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KAPITEL VIER

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Am nächsten Morgen saß ich auf einer Metallbank in einem fensterlosen Gang. Hier drinnen war alles mattgrau gedämpft. Selbst die Lampen an der Decke schienen hellgraues Licht zu verströmen. Unsicher blinzelte ich zur Seite. In einen grauen Overall gesteckt hockte dort Amali. Ihre langen Haare, links über dem Ohr ausrasiert, hatte sie zu einem Zopf gebunden. Ihr ungeschminktes Gesicht sah wächsern aus. Ohne die ganze Gothic-Verkleidung wirkte sie so zerbrechlich, als hätte man sie ihres Schutzschildes beraubt.

Um Amalis Hals hing eine Staubmaske mit dem Luftfilter, der wie eine Cremedose aussah. Draußen in den Industrie-Ringen würde er den gröbsten Dreck aus den Lungen fernhalten, aber mehr auch nicht.

Ich wagte nicht, an mir herabzusehen, aber ich fühlte den rauen Stoff eines Overalls kratzig auf meiner Haut.

Gegenüber saßen Ropex und daneben Quinn. Ich erschrak, als ich sein zugeschwollenes Auge sah. Ich hatte ihn nicht verletzen wollen!

Quinn schien durch mich hindurchzusehen. Sein Overall war blaugrau. Selbst darin sah er irgendwie cool aus. Quinn sah immer gut aus. Ich ärgerte mich über diesen bescheuerten Gedanken. Mein Leben wurde gerade auf der Müllhalde von Jaikong abgeladen und ich Idiotin überlegte, wie Quinn aussah.

„Tut mir leid“, murmelte ich zu Quinn hinüber und versuchte, einen Wimpernschlag Aufmerksamkeit aus seinem starren Blick zu erhaschen. Doch er starrte einfach durch mich hindurch, schien mich nicht einmal zu hören.

„Also gut“, murmelte ich, „wenn du unbedingt darauf bestehst.“ Und dann erhob ich meine Stimme und rief in aufdringlicher Lautstärke, brüllte schon fast: „Es tut mir echt leid. Das wollte ich nicht. Ich bin eben ausgerastet. Kannst du mir verzeihen?“

Gelangweilt fuhr Quinn mit seinem Daumen über die Fingerkuppen. Warum sagte er nichts? Er hatte bestimmt noch nie von einem Mädchen eine Ohrfeige bekommen. Verkraftete sein Ego das nicht? Ja, ich hatte seinem aufgeblasenen Jungsego die Luft abgelassen. Das war der Herr nicht gewohnt. Bitte schön, mir auch egal. Sollte er sich doch von den anderen Mädchen anschmachten lassen, dieser Gockel.

„Dann eben nicht“, fauchte ich. Quinn zuckte nicht einmal. Verdammt noch mal, ich war doch nicht durchsichtig.

Plötzlich wurde eine Tür neben mir aufgerissen. Ein Corporal der Aeronauten trat ein. Mit kaltem Blick musterte er uns. „Amali, Kalana, Quinn, Ropex.“

Obwohl er uns nicht aufforderte, standen wir alle auf, auch Quinn.

„Das Ministerium hat euch einen Platz im dritten Industrie-Ring zugewiesen.“

Mit einem Nicken ergab ich mich meinem unabänderlichen Schicksal.

„Es ist eine große Ehre, den Dienst für die Gesellschaft im dritten Industrie-Ring verrichten zu dürfen.“

Ehre, davon würde ich mir nichts kaufen können.

„Im dritten Industrie-Ring werden elektronische Geräte für Jaikong gefertigt. Ohne die Produkte aus dem Dritten würde das Leben in Jaikong stillstehen. Der dritte Industrie-Ring ist von enormer Wichtigkeit. Alle Bewohner Jaikongs blicken ehrfürchtig auf den dritten Industrie-Ring.“

Bullshit. In meinem ganzen Leben hatte ich noch kein einziges Mal ehrfürchtig auf den dritten Industrie-Ring geblickt.

„Jaikongs leistungsfähige Industrie läuft rund um die Uhr. An manchen Tagen ist die Luft außerhalb der Kuppel signifikant belastet, dafür habt ihr Luftfilter erhalten.“

Der Typ deutete auf die Dinger, die uns alle um den Hals baumelten.

„Die Luft im dritten Industrie-Ring ist deutlich besser als im vierten oder fünften. Die meisten Fabriken haben ordentliche Filteranlagen. Im Freien gilt es ein paar einfache Vorsichtsmaßnahmen zu beachten:

1. Bleibt nicht länger draußen, als unbedingt nötig.

2. Geht niemals ohne Filtermasken nach draußen.

3. Das Aerometer zeigt eure tägliche Belastungsdosis an. Solange es den roten Grenzbereich nicht deutlich überschreitet, habt ihr keine akuten Schäden zu befürchten.“

Ich blickte auf mein Handgelenk. Sie hatten mir auch so ein Aerometer umgebunden. Es leuchtete in sattem Dunkelgrün. Klar, hier in Jaikong war die Luft tadellos. Ich vermisste schon jetzt den wunderbar hellgrauen Himmel über der Stadt.

„Jeden Monat erhaltet ihr eine zweistündige Luftkur in Jaikong. Durch gute Arbeitsleistung könnt ihr zusätzliche Erholungsstunden in Jaikong erhalten“, fuhr der Aeronaut fort.

„Was müssen wir dort draußen arbeiten?“, fragte Quinn.

„Jeder ist selbst verantwortlich, eine angemessene Arbeit zu finden. Die lokale Ringverwaltung hilft euch bei der Suche. Sonst noch Fragen?“

Ich sagte nichts, obwohl ich tausend Dinge wissen wollte. Sie konnten uns doch nicht mit diesen dürren Worten hinaus in den Dreck schicken.

Da räusperte sich Ropex und sagte mit zitternder Stimme: „Ich möchte Widerspruch einlegen. Ich zweifle das Ergebnis meiner Abschlussprüfung an.“ Amali nickte, als wollte auch sie ihres anzweifeln.

„Selbstverständlich, das ist euer gutes Recht“, sagte der Aeronaut mit zusammengekniffenen Lippen.

Ropex lächelte zaghaft.

Warum war mir das nicht eingefallen? Ich würde mein Ergebnis auch anzweifeln. An der Theaterakademie warteten sie doch auf mich. Frau Alenkowa hatte immer gesagt, ich hätte außergewöhnliches Talent. Quinn starrte immer noch vor sich hin, als würde ihn das alles nichts angehen.

„Bei der lokalen Ringverwaltung im Dritten kannst du eine formale Beschwerde einreichen und deinen Abschluss amtlich überprüfen lassen. Solltest du ungerecht beurteilt worden sein, wirst du nach Jaikong zurückgeholt. Bei Feststellung eines schlechteren Ergebnisses kann es allerdings passieren, dass du in den vierten oder fünften Industrie-Ring abgeschoben wirst. Es liegt ganz bei dir.“

Ropex starrte den Aeronauten wütend an.

„Es wird Zeit zu gehen“, sagte der Aeronaut, ohne seine Stimme zu heben.

Wie eine Schafherde trieb er uns voran durch einen engen Gang. Quinn ging ganz dicht neben mir. Ich wagte nicht, ihn zu berühren, versuchte aber einen Hauch von seinem Zitronengrasduft zu erhaschen. Der Geruch war verblasst, kaum noch zu erahnen. Warum hatte ich mich nur so megadämlich verhalten? Jahrelang hatte ich Quinn angeschmachtet und ausgerechnet als er mich küssen wollte, hatte ich ihm eine gescheuert. Ich musste unsere Freundschaft wieder kitten! Quinn war mein einziger Lichtstrahl dort draußen. Gemeinsam würden wir es schaffen.

Mit einem Zischen fuhr die Tür am Ende des Gangs auf. Eine Transportkapsel mit schmucklosen Plastikbänken stand bereit. Die Fenster und Türen waren vergittert, als wären wir Schwerverbrecher. Ropex stieg wortlos ein. Amali brach in Tränen aus. Ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Dann ließ sie sich in Ropex’ Arme fallen. Quinn stieg ein, ohne mich ein einziges Mal anzusehen. Er setzte sich auf die vordere Bank. „Jetzt du“, der Aeronaut deutete mit dem Egalisierer auf mich. Zitternd zog ich mich in die Transportkapsel und ließ mich auf den Platz neben Quinn fallen. Unsere Schultern berührten sich. Ich spürte seine Wärme. Irgendwie würden wir zwei es schon schaffen dort draußen. Quinn rückte von mir ab, so weit es der enge Platz erlaubte.

„Die Regierung von Jaikong ist stolz auf euch“, sagte der Aeronaut. Dann schloss sich die Tür der Transportkapsel mit einem Schmatzen.

„Quinn“, flehte ich, „bitte sprich mit mir.“ Es war bestimmt nicht unser erster Streit. Aber irgendwie fühlte sich diesmal alles anders an.

Quinn starrte geradeaus. Ich schielte zu ihm hinüber. Das mit dem Bluterguss tat mir ehrlich leid. Ich hatte mich doch schon entschuldigt. Warum hörte er nicht endlich auf, sich so bockig zu benehmen. Ich schloss den Sicherheitsgurt und wartete auf den sanften Ruck der Transportkapsel.

„Gemeinsam kriegen wir das hin“, hörte ich Ropex sagen. Er streichelte über Amalis Kopf.

So einen Satz hätte ich mir von Quinn auch gewünscht. Ich biss die Zähne zusammen.

Da fuhr mit einem Zischen, ganz unerwartet, die Tür der Transportkapsel wieder auf.

Ein ganzer Trupp Aeronauten stand jetzt davor.

Was wollten die Idioten noch von uns?

„Woodburn, Quinn?“, rief ihr Anführer.

„Ja.“

„Deine Leistungen im Vincoon waren herausragend.“

„Sag ich doch.“

„Du hattest dich für eine Karriere bei den Aeronauten beworben.“

„Jawohl“, Quinn nickte.

„Die Ergebnisse deiner Abschlussprüfung wurden überprüft. Ein Beurteilungsfehler lag vor. Deine tatsächliche Note liegt bei 2,9. Unter Berücksichtigung deiner herausragenden sportlichen Leistungen wirst du in der Aeronauten-Akademie auf Probe aufgenommen. Die Aero-Cadets suchen talentierte Nachwuchsspieler.“

„Nein“, schrie ich. Sie durften uns nicht trennen.

Quinn drückte sich aus dem Sitz und schob sich an mir vorbei. Ein Lächeln flutete sein Gesicht. Mich sah er immer noch nicht an. Seit der ersten Klasse waren wir die besten Freunde gewesen: Quinn, Eno und ich. Die drei Musketiere, die immer zusammenhielten. Das hatten wir uns damals geschworen. Einer für alle, alle für einen.

„Quinn!“, flehte ich. Ich griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich kalt an. Quinn schüttelte mich ab wie ein lästiges Kind, das Sauerstoff schnorren wollte.

„Nein, bitte nicht“, schluchzte ich. „NEIN!“

Mit einem wütenden Fauchen schloss sich die Tür der Transportkapsel hinter Quinn. Diesmal war es endgültig. Die staubigen Scheiben gaben einen letzten Blick auf ihn frei. Dann presste mich der Druck der Beschleunigung unnachgiebig auf die graue Kunststoffbank.

Rußatem

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