Читать книгу Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli - Страница 12
Оглавление7
Der Tagesanbruch lag bereits weit hinter uns, als wir uns entschlossen, das zu tun, wozu unser Kommandant uns hatte aufbrechen lassen. Vor allem aus Dankbarkeit ihm gegenüber. Wir fühlten uns schuldig, weil wir uns vor den Erschießungen gedrückt hatten. Es war an der Zeit, unsere Schuld zurückzuzahlen. Im Innersten glaubten wir nicht daran, welche zu finden. Nur die Dankbarkeit unserem Kommandanten gegenüber trieb uns an, es zu versuchen.
Graaf kapierte solche Dinge nicht. Er wusste nicht, dass wir uns bemühen konnten. Er dachte, dass wir nur ordentlich arbeiten würden, weil er uns jeden Moment mit einem Schlag auf die Eisenplatte rufen konnte. Aber außer bei den grundlegenden Notwendigkeiten trieben wir quer, und wir suchten immer Wege, um uns zu drücken. Niemals las er in unseren Blicken: »Gib uns ein wenig, und wir werden es dir reichlich vergelten.«
Es wäre keine große Sache gewesen. Aber da Graaf nichts dergleichen sah, gab er auch nichts. Abgesehen von Schlägen auf die Eisenplatte, wegen Bagatellen.
Wir mussten uns in Richtung der Gehölze, der Wälder halten. Im Winter hatten sie nur dort noch die Chance, durchzukommen, und wir die Chance, sie zu finden. In den Häusern der Polen brauchten wir nicht mehr zu suchen; die wenigen, die sich bei ihnen verbargen, hatten wir bereits gefunden.
Zuerst mussten wir also die Straße verlassen, den Traktorspuren folgen und den Wald absuchen. Dort lief man nicht Gefahr, in gefrorenen Wagenspuren auszugleiten, aber man sank bei jedem Schritt in den Schnee ein. Wir würden also weniger balancieren, aber dafür mehr stapfen müssen. Daher hielten wir uns lieber an die Wege. Wenn sie kleine Wälder durchquerten, spähten wir zwischen die Stämme. Wir hielten Ausschau nach Rauch. Manchmal sahen wir uns eine der uns nächstgelegenen Spuren genauer an oder gingen zu einer Stelle, an der wir etwas Auffälliges gesehen hatten, um dann wieder zu unseren eigenen Fußstapfen zurückzukehren. Manchmal gab die Schneekruste nach, und wir gerieten ins Straucheln. Durch den Schnee zu gehen ist keine leichte Sache.
Wir erreichten eine Anhöhe und stießen auf ziemlich deutliche und tiefe Spuren. Sie konnten von der vergangenen Nacht stammen, von der Nacht davor oder noch älter sein. Wie sollte man das genau feststellen? Doch es war ohnehin nicht so wichtig, da sie zu weit wegführten, um ihnen zu folgen. Sie bewegten sich abwärts zu einer ausgedehnten Ebene, kahl und weiß bis zum Horizont. Eine Weile versuchten wir, aus ihnen schlau zu werden, und ließen es wieder sein.
Trotzdem verweilten wir an der Stelle. Es war Zeit für eine Zigarettenpause. Wir legten unsere Handschuhe ab. Wieder der Kampf mit der Kälte. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass sie nicht mehr so streng war. Ich sagte zu Emmerich und Bauer, dass die Kälte offenbar ein wenig nachgelassen habe, dass es vielleicht zwei oder drei Grad wärmer geworden sei. Bauer deutete mit einer trägen Kopfbewegung an, dass etwas dran sein könne.
Wir zogen unsere Handschuhe wieder an und rauchten. Ich wagte nicht, Emmerich anzublicken. Wir waren mit seinem Problem nicht weitergekommen. Ich sah zu Bauer. Er war bis zu den Knien in den Schnee eingesunken, hatte sich auf ein Stück der Schneekruste gesetzt, das seinem Gewicht standhielt, und wandte der Ebene den Rücken zu. Es sah aus, als säße er auf einem Stuhl, dessen Beine im Boden verschwunden waren. Emmerich schließlich wirkte nicht mehr so besorgt wie vorhin. Er hatte den Helm abgenommen. Die straff sitzende Sturmhaube ließ sein Gesicht greisenhaft klein aussehen. Sicher wäre ich ihm ebenfalls älter erschienen, wenn ich meinen Helm abgenommen hätte.
Bauer sagte: »Riskieren wir hier noch etwas anderes, außer dass wir uns die Hände abfrieren?«
Damit spielte er auf Emmerichs Sohn an und unser zurückliegendes Gespräch. Was für eine blöde Idee, diese Sache wieder ins Spiel zu bringen, auch wenn er ihm vielleicht nur helfen wollte. Ich blickte forschend in Emmerichs Gesicht, um zu sehen, ob Bauer ihn mit seiner Äußerung erneut aufgewühlt hatte. Dann gab ich Bauer ein Zeichen, dass es keinen Sinn hätte, noch einmal darauf zurückzukommen. Er deutete mir an, dass er verstanden hätte, und sah sich um. Schließlich kam er auf die Tierspuren zu sprechen, die überall einander kreuzend im Schnee verliefen, und sagte: »Hier muss ja in der Nacht ganz schön was los sein.«
Emmerich murmelte, wobei man ein Lächeln aus seiner Stimme heraushören konnte: »Bei mir ist in der Nacht auch ganz schön was los.«
»Du läufst mitten in der Nacht im Schnee herum?«, fragte Bauer.
»Ja, ein bisschen schon«, erwiderte Emmerich.
Bauer wandte sich um, wies auf die menschlichen Fußspuren, die zur Ebene hinabführten und bis zum Horizont reichten, und fragte: »Also bist du das gewesen?«
In Emmerichs Entgegnung mischte sich erneut ein Lächeln.
»Kann gut sein.«
Dann machte er ein paar heftige Kopfbewegungen. Mit der Sturmhaube sah sein Kopf wirklich komisch aus. Allerdings war der Eindruck von Greisenhaftigkeit durch das Lächeln wieder ein wenig schwächer geworden.
Gerade als Emmerich zum Thema kommen wollte, verlor ich für eine Sekunde den Kopf und vergaß, dass man Träume besser für sich behalten sollte.
»Also, ich bin letzte Nacht Straßenbahn gefahren«, sagte ich.
Emmerich und Bauer sahen mich erst forschend an. Dann fragend.
Ich antwortete: »Ihr auch. Wir sind alle drei Straßenbahn gefahren.«
Bauer schüttelte den Kopf.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Emmerich betrachtete den Himmel.
»Wenn man das machen könnte«, sagte er, »nachts einfach so wegfahren, mit der Straßenbahn. Wir würden irgendwo essen gehen und dann wieder zurückfahren zur Turnhalle und uns schlafen legen.«
Bauer saß immer noch in seinem Schneesessel.
»Wieso sollten wir zur Turnhalle zurückfahren?«, fragte er.
Wir stimmten ihm zu, Emmerich und ich.
Dann sprachen wir nicht mehr davon.
Ich hatte recht gehabt, die Kälte hatte tatsächlich nachgelassen. Wir konnten es spüren, als wir jeder einen Handschuh auszogen, um die Zigarette aufzurauchen. Es tat nicht mehr so weh wie am Ufer des zugefrorenen Teichs.
Emmerich sah jetzt aus, als würde er an meine Straßenbahn denken. Ich hatte keine Ahnung, wohin er damit fuhr. Er fixierte mich, während er an seiner Zigarette zog. Sie war schon so kurz, dass man den Eindruck bekommen konnte, er würde sie mit dem nächsten Zug verschlucken.
Ich versuchte ebenfalls, aus meiner Zigarette herauszuholen, was noch ging, sah Emmerich an und legte in meinen Blick die Botschaft, dass ich ihm meine Straßenbahn überließe, damit er irgendwo essen gehen könne. Klar, dass er nicht kapierte. Ist auch kompliziert, jemandem eine Straßenbahn zu schenken, die gar nicht existiert.
Und wenn ich in diesem Moment wiederum den Blick nach vorne gerichtet hätte, das heißt, wenn es möglich gewesen wäre, bis in das milde Frühjahr in Galizien zu blicken, so hätte ich Emmerich gesehen, an den Brückenpfeiler gelehnt, noch ein Stück mehr gealtert, als er heute mit seiner Sturmhaube aussah. Es gab so gut wie nichts mehr, was Bauer und ich noch tun konnten, und unser Mut bestand allein darin, den Blick nicht abzuwenden, während Emmerich nach Luft rang und spuckte.
In unserer Ratlosigkeit besaßen wir nicht den Mut, ihn zu berühren oder ihn anzusprechen. Als wir uns endlich erhoben, Bauer und ich, begann ein lauer Frühlingsregen zu fallen, den wir auf das Schutzgitter der Brücke auftreffen hörten. Die grauen Vorhänge, die er beiderseits der Brücke niedergehen ließ, sperrten uns mit Emmerich ein, der jetzt tot war, sein Gesicht komplett zerlegt, und ich wusste, dass man nun eigentlich ein Gebet oder so was sprechen musste. Aber Bauer sah mich nur an und ich ihn, weil wir beide nicht mehr wagten, Emmerich anzusehen und all das Blut, das er ausgespuckt hatte, und ich dachte, um mich zu beruhigen, noch lange Zeit, dass das Prasseln des Regens es für uns gesprochen hatte. Denn es war nötig, dass jemand sprach, an jenem Tag in Galizien.