Читать книгу Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli - Страница 9

Оглавление

4

Mein Rücken hatte sich immer schmerzhafter verkrampft unter der Kälte. Wir machten uns wieder auf den Weg, Emmerich voran. Kurz zuvor hatte sich mit einer Schulterbewegung und einem Stoßseufzer durch den Schal angedeutet, dass er mit seinem Problem immer noch nicht durch war. Also dachten wir, während wir hinter Emmerich herstapften, weiter darüber nach, wie man seinen Sohn vom Rauchen abbringen könnte. Im Grunde glaubte ich, dass keiner von uns eine Möglichkeit fände, ihn von hier aus am Rauchen zu hindern, wenn er nun einmal damit angefangen hatte. Nur, hätten wir dies Emmerich gegenüber ausgesprochen, so hätten wir ihm ebenso gut den Gewehrkolben in den Rücken rammen können.

Bauer und ich hatten keine Kinder. Alle in der Kompanie hatten welche, außer Bauer und mir. Emmerich hatte uns schon oft gesagt, dass Vatersein sowohl ein Glück als auch ein Unglück sei. Vor dem Krieg sei es ausschließlich ein Glück gewesen, aber nun habe sich das Unglück dazugesellt. Wir verstanden ihn nur so halb.

»Sag ihm, dass es dir Unglück bringt, wenn er damit weitermacht«, schrie Bauer mit einem Mal.

Wir schraken auf, Emmerich und ich. Selbst durch den Schal klang es noch wie ein Gewehrschuss. Oder wie der Schrei eines wilden Tieres.

Unsere Arbeit hier hatte Bauers Stimme verändert. Sie konnte urplötzlich überschnappen. Was er sagte, war dabei fast unwichtig. Aus dem banalsten Anlass konnte er losschreien. Emmerich und ich hatten aufgehört, uns deshalb zu sorgen, und machten ihm auch keine Vorwürfe mehr. Aber dass wir es wussten, schützte uns nicht davor, jedes Mal aufzuschrecken, wenn es so weit war.

Emmerich wandte sich ein Stück zu uns um und antwortete mit einem Vibrieren in der Stimme: »Wenn er geraucht hat und mir ein Unglück zustößt, ist sein Leben ruiniert.«

»Er hat recht«, sagte ich zu Bauer.

Bauer machte einen großen Schritt voran, fasste Emmerich an der Schulter und sagte, diesmal mit seiner wahren Stimme, ruhig und besonnen: »Dir müsste erst einmal ein Unglück zustoßen. Was riskieren wir hier schon?«

»Hier vielleicht nichts«, antwortete Emmerich. »Im Moment ist alles in Ordnung. Aber wir riskieren, dass wir woandershin geschickt werden.«

»Kann schon sein. Aber morgen nicht«, sagte Bauer. »Und hier, was sollte dir hier für ein Unglück zustoßen?«

Emmerich verlangsamte seinen Schritt, um an unserer Seite zu gehen, und sagte zu Bauer: »Kann man nie wissen. Außerdem braucht es ja nur ein blöder Zufall sein: Er raucht, und mir passiert ein Unglück, einfach so. Was wird dann mit ihm? Ich will nicht, dass sein Leben wegen so einem Zufall ruiniert ist.«

»Er hat ganz recht«, sagte ich.

Bauer murmelte etwas in seinen Schal hinein.

Emmerich sagte: »Ich kann ihm nicht mit so was drohen. Da ist es doch noch besser, wenn er raucht.«

Bauer hob seinen Schal an und sagte zu Emmerich: »Gib ihm doch gleich deine Ration.«

Er meinte die Zigaretten. Ich hörte Emmerich leise lachen. Nicht sonderlich fröhlich, aber immerhin. Von da an gingen wir wieder schweigend, jeder für sich. Aber Emmerichs Sohn begleitete uns weiterhin. Bauer und ich hatten keine Ahnung, wie er aussah. Emmerich besaß kein Foto von ihm, und wir hatten noch nie gewagt, ihn zu fragen, warum. Vielleicht stand irgendein Aberglaube dahinter.

Während wir geredet hatten, hatte sich der Tag immer weiter entfaltet. Das graue Licht, das er jetzt spendete, würde uns nun bis zum Abend begleiten. Für die Temperatur galt das Gleiche, es würde nicht wärmer werden, auch mittags nicht. Zum Glück war es windstill. Wenn man sich diesen Umstand bewusst machte, von dem Moment an, in dem die Windstille eintrat, konnte man sich geradezu glücklich schätzen. Wir mussten gegenwärtig nur aufpassen, wohin wir unsere Füße setzten, damit sie nicht in der Falle der gefrorenen Radspuren landeten.

Ich behielt deshalb mit stetig gesenkten Augen die Straße im Blick und dachte dabei über alles Mögliche zugleich nach, über den Zufall, das Unglück und Emmerichs Sorgen um seinen geliebten Sohn. Aber wenn ich meinen Blick gehoben hätte, und wenn ich weit genug hätte vorausblicken können, so hätte ich gesehen, wo der Zufall wohnte, der Emmerich treffen würde, und hätte die Brücke in Galizien gesehen. Ich hätte Emmerich gesehen, an einen Pfeiler gelehnt, im anbrechenden galizischen Frühling, mit weit aufgerissenen Augen. Ich hätte gehört, wie er nach Luft rang, während er Blut spuckte, wie er verzweifelt versuchte, mit uns zu sprechen, mit Bauer und mir, die vor ihm knieten und nicht wussten, was tun mit all dem Blut, das ihn erstickte. Wir wussten nicht, wie wir mit ihm sprechen sollten. Wir wussten überhaupt nicht, was wir tun sollten, als hätte das Geschoss auch uns durchschlagen, sodass wir ratlos zurückblieben, vor ihm niederkniend, nutzlos und stumm bis zum Ende.

Ein Wintermahl (eBook)

Подняться наверх