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KAPITEL NEUN

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Quinn hatte sich sein Leben als Aeronaut echt spannender vorgestellt. Die Ausbildung war total langweilig. Anstatt Schusstechnik, Häuserkampf und Sondereinsätze zu üben, mussten sie Gesetze, Verordnungen und Durchführungsanweisungen pauken, nicht zu vergessen die Anwendungsprozeduren. Mann, war das bescheuert. Mit den anderen Kadetten kam Quinn nicht so richtig in Kontakt. Es war, als würde Kirk sie von ihm fernhalten. Überhaupt führte sich Kirk wie der große Chef auf, der herumkommandierte.

Aber heute würde Quinn es allen zeigen. Am Nachmittag war das erste Vincoon-Auswahltraining angesetzt. Cassaio leitete es. Viele hatten sich dazu angemeldet und träumten wohl von einer Karriere als Vincoon-Profi. Auch Lyrah tauchte in Vincoon-Klamotten auf. Kirk schoss schon über den welligen Arenaboden und führte sich auf wie ein Top-Scorer. Quinn streifte die Schutzpads über und schlüpfte in seine Skates. Er hatte immer noch die alten Starglider. Vor drei oder vier Saisons hatten sogar noch Profis damit gespielt, aber jetzt gehörten sie definitiv zum alten Eisen.

Quinn nahm sein rechtes Bein hoch und strich über die drei in einer Linie angeordneten Rollen. Sie klackerten und boten mit ihren altmodischen Kugellagern viel mehr Widerstand als die neuen Modelle, die mit flüssigem Stickstoff die Reibung nahezu auf Null reduzierten. Liebevoll wischte Quinn über die hydraulisch gedämpfte Magnesiumkugel, die vor den drei Rollen angebracht war. Wenn man sich auf die Zehenspitzen drückte, hoben die drei Rollen ab und nur noch diese Kugel berührte den Boden. Der Spieler konnte so in jede beliebige Richtung fahren. Diese überraschenden Richtungswechsel auf der welligen Betonbahn machten Vincoon so schnell und unberechenbar.

Das Spielfeld bestand aus einer 200 mal 80 Meter großen Betonpiste, die mit Wellen versehen wie ein riesiges Waschbrett aussah. An den beiden Enden verjüngte sich das Spielfeld zu einem Halbkreis. Dort stand jeweils ein Karbonmast, der oben in drei Metern Höhe in eine Schale, den Bowl, überging. Ein Treffer mit dem Ball in diese Schale zählte drei Punkte. Er wurde Bowli genannt. Das war gar nicht einfach, denn man konnte vom Spielfeld aus nicht direkt schießen, sondern musste steil nach oben zielen, damit der in einer Kurve herabfallende Ball im Bowl landete. Die Kunst bestand darin, die Flugbahn genau vorherzubestimmen – und das kostete Zeit. Natürlich ließen die Gegner einem Spieler keine Möglichkeit, um in Ruhe zu zielen. Vincoon war ein Spiel mit hartem körperlichen Einsatz und es wurden nur Fouls gepfiffen, wenn Attacken ohne Absicht auf Ballgewinn oder mit unnötiger Härte durchgeführt wurden. Unnötige Härte war in den offiziellen Spielregeln nicht weiter definiert und blieb Auslegungssache der Schiedsrichter. In den letzten Jahren ging der Trend eindeutig dahin, unnötige Härte sehr großzügig auszulegen und es wurde nur bei extrem brutalen Angriffen gepfiffen.

Eine weitere Möglichkeit Punkte zu erzielen, war ein Treffer in den Dish und wurde dementsprechend Dishi genannt. Der Dish war eine rot leuchtende Schüssel von 30 Zentimeter Durchmesser und unterhalb des Bowls am Karbonmast angebracht. Der Dish zeigte leicht nach unten, geneigt in Richtung Spielfeld, und konnte von den meisten Positionen aus direkt getroffen werden. Im ersten Drittel des Spiels brachte ein Dishi einen Punkt. Doch mit Beginn des zweiten Drittels änderte sich das. Jetzt wurde der Dishi entlang des Karbonmastes in unregelmäßigen Bewegungen auf und ab gefahren. Man konnte weder Geschwindigkeit noch Höhe vorhersagen. Ein Treffer war jetzt ungleich schwieriger zu erzielen. Dafür brachte er fünf Punkte und wurde Super-Dishi genannt. Im letzten Drittel schließlich begann sich der Dish zusätzlich um den Karbonmast zu drehen. Gegen Ende des Spiels bewegte sich der Dish so schnell, dass er mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen war. Ein Treffer zählte jetzt 25 Punkte und wurde Hero-Dishi genannt. Auch wenn mit einem Hero-Dishi fast jedes Spiel noch gedreht werden konnte, war der Hero-Dishi in der alltäglichen Spielpraxis kaum von Bedeutung. Weniger als 3 Prozent der erzielten Punkte sämtlicher Profi-Ligen gingen auf das Konto eines Hero-Dishis. Natürlich träumte jeder Vincoon-Spieler davon, wenigstens einmal in seiner Karriere ein Spiel mit einem Hero-Dishi zu gewinnen.

„Quinn, schlaf nicht ein! Komm endlich aufs Spielfeld!“, rief Cassaio und schoss auf seinen Skates an der Bande vorbei.

Quinn schlüpfte in die Trägergurte seines Doubleburner-Accelerators und schnallte ihn auf dem Rücken fest. Links und rechts vom Accelerator hingen die Schläuche mit den beiden Trompeten herab. Quinn ließ die Verschlüsse der Trompeten um seine Unterarme zuschnappen. Die beiden Trompeten ragten jetzt wie eine Verlängerungen seiner Arme über die Hände hinaus. Quinn startete den Accelerator. Die Trompeten vibrierten sanft. Ihr Durchmesser betrug selbst vorne nicht mehr als fünfzehn Zentimeter. Es war Millimeterarbeit, den Ball zu fangen, aber sie boten durch ihr geringes Gewicht und das kompakte Design maximale Beweglichkeit und Quinn war ein ausgezeichneter Fänger. Das leuchtende Flammenmuster, mit dem Quinn seine Trompeten verziert hatte, mochte ein wenig billig wirken, aber mit genau dem gleichen Design hatte Fireboy das Cup-Finale 2036 und 2037 entschieden. Seit seiner Kindheit bewunderte Quinn Fireboy, obwohl dieser seine aktive Karriere längst beendet hatte. Damals revolutionierte Fireboy das Spiel mit seinen schnellen Angriffen aus dem Mittelfeld heraus. Schon als Erstklässler hatte sich Quinn geschworen, niemals ohne Flammenaufkleber zu spielen. Das hatte er durchgezogen, selbst wenn es mittlerweile total uncool aussah. Er stand einfach über solchen Modetrends.

Quinn schob seine Schutzmaske vors Gesicht. Sie ließ nur Atemschlitze für Nase und Mund frei. Der Bereich vor den Augen bestand aus verspiegelten Halbkugeln. Das gab den Spielern das Aussehen monströser Insekten. Aber ohne Maske zu spielen wäre lebensgefährlich.

Über den Spielfeldboden schossen jetzt bestimmt dreißig Spieler. Die meisten kannte er nur vom Sehen. Er stieß sich mit seinen Skates vom Boden ab, sprang über die Bande und landete auf der glatt polierten Betonbahn. Augenblicklich beschleunigte er. Instinktiv glich er die ersten Betonwellen aus. Es fühlte sich verdammt gut an, nach fast einem Monat wieder auf dem Spielfeld zu stehen. Quinn hatte noch nie so glatten Beton unter seinen Skates gefühlt. Die Spielfeldwellen schlugen mit voller Wucht durch. Die Geschwindigkeit war enorm. Quinn wich einem riesigen Verteidiger aus, der sich viel zu langsam bewegte und unbeholfen nach ihm schlug. Und da fühlte Quinn, dass ein Ball auf ihn zuschoss.

„Für dich“, hörte er Lyrah schräg hinter sich rufen. Ihm war nicht klar, ob das eine Einladung oder eine Drohung war. Instinktiv riss Quinn seine Skates herum. Der weiche Gummi der Rollen blieb auf dem glatten Beton so abrupt stehen, dass Quinn fast von den Füßen gerissen wurde. Er reckte seinen linken Arm mit der Fängertrompete nach vorne, richtete ihn auf den Ball. Mit dem unvergleichlichen Schmatzen verschwand der Ball in seiner Fängertrompete.

Quinn drehte sich einmal um sich selbst. Der Ball wurde im Accelerator auf über 200 Stundenkilometer beschleunigt und schoss aus der rechten Trompete, die Quinn jetzt ohne Nachzudenken auf Lyrahs Laufweg ausgerichtet hatte.

„Ist deiner“, schrie er Lyrah zu, sprang über eine Betonwelle und beschleunigte weiter in Richtung Tor.

„Doppelpass“, keuchte Lyrah heiser und servierte ihm den Ball ein weiteres Mal – diesmal noch schneller. Die Geschwindigkeit des Accelerators addierte sich zur Fluggeschwindigkeit des Balls minus der mit 1,8 multiplizierten Bremswirkung der Fängertrompete. Mit drei, vier zielgenauen Pässen waren bis zu 400 Stundenkilometer drin. Das war zumindest rechnerisch möglich und wurde bisweilen bei Profispielen erreicht.

Übermütig ließ sich Quinn nach vorne auf die Magnesiumkugeln kippen. In dem Moment, als der Ball erneut in seiner Fängertrompete verschwand, wurde Quinn scheinbar willenlos herumgerissen und schoss jetzt rückwärts über den Platz, schien die Kontrolle über seine Skates zu verlieren. Quinn raste über eine Betonwelle und hob ab, da er nicht weich genug in den Knien war. Doch bevor es ihn bei der Landung auf dem Betonspielfeld zerlegte, richtete er seine Schusstrompete auf den Dish.

„Zu mir!“, hörte er Kirk brüllen, der eindeutig in der besseren Schussposition war und völlig frei vor dem Karbonmast stand, bereit, den Ball zu versenken.

Quinn lachte nur und feuerte. Der Ball schoss auf den Dish zu.

Quinn landete hart auf dem Beton, überschlug sich dreimal, ehe er liegen blieb. Er sah nicht mehr, wie sein Ball den Dish um mindestens drei Meter verfehlte.

„Idiot“, schimpfte Kirk.

Quinn drückte sich hoch. Mühsam kam er wieder auf seine Füße. Seine rechte Schulter brannte. Sie spielten sich doch nur warm. Warum musste sich Kirk so aufführen?

Cassaio pfiff den Spielzug ab. „Alle zu mir!“, kommandierte er.

Quinn bemühte sich, lässig zu Cassaio zu rollen. Kirk starrte ihn immer noch wütend an.

„Wunderbar, ihr habt euch ordentlich warm gespielt. Quinn, Lyrah euer Doppelpassspiel sah ziemlich gut aus, ordentlich abgestimmt, ein schneller Spielzug. Habt ihr früher schon einmal zusammen gespielt?“

Quinn und Lyrah schüttelten die Köpfe im gleichen Rhythmus, als wäre es abgesprochen.

„Gute Leistung!“

Das Kompliment schmeckte süß wie heiße Schokolade. Quinn grinste Lyrah an. Sie erwiderte seinen Blick. Vielleicht einen Augenblick zu lange.

Da schob Kirk Quinn zur Seite und schimpfte: „Der Torschuss aus dem Mittelfeld war absoluter Mist. Ich stand völlig frei. Warum hast du nicht gepasst?“

Quinn lächelte überlegen. Er, der begnadete Mittelfeldregisseur, hatte es nicht nötig, darauf zu antworten.

„Wie seht ihr das?“, fragte Cassaio und blickte neugierig in die Runde.

Ein Spieler, der bestimmte zwei Köpfe größer war und die typische Verteidigerfigur hatte, sagte: „Klar muss er abgeben. Ein Direktschuss aus dem Mittelfeld geht nur in Ordnung, wenn der Stürmer keine freie Schussposition hat.“

„Korrekt“, sagte Cassaio. „In einem Spiel wäre so ein verunglückter Torschuss ein Grund, den Spieler sofort vom Platz zu nehmen. Natürlich muss der Mittelfeldspieler in dieser Situation zum Stürmer passen.“

Das fühlte sich für Quinn wie ein Ballschuss in den Magen an. Cassaio musste doch wissen, dass Treffer aus dem Mittelfeld schon ganze Turniere entschieden hatten.

„Allesso 2046 und 2047, Timtschick 2043, Burma beim Liga-Cup 2047“, sagte Quinn patzig.

„Da hast du recht“, sagte Cassaio, „aber diesen genialen Treffern stehen Hunderte misslungener Schussversuche aus dem Mittelfeld gegenüber. Und außerdem waren die drei absolute Weltklasse-Spieler.“

Das saß. Quinn war auf das Format eines Freizeitspielers zurechtgestutzt worden. Aber sein Lächeln ließ er sich nicht nehmen, auch wenn es jetzt wahrscheinlich wie schockgefroren aussah. Lyrah zwinkerte ihm aufmunternd zu, als wollte sie ihm sagen: „Quinn, ich halte dich für einen genialen Spieler.“

Ohne eine weitere Diskussion zuzulassen, begann Cassaio mit dem Training. Anstatt zu spielen, ließ Cassaio sie Laufübungen machen: Beschleunigen, abruptes Bremsen, Richtungswechsel, Gliding – wie das kontrolliert unkontrollierte Fahren auf den vorderen Kugeln hieß. So ging das weiter bis zum Ende des Trainings, geschlagene zwei Stunden. Quinn wusste, dass seine Beschleunigungswerte nicht Weltspitze waren, aber dass er von allen Teilnehmern des Auswahltrainings die zweitschlechteste Zeit ablieferte, weit hinter Kirk und Lyrah, verunsicherte ihn doch ein wenig. Dafür lag er beim Gliding ungeschlagen vorne.

Rußatem

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