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KAPITEL ZEHN
ОглавлениеDie Tage bei Plastic Fantastic verliefen unglaublich eintönig. Die immer gleichen Arbeitshandgriffe gaben mir das Gefühl zu verblöden. Selbst wenn ich wollte, ließ sich mein Gehirn während der Arbeit nicht aktivieren. Es blieb wie ausgeknipst. Mittlerweile musste ich Spielzeugegalisierer montieren. Das war noch langweiliger und ich hasste diese Dinger. Mit den hellblauen Spielzeugrobotern hatte ich mich fast angefreundet. Während meiner Schicht unterhielt ich mich mit den kleinen Kerlen und den einarmigen, den ich als allererstes montiert hatte, trug ich immer bei mir und hütete ihn wie einen Schatz. Mit Plastikegalisierern konnte man sich beim besten Willen nicht unterhalten. Irgendwann, ich schraubte bestimmt seit zehn Tagen diese bescheuerten Egalisierer zusammen, fragte ich Lenket, ob ich nicht etwas anderes montieren könnte. Er schnauzte mich an, ich solle gefälligst meine Aufgabe erledigen und setzte mein Plansoll um zehn Prozent hoch, dieses Arschloch.
Ropex wurde fast jeden Tag von Lenket angeschrien, weil er zu viele Fehler machte. Er vergaß Schrauben einzudrehen, verwechselte Elektroanschlüsse und arbeitete viel zu schlampig. Lenket ließ ihn die Fehler in der Freizeit korrigieren. Richtig grau sah Ropex mittlerweile aus.
Wenn wir frei hatten, aber noch nicht in den Schlafsaal durften, hockten wir meistens im Gemeinschaftsraum und zockten auf dem Computer. Anfangs hatten wir draußen noch Streifzüge unternommen, aber die Luftbelastung war viel zu hoch. Nach ein bis zwei Stunden zeigte das Aerometer irgendetwas zwischen dunkelorange und hellrot an.
„Gewonnen“, grinste Gloria, als sie wieder einmal einen neuen Highscore aufgestellt hatte. Ich hatte keine Lust auf Glorias gute Laune und die Computerspiele fand ich sowieso total bescheuert.
„Ich habe gute Nachrichten“, erklärte Gloria grinsend.
„Ja?“, fragte Amali neugierig.
Ich verzog meinen Mund. Es hatte doch sowieso alles keinen Sinn hier.
„Also …“, begann Gloria.
Da kam Ropex in den Gemeinschaftsraum. Er sah nicht ganz so grau aus wie in den letzten Tagen. Mit Verschwörermiene setzte er sich zu uns an den Tisch. Als würde er das größte Geheimnis von Jaikong darin verbergen, klappte er seine Jacke auf und deutete auf die Innentasche. Ein paar dieser bescheuerten Plastikkäfer, die er montieren musste, lugten heraus.
„Und?“, fragte Amali gelangweilt.
„Ich musste heute meine korrigierten Fehlstücke ins Lager für Fertigprodukte bringen.“
„Na prima. Das wollte ich immer schon machen“, warf ich ironisch ein.
Amali boxte mich in die Seite. „Lass Ropex doch erzählen.“
„Lenket wurde von der Gaschel gerufen und plötzlich war ich ganz alleine im Lager. Da habe ich einen Sack dieser Plastikkäfer mitgehen lassen. Versteht ihr?“
„Was willst du mit denen?“, fragte ich.
Ropex genoss es, dass ich ihn nicht verstand. Er schlug sein Revers wieder zurück und verkündete: „Ab morgen nehme ich zu jeder Schicht ein paar dieser Käfer mit. Falls ich unter meinem Plansoll liege, gebe ich einfach die Geklauten ab und die Sache ist erledigt.“ Erwartungsvoll sah uns Ropex an.
Okay, ich musste zugeben, die Idee war clever.
„Und wenn sie dich dabei erwischen?“, fragte Amali ängstlich.
„Wie sollten sie?“
Gloria grinste immer noch so bescheuert.
„Und was wolltest du erzählen?“, fragte ich Gloria, weil ich wusste, dass sie wie auf glühenden Kohlen saß. „Hast du auch Käfer geklaut?“
„Am Samstagabend eröffnet ein neuer Club.“ Sie strahlte uns an.
„Was für ein Club?“, wollte ich wissen.
„Ein Club eben, mit Drinks, coolen Leute und Cube-Musik.“
„Hier draußen im Dritten?“ Ich konnte nicht glauben, was Gloria da gesagt hatte. Ein Cube-Club. Das wäre echt der Wahnsinn.
„Ist natürlich nicht ganz legal“, flüsterte Gloria und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. „So ein Club würde von der Ringverwaltung nie eine Lizenz bekommen. Also macht er irgendwo heimlich auf.“
„Cool!“ rief ich begeistert.
Und auch Amali brachte so eine Art Lächeln zustande. Zufrieden lehnte sie sich an Ropex.
Die Sache mit dem Club steigerte meine Laune erheblich. Morgen Abend würde es so weit sein. Diesmal machte es mir fast nichts aus, als unsere Schicht begann, und ich Plastikegalisierer montieren musste. Ich dachte die ganze Zeit an den Club. Ich wollte bis zum Morgengrauen durchtanzen. In Jaikong war ich ein einziges Mal mit Quinn in einem Club gewesen. Quinn wollte nicht tanzen, aber wir standen lässig an der Tanzfläche, hörten Musik und sahen uns tief in die Augen. Ich dachte, da wäre etwas ganz besonderes zwischen uns gewesen, aber heute weiß ich, es war ein großer Irrtum.
Als an diesem Tag die Sirene unsere Schicht beendete, fiel mir auf, dass ich siebzehn Egalisierer zu viel zusammengeschraubt hatte, völlig mühelos. So ein Mist, Lenket würde meine Produktionsmenge nach oben setzen. Da kam er schon um die Ecke, zusammen mit der Gaschel. Die beiden patrouillierten von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und sahen sich die Ergebnisse ganz genau an. So hatte ich das noch nie erlebt. Sie schienen etwas zu suchen.
Schnaubend stand die Gaschel hinter mir und schob mich grob zur Seite. Sie nahm einen meiner Spielzeugegalisierer hoch, drehte ihn zwischen den Fingern, öffnete das Batteriefach, um die Seriennummer zu überprüfen. Dann nahm sie den nächsten und übernächsten.
„Die hast du alle heute montiert?“, fragte sie lauernd.
„Klar!“ Ich hatte es geahnt. Sie würden meine Quote erhöhen.
Lenket stand mittlerweile hinter Ropex. Ich sah ihn aus den Augenwinkeln. Käfer für Käfer nahm er hoch, drehte ihn auf den Rücken und kontrollierte die Bauchunterseite des billigen Plastikspielzeugs mit einer Lupe. Ropex sah kalkweiß aus. Nervös trat er von einem Bein aufs andere.
„Hah“, stieß Lenket aus und hielt einen der Plastikkäfer zwischen Daumen und Zeigefinger hoch.
Blitzschnell packte Lenket Ropex am Ohr und zog ihn mit. Ehe er die Halle verließ, drehte Lenket sich noch einmal um und schnauzte: „Aufstellung zum Appell!“ Dann war er mit Ropex im Schlepptau verschwunden.
Frau Gaschel ließ von meinen Spielzeugegalisierern ab und fauchte: „Habt ihr nicht gehört, Aufstellung zum Appell, faules Pack!“
Ich reihte mich rechts neben Amali und Gloria ein. Amali heulte. Keine Ahnung, wie lange wir so stehen mussten.
Irgendwann riss Lenket die Schleusentore auf und verbeugte sich ganz tief. Direktor Bo trat ein, seine Haare glatt an den Kopf gegelt. Er stellte sich breitbeinig auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit unnachgiebigem Blick tastete er uns ab. Das fühlte sich widerlich an.
„Heute ist für mich ein trauriger Tag, ein Tag der Enttäuschung“, begann er.
Wir standen mucksmäuschenstill.
„Ich scheue keine Mühen und Kosten, euch mit ordentlicher Atemluft zu versorgen, die weit über dem gesetzlichen Mindeststandard liegt. Ich kümmere mich um euch, als wären wir eine große Familie. Nein, wir sind eine Familie. Das lebenslange Band eures Arbeitsvertrags schmiedet uns zusammen. Ich kümmere mich um euer Wohlergehen. Niemand muss Hunger leiden, keiner um seine Gesundheit fürchten. Und was ist der Dank dafür?“
Aus den Augenwinkeln sah ich ängstliche Gesichter neben mir. Direktor Bo schnaubte wütend. „Ropex, einer der Neuen, hat mich aufs Widerlichste betrogen. Er hat Waren aus dem Lager gestohlen. Aber damit kommt er bei mir nicht durch. Ja, ich bin großzügig. Ja, ich bin nachsichtig und habe für meine Arbeiter stets ein offenes Ohr. Aber Diebstahl akzeptiere ich nicht. Niemals! Dafür gibt es keine Entschuldigung. Verstanden?“
Wir nickten alle pflichtbewusst. Neben mir reckte Amali ihren Arm hoch.
„Ja, was ist?“
„Herr Direktor Bo, was geschieht mit Ropex?“, fragte Amali unter Tränen.
„Gut, dass du fragst. Der Dieb wird in den fünften Industrie-Ring deportiert und dort Luftfilter reinigen.“
Ein entsetztes Tuscheln ging durch den Raum.
„Ruhe“, brüllte Lenket und Frau Gaschel trat mit einem drohenden Schritt auf uns zu.
„Das dürfen Sie nicht machen“, heulte Amali. Unbarmherzig drehte Frau Gaschel Amalis Arm auf den Rücken. Jetzt gab Amali nur noch ein Winseln von sich.
„Selbstverständlich darf ich euch bei Fehlverhalten in eine meiner Fabriken im Fünften versetzen. Das steht so im Arbeitsvertrag. Habt ihr ihn etwa nicht gelesen?“