Читать книгу Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli - Страница 10
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Schließlich vergaß ich Emmerichs Sohn und dachte nur noch an mich selbst, dadurch verging die Zeit anders als zuvor. Wir durchquerten ein weiteres Dorf, verschlafen wie das erste, abgesehen von einem erleuchteten Fenster und dem Geruch nach Rauch.
Hin und wieder glitt ich aus und stolperte gegen Emmerich oder Bauer. Der Körperkontakt mit ihnen beruhigte mich. Noch mehrere Minuten, nachdem ich einen Arm oder eine Schulter berührt hatte, erinnerte ich mich daran, spürte noch die körperliche Empfindung.
Wir langten an einer gefrorenen Wasserfläche an, erkennbar allein durch das Schilf, das sie umgab, denn das Eis war ebenso weiß wie die Felder ringsum. Die Fläche war ziemlich groß. Der Wind hatte den Schnee an einem Ufer angehäuft, wo er einen spitz zulaufenden Hügel bildete, gleich einem Wellenkamm. In der Mitte des Eises konnte man am erstarrten Schilfrohr ablesen, in welcher Richtung der Wind an dem Tag geweht hatte, als alles zugefroren war. An jenem Tag hatte jemand einen Stock dort hineingerammt.
Bauer sagte uns, wir sollten warten, und begab sich auf die gefrorene Wasserfläche. Er hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und gebrauchte es wie einen Gehstock, um nicht auszurutschen.
Emmerich und ich traten auf der Stelle, um uns warm zu halten, und sahen Bauer zu, wie er sich vorsichtig auf dem Eis voranbewegte. Ich spürte, wie das Glücksgefühl, sich der Arbeit entzogen zu haben, allmählich entschwand. Jetzt fühlte sich alles ganz anders an. Kaum dass er begonnen hatte, erschien uns der Tag bereits lang und von Schwierigkeiten durchzogen. Wir hatten erst die Hälfte hinter uns. Dass drüben bei der Kompanie die Arbeit vielleicht schon beendet war, hieß noch lange nicht, dass wir hätten zurückkehren können. Wir mussten den Einbruch der Nacht abwarten. Andernfalls würde Leutnant Graaf sagen: »Das habt ihr euch zu einfach gemacht, ihr Mistkerle. Das war das letzte Mal, dass man euch hat gehen lassen.« Von seinem Standpunkt aus hätte er auch recht gehabt. Und alle aus der Kompanie würden uns zu Recht mit schlimmeren Beleidigungen belegen als Graaf.
Um allen gegenüber zu rechtfertigen, dass wir zurückgekehrt waren, wäre es nötig gewesen, einige zu finden und mitzubringen. Nur hatten wir gar nicht erst begonnen, welche zu suchen. Noch nicht einmal daran gedacht hatten wir.
Mein einziger Trost war, dass noch immer Windstille herrschte. Käme der Wind noch vor dem Abend wieder auf, würde er die Erleichterung, der Arbeit entronnen zu sein, mit sich davontragen.
Bauer war in der Mitte der Wasserfläche angekommen. Er nahm sein Gewehr in beide Hände und begann, mit dem Kolben auf das Eis einzuschlagen. Splitter flogen. Bauer ließ nicht locker. Dann hielt er einen Augenblick inne und sagte: »Das Eis geht bis auf den Grund.«
»Was dachtest du denn?«, rief Emmerich ihm zu.
Bauer schlug wieder auf das Eis ein.
Ich rief: »Hör endlich auf! Was soll das?«
Er sah mich an. Ich war sicher, dass er lächelte hinter seinem Schal. Es sah aus, als sei er zufrieden. Was wir ihm sagten, scherte ihn nicht. Von Neuem ließ er Eissplitter fliegen. Jeder Schlag erklang kurz und heftig. Man konnte von hier aus hören, dass das Eis in der Tat bis auf den Grund reichte. Falls er das nur überprüfen wollte, hätte er aufhören können. Dennoch machte er mit Feuereifer weiter.
Als ich ihn gerade warnen wollte, dass sein Gewehr losgehen könnte, wenn er so weitermachte, sprach Emmerich plötzlich wieder von seinem Sohn, leise, als wollte er nicht, dass Bauer davon etwas mitbekäme: »Überall kann uns ein Unglück zustoßen. Und dann wird sein Leben ruiniert sein.«
»Du hast ganz recht«, raunte ich ihm zu. »Uns wird etwas anderes einfallen.«
»Ja«, sagte Emmerich erleichtert, »das wäre mir lieber.«
»Wir werden etwas finden.«
»Ich habe Angst, dass ich es allein nicht schaffe.«
»Wir werden alle drei darüber nachdenken.«
Emmerich betrachtete den Himmel, nicht lang, nur so lang, wie er offenbar brauchte, um zu erkennen, dass wir zu dritt waren. Darin lag für Emmerich in diesem Moment vielleicht der Trost: dass wir ihm zur Hand gehen würden. Für mich lag der Trost nach wie vor darin, dass kein Wind wehte. Und für Bauer darin, dass er auf dem Eis stand und dessen Dicke erprobte, aus Gründen, die nur er selbst kannte.
Ich rief ihn. Rief ihn lauter. Es war Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Emmerich und ich hatten nämlich, obwohl wir beide mit den Füßen stampften, mittlerweile Mühe, uns warm zu halten. Bauer kam zurück, ging zwischen den erstarrten Schilfrohren hindurch und passte auf, kein einziges abzubrechen. Auch dies schien ihn zufriedenzustellen. Was für ein Vergnügen er, ein Mann über vierzig, daran hatte, sich einen Weg zwischen dem Schilf hindurchzubahnen, und wie er darüber lächelte hinter seinem Schal.
Er sprang auf die Straße, und plötzlich packte mich Bedauern, dass wir vorhin nicht an dem erleuchteten Fenster angehalten hatten, um nach warmer Milch zu fragen.