Gesicht sehen zu lassen. Immerhin mit der Erkenntnis, dass er selbst immun ist.«
»Vielleicht bin ich es auch ...« Liv Andaman sagte das wie die selbstverständlichste Sache der Welt. »Ich konnte sehen, dass von seinem Gesicht ein rötlicher Schein ausgeht, eine Art Wetterleuchten.«
Dr. Bishar riss die Augen auf. »Sind Sie wahnsinnig?«
»... wie eine Korona«, fuhr die Frau unbeeindruckt fort. »Der treffendste Vergleich ist der einer Sonnenkorona.«
»Sie bringen mich in Teufels Küche, Miss. Wieso ignorieren Sie die strikte Anweisung, Saedelaeres Gesicht zu meiden?« Der Arzt lief puterrot an, beruhigte sich aber ebenso schnell wieder. »Sie haben einen Widerschein wahrgenommen«, fuhr er schon weit gefasster fort, »nicht sein Gesicht. Andernfalls säßen wir nicht mehr beieinander. Es tut mir Leid, Miss Andaman, aber Ihr Freund ist eine lebende Zeitbombe. In den Aufnahmen von Peruwall wurde sein Gesicht positronisch gelöscht, nachdem zwei Systemanalytiker während der Durchsicht der Originalaufzeichnungen starben.«
Was immer Dr. Bishar noch hatte sagen wollen, es ging im Aufheulen des Alarms unter. »Saedelaere«, stieß er nach einem raschen Blick auf ein Display hervor. »Es gibt Probleme.«
Nahezu gleichzeitig aktivierte sich der Interkom. Ein sichtlich erregter Arzt meldete, dass der Patient Saedelaere von einem Roboter bewusstlos und in einer Blutlache liegend aufgefunden worden war. »... zwei Medoroboter leisten Erstversorgung. Noch wissen wir nicht, was geschehen ist, aber wir können auch nicht hinein, solange das Deflektorfeld abgeschaltet bleiben muss. Die Roboter sprechen von außergewöhnlich starken Eruptionen in Saedelaeres Gesicht.«
»Was können wir tun?« Die Frau war blass geworden. Sie zitterte.
»Sehr wenig. Bislang sind die Roboter die Einzigen, denen Saedelaeres Anblick nichts anhaben kann.«
»Was immer mit ihm geschehen ist ...« Liv Andaman wischte sich mit dem Handrücken über die Augenwinkel. »Ich habe Angst um Alaska, und ich will ihn nicht verlieren, Doktor. Helfen Sie ihm!«
Warum hatte er Liv kaum näher als bis auf Armlänge an sich herangelassen? Er hatte verschwiegen, wie gerne er sie ebenfalls in den Arm genommen und ihre Lippen gespürt hätte – falls die Lippen, die er für seine hielt, wirklich noch seine Lippen waren. Manchmal, wenn das Fleisch zu zucken begann, als entwickelte es eine ihm noch unbekannte Art von Eigenleben, fühlte er sich wie eine fremde Kreatur, dann hätte er sich am liebsten wimmernd in eine Ecke verkrochen und das Ende des Anfalls abgewartet.
Begann so der Wahnsinn?
Er wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Das Unvermeidliche würde ihn früh genug in den Abgrund einer Abhängigkeit stürzen, die er von Grund auf verabscheute.
Wie viel besser wäre es gewesen, der Transmitter von Peruwall hätte ihn nie ausgespuckt. Im Hyperraum zu verwehen war vielleicht die Freiheit, die er sich als Jugendlicher erträumt hatte, den Kosmos zu Füßen, die Unsterblichkeit als energetischen Impuls ... Als Techniker kannte er seit den ersten Ausbildungstagen den Energieerhaltungssatz als unumstößliches Wissen. Im Gegensatz zu vielen anderen Lehrmeinungen, der Relativitätstheorie ebenso wie den obskuren Schwerkraftgesetzen, war der Energieerhaltungssatz auch nach Übernahme der arkonidischen Raumfahrttechnik nie ernsthaft angezweifelt worden. Energie kann weder erzeugt noch verbraucht werden. Sie kann sich stets nur von einer Form in eine andere umwandeln. Energetische Unsterblichkeit – ein verlockender Gedanke.
Nun stand er im Durchgang zur Nasszelle und zögerte, den letzten Schritt zu tun. Er starrte seine zitternden Hände an und spürte eine seltsame Lähmung. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, fürchtete er sich davor, den Deflektor abzuschalten, um endlich sehen zu können, was aus ihm geworden war. Egal was dabei geschah – nichts würde mehr so sein, wie es einmal gewesen war.
Tief atmete er ein – und stieß die Luft mit einem gequälten Seufzer wieder aus. Es war verrückt. Er brauchte nichts anderes zu tun, als einen kleinen mechanischen Schalter zu bewegen ...
... aber er konnte es nicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter bebenden Atemzügen, dann warf er sich herum. Immer noch glaubte er, Livs Parfüm zu riechen – Sternenwind der Ewigkeit – und den letzten Hauch ihrer langsam verfliegenden Wärme zu spüren.
Seine Unruhe wuchs. Mit einem knappen Befehl verdunkelte Alaska Saedelaere die Panoramascheibe. Er wollte nichts mehr von der begrenzten Weite des Saturnmondes Mimas sehen, nicht die baugleichen Kuppeln, in denen Kranke betreut wurden, die in anderen Kliniken bereits aufgegeben worden waren, und schon gar nicht das hauchdünne Band der Atmosphäre, das die ferne Sonne klein und unbedeutend erscheinen ließ. Dass er Liv fortgeschickt hatte, war ein Fehler gewesen. Er verstand sich selbst nicht. Deshalb griff er nach einer der Folien und dem Laserschreiber.
Du weißt, Liv, ich eigne mich nicht für große Worte. Es fällt mir schwer, meine Gefühle auszudrücken. Er überlegte eine Weile und massierte seine Finger. Jedes knackende Gelenk ließ ihn zusammenzucken. Ich mag dich; ich kann es dir nur nicht so direkt sagen, wie ich das gerne tun würde. Was immer geschehen ist, ich habe versucht, mich zu erinnern. Ich habe es wirklich versucht. Aber bis auf einige vermeintliche Erinnerungsfetzen ist da nichts. Nur Leere. Und die Einbildung, dass etwas in mir wächst, was nicht in unsere Welt gehört.
Ob ich mit dem Wissen leben kann, dass ich Menschen getötet habe?
Verzeih mir, Liv!
Er faltete das Blatt zusammen, die Folie verschmolz an den Rändern, und schrieb mit großen Buchstaben auf die Vorderseite FÜR LIV ANDAMAN.
Den Brief legte er auf die Tischplatte und beschwerte ihn mit dem Schreibstift. Sein Blick streifte die Gläser, die Liv abgestellt hatte. Eines war noch halb mit Vurguzz gefüllt, er nahm es auf, drehte es unschlüssig und kippte dann den Inhalt in einem Zug. Wie Feuer fräste sich das grüne Zeug durch seine Kehle und breitete sich brennend im Magen aus.
Hart stellte Saedelaere das Glas zurück und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein jäher Schmerz zerriss sein Gesicht und entlockte ihm ein gequältes Stöhnen. Da war es wieder, jenes unkontrollierbare Zucken, als wehre sich das Fremde gegen die aufgezwungene Verbindung.
Saedelaere presste beide Hände aufs Fleisch, um die aufgewühlten Muskeln zu beruhigen. Ein anhaltendes Gurgeln drang aus seiner Kehle ... und dann stand er wieder in der Nasszelle und starrte auf die Spiegelfolie, als könne sie allein Wunder wirken. Sein Puls raste und ließ das Pochen in den Schläfen zum Gewitter anschwellen, während ihm die Augen übergingen und bunte Schlieren auf den Spiegel zauberten. Ein Meer von Farben schien im Rhythmus seines Herzschlags aufzubrechen.
Endlich fanden Alaskas Finger den kleinen Projektor. Der Schalter rastete deutlich wahrnehmbar neu ein.
Diesmal schloss er die Augen nicht. Von der ersten Sekunde an wollte er sehen, was Menschen in den Wahnsinn trieb oder in den Tod.
Seine Anspannung löste sich in einem unkontrollierbaren Zittern. Heiß und kalt wogte es seine Wirbelsäule hinab, während ihm der Schweiß aus allen Poren brach. Innerhalb weniger Atemzüge klebte seine Kleidung klatschnass am Körper.
Alaska Saedelaere starrte auf den Spiegel, auf dem er nur vage die Konturen seines Schädels wahrnahm und auf dem weiterhin bunte Schlieren einen sinnverwirrenden Reigen tanzten. Er blinzelte – erst verwirrt, dann hektisch. Aus den Augenwinkeln heraus begann sich das Flirren allmählich aufzulösen.
Was blieb, war ein menschlich-unmenschliches Gesicht – für das Saedelaere keine treffendere Bezeichnung hatte. Erschrecken lag ebenso in seinem Blick wie Verständnislosigkeit und Furcht. Zu verstehen, was er sah, fiel schwer.
Alaska Saedelaere streckte den rechten Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen die Folie. Zaghaft tastete er über die Stirn seines Abbilds, über die klatschnassen Haarsträhnen. Mit der linken Hand fuhr er sich ins Haar und glitt dann abwärts ...
... bis er entschlossen mitten in das strahlende, bebende Etwas hineinfasste, dessen Farbnuancen unaufhörlich ineinander verliefen und sich wie ein Feuerrad von außen nach innen bewegten, als strebten sie einem gemeinsamen Mittelpunkt zu. Vergeblich versuchte Saedelaere, einer dieser Kontraktionen mit dem Finger zu folgen, sie nachzuzeichnen, um vielleicht zu erkennen, was sich da bewegte. Er fand nicht einmal das Zentrum der Farberuptionen, die ihn an brodelnde Protuberanzen erinnerten.
Vom Haaransatz bis zum Kinn hatte die zähe Masse sein Gesicht gefressen, selbst die Lippen glühten in feurigem Widerschein. Die Frage stellte sich, was geschehen würde, falls die brodelnde Masse wie ein Geschwür weiterwucherte und irgendwann den Körper ganz bedeckte. Aus einem unerfindlichen Grund wusste Alaska jedoch, dass das nie geschehen würde.
Warm und weich wogte die Anomalie unter seinen Fingern. »Verrückt«, stieß er tonlos hervor. »Bin ich schon verrückt?« Er konnte den Blick nicht von diesem in allen Farben des Spektrums zuckenden Etwas abwenden. Je länger er sein Spiegelbild anstarrte, desto mehr glaubte er an ein irreales Eigenleben. Die Farben schienen bestrebt zu sein, sich von ihm zu lösen. Seine Augen, die Nase und der Mund hatten zwar noch ihre ursprüngliche Ausprägung, doch lagen sie hinter dieser Schicht des Irrsinns verborgen.
»Mein Gott ...« Die eigene Stimme riss Saedelaere aus der beginnenden Trance. »Was ist das?« Ein erschreckender Hauch von Gefallen hatte sich in seine Gedanken gemischt – etwas, das er spontan als Faszination bezeichnete.
Er begann nicht zu toben wie ein Berserker, fiel auch nicht in Lethargie, weil ihm das Spiegelbild die Kraft aus den Knochen sog – er fand seinen Anblick fremd, eigentümlich zwar, aber dennoch auf unirdische Weise schön. Er verstand nicht, weshalb andere Menschen bei diesem Anblick den Verstand verloren oder starben. Ebenso hätte jeder Kunstbeflissene vor den modernen grellbunten Psycho-Malereien in Ohnmacht fallen müssen, denn diese Bilder waren wirklich nicht mehr als dreidimensionale Farbstrukturen; einen Sinn hatte Alaska solchen Kunstwerken nie zumessen können.
Wie lange hielt er seinem Anblick schon stand?
»Bilde dir nur nicht ein, nun sei alles vorbei.« Stockend redete er im Selbstgespräch. Die Worte formten sich ohne sein Zutun, stiegen aus dem Unterbewusstsein empor. »Du kannst vielleicht damit leben, andere Menschen bringt es um. – Das darfst du nicht zulassen. Du hast schon zu viel Unheil angerichtet. Und irgendwann tötet es auch dich, Alaska!« Den letzten Satz schrie er seinem Spiegelbild entgegen, das ihn mit hektischer rotierenden Farben tückisch angrinste.
»Du bist der Mörder«, keuchte er. »Du wirst niemanden mehr töten.« Seine tastende Rechte fand eine Flasche mit Duftwasser, die Finger verkrampften sich, und dann schleuderte er die Flasche mit aller Kraft in den Spiegel. Klirrend zerbarst sie, und die Scherben und eine herbe Duftwolke spritzten nach allen Seiten auseinander. Nur die Spiegelfläche blieb unbeschädigt. Die wogende Fratze wirkte herausfordernder als zuvor.
Das war der Moment, in dem er sich herumwarf und wie von Furien gehetzt vor sich selbst floh. Völlig unmöglich, jetzt noch einen klaren Gedanken zu fassen. Er war nur beseelt von dem Wunsch, dem Schrecken in seinem Gesicht zu entkommen.
Neben den Resten der letzten Mahlzeit lag noch das Obstmesser. Ein irres Lachen quoll über Saedelaeres Lippen, als die Finger sich um den Messergriff schlossen. Er riss die kurze Klinge hoch und stach zu.
Ein grauenvoller Schmerz durchzuckte seine Wange. Im nächsten Moment fühlte er es warm und klebrig über das Kinn tropfen.
Wieder stieß er zu, besessen von dem Gedanken, das Fremde aus sich herauszuschneiden. Unter dem pulsierenden Gewebe musste sein eigenes Gesicht verborgen sein. Die Klinge glitt ab, hinterließ eine tobende Schnittwunde vom linken Ohr über den Unterkiefer hinweg bis halb auf den Hals.
Wie von Sinnen führte Saedelaere den nächsten Stich gegen das Kinn. Er spürte, dass die Klinge den Knochen traf und abermals abrutschte, dann explodierte eine unheimliche Kraft in seinem Gesicht.
Schwärze umfing ihn. Dass er zuckend zu Boden stürzte, nahm er schon nicht mehr wahr.