Читать книгу Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli - Страница 8
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Wir gingen ohne Unterlass so weit, bis nichts mehr zu hören war, nicht einmal das Echo der ersten Erschießung. Die Schweinekälte war einstweilen auszuhalten. Einen Augenblick glaubten wir, die Sonne zu sehen, aber es waren nur Scheinwerfer.
Wir bewegten uns nicht abseits der Straßen. Wozu sollten wir jetzt schon damit beginnen? Soeben hatten wir ein polnisches Dorf durchquert, trist wie ein Eisenteller, den man niemals abgewaschen hat. Alles schlief noch, nur ein paar Hühner gackerten irgendwo. Ein Huhn hätte uns ganz gewiss gutgetan, aber wir wollten keine Zeit für die Suche verschwenden.
Endlich sahen wir eine blasse Sonne aufgehen. Sie hatte kaum Kraft, dem Himmel Farbe zu geben. Sie würde uns erst um die Mittagszeit aufwärmen können, aber offen blieb, um wie viel Grad. Der Horizont hellte sich auf, dunkle Konturen schälten sich heraus, doch das war alles. In der Ferne zeichneten sich vertraute Wälder und Hügel ab.
Der anbrechende Tag war wie ein Signal dafür, dass wir einen ungeliebten Ort hinter uns gelassen hatten. Wir legten eine Zigarettenpause ein. Um uns herum nichts als weit ausgedehnte Felder. Der Wind hatte den Schnee zu endlosen, monotonen Wellen geformt, die schon lang im Frost erstarrt waren. Wir blickten uns um und bekamen den Eindruck, uns inmitten eines weißen Meeres zu befinden. Über uns war es dasselbe, ein Stück weiter im Osten ein blasser Schleier vor der Sonne.
Kaum hatten wir unsere Zigaretten angezündet, da brannten unsere Hände auch schon vor Kälte. Wir zogen die Handschuhe wieder an. Es war beschwerlich, mit Handschuhen zu rauchen. Normalerweise beklagte man sich nicht darüber, dass sie so dick gefüttert waren. Aber wenn man rauchte, dann schon.
Es war nichts anderes zu hören als das Knistern unserer Zigaretten, unser Atem, und manchmal stiegen einem von uns Eiskristalle in die Nase. Mit leerem Magen zu rauchen ist längst nicht so angenehm, wie nach dem Essen zu rauchen. Aber dennoch genossen wir diese Zigarette, weil die Sporthalle und Graaf und der Tag, der dort anbrach, hinter uns lagen. Wir waren in der Mitte eines gefrorenen Meeres, alles war hässlich und vom Eis belagert, wir rauchten mit leerem Magen, aber wir fühlten uns in Sicherheit.
Plötzlich sagte Emmerich: »Ich hab Angst, dass er sich das Rauchen angewöhnt. Was nützt es schon, wenn ich ihm sage, er soll es bleiben lassen. Gut, ich kann ihm auch schreiben, dass er es lassen soll, aber wozu? Er wird den Brief einstecken und vergessen, was drinsteht.«
Es war typisch für Emmerich, sich auf diese Art an uns zu wenden. Er hing seinen Gedanken nach, manchmal ziemlich lang, und mittendrin sprach er plötzlich laut aus, was in ihm vorging. Man musste schnell kapieren, worum es ging, quasi während der Fahrt auf seinen Gedankenzug aufspringen. Das kriegten wir nicht immer hin. Diesen Morgen schon. Er hatte noch nicht einmal geendet, da hatten wir bereits kapiert, dass es um seinen Sohn ging. Emmerich dachte nämlich sehr oft an ihn; er war geradezu besessen von allem, was ihn betraf. Wir standen ihm bei, so gut wir konnten. Wann immer er wollte, hörten wir ihm zu. Wenn er nach unserer Meinung fragte, sagten wir sie ihm. Er tat uns leid, weil es keine Kleinigkeit war, zu sehen, wie er sich damit plagte.
Bauer antwortete: »Ist nicht sicher, dass er den Brief einsteckt.«
»Ach, ist nicht sicher?«, sagte Emmerich mit einem dünnen Lächeln. »Und ob er ihn einfach einsteckt.«
»Schreib ihm, dass wir nach Hause zurückkommen«, sagte Bauer, »und dass er den Geruch nicht verbergen kann, wenn er geraucht hat, weil wir ohne Vorankündigung kommen werden.«
Emmerich dachte nach und wiegte dabei den Kopf ein wenig. Es erschloss sich uns nicht, ob er damit Zustimmung oder Zweifel andeuten wollte. Unsere Zigaretten waren fast zu Ende. Um sie ganz aufzurauchen, musste man einen Handschuh wieder ausziehen. Die Finger brannten entweder vor Kälte oder vor Hitze.
Ich sagte zu Emmerich: »Schreib ihm, dass man uns Fronturlaub angekündigt hat. Wir könnten ganz fix an der Reihe sein, von einem Tag auf den andern. Schreib nichts Genaues, schreib nur, dass das irgendwann passieren wird und dass du es sofort riechen wirst, wenn er geraucht hat, sobald du an der Türschwelle bist.«
»Das wird nicht passieren«, sagte Emmerich leise. »Aber er würde auf mich warten, und das wäre auch eine traurige Sache. Abend für Abend wäre er enttäuscht.«
Bauer und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Dann antwortete ich für uns beide: »Also gut, schreib ihm das nicht.«
Emmerich brachte ein schmales Lächeln zustande und legte kurz die Hand auf den Mund. Dann starrte er auf seine Stiefel. Wie gesagt, wir standen ihm bei, so gut wir konnten, aber man kann nicht alles bedenken.
Wir warfen die aufgerauchten Zigarettenstummel weg, zogen unsere Handschuhe wieder an und legten uns die Schals bis unter die Augen um. Damit trat ein längeres Schweigen ein. Wir senkten die Köpfe zur gefrorenen Straße, und jeder von uns ging in Gedanken, wohin er wollte. Wohin Emmerich ging, wusste ich. Bei Bauer dagegen hing es von der Tagesform ab.
Was mich betraf, so ging ich nicht weit. Ich kehrte zur Nacht zurück, zu meiner Straßenbahn. Aber sie kam mir bereits weit entfernt vor, wie das mit Träumen so ist. In nur einer Woche schon läge dieser Traum hier in einem Loch des Vergessens, für immer. Wenn man doch nur in dieses Loch hineintun könnte, was man wollte!