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Kapitel 1
ОглавлениеDer Schlüssel dreht sich lautlos im Schloss. Mit einem leisen Klicken öffnet sich die Haustüre. Da er in beiden Armen volle Einkaufstüten trägt, hebelt sich John die Schuhe mit den Füßen von den Versen. Summend schlendert er auf Socken in die große wohnliche Küche und stellt die Einkäufe auf den Tisch. Der Bungalow gefällt ihm wirklich besser als Kenos ursprüngliches Haus.
Den Grundriss bildet ein riesiges ‚L‘. Auf der Längsseite des imaginären Buchstaben gehen vier ziemlich gleichgroße Zimmer ab; gegenüber den Schlafräumen befinden sich die große Wohnküche, ein riesiges Bad und ein Raum, der noch zu einem kleinen Sportzimmer ausgebaut wird. Die abknickende Achse des ‚L‘ bildet das überdimensionale Wohnzimmer, dessen bestimmt sechzig Quadratmeter von den drei Bewohnern gemütlich eingerichtet wurden. Holz und Glas ergänzen sich in vielfacher Weise und finden sich in Regalen, Tischen und den Polstermöbeln wieder. Der Raum ist riesig und strahlt durch den Holzanteil trotzdem ein warmes Ambiente aus. Ungefähr zweitausend Quadratmeter Garten umgeben den Bungalow. Alle Schlafzimmer verfügen über eine große Schiebetüre, die ins Grüne führt. Der Pool muss noch renoviert werden. Im vergangenen Sommer – als sie gerade eingezogen waren – wurde er schmerzlich vermisst, so dass Keno momentan Angebote einholt, um ihn so herzurichten wie sie sich das vorstellen. Noch liegt er neben der neuen Sauna brach.
Alles im Haus wurde frisch renoviert und neu eingerichtet. Nach einem Jahr kann man sagen, sie sind ‚angekommen‘. Hier haben sie selbst zu dritt Platz ohne Ende. Sich aus dem Weg zu gehen, wenn man mal Ruhe haben will, ist kein Problem. Und seine Ruhe will vor allem John öfters haben. Sobald er mit Kevin – seinem Kompagnon in Texas – an Programmierungen herumtüftelt, schließt John einfach seine Zimmertüre und hat Ruhe vor der Drama-Queen oder dem Kleinen.
Diese Ruhe und den Respekt vor seiner geschlossenen Zimmertür musste sich John zwar erkämpfen, doch inzwischen haben es alle kapiert. Türe zu bedeutet: verpisst euch.
Das Leben, das er heute führt, hat sich John immer erträumt. Zwar nicht unbedingt mit einem weiteren Kerl, doch – er zuckt unwillkürlich mit den Schultern – jetzt sind sie eben zu dritt. Und John liebt den Kleinen inzwischen so innig wie Keno.
Während er die Einkäufe wegräumt, denkt John weiter über sein Leben nach. Seit ungefähr einem Jahr wohnen sie gemeinsam in ihrem neuen Zuhause und ihr Miteinander hat sich eingespielt.
John glaubt es selbst kaum und hält es sich jeden Tag aufs Neue vor Augen: sie leben wie eine ganz normale Familie. In seiner Sturm- und Drangzeit hätte er sich niemals träumen lassen, dass diese Form zu leben einmal sein höchstes Ziel sein würde. Doch heute gibt es für ihn nichts Schöneres!
Und das, obwohl Cat in letzter Zeit wieder eine latente Nervosität an den Tag legt. Er wird seine brutale Vergangenheit wohl nie so ganz bewältigen. John seufzt leise. Im Laufe der vergangenen Monate hatte er sich an die weiche und liebevolle Seite seines Chaoten gewöhnt. Nach der Therapie war sein Verhalten recht ausgeglichen. Cat lebte zu Anfang seine S/M-Gelüste intensiv mit Mika aus. Doch sein Drang danach war zurückgegangen. Natürlich konnte Cat Mika noch immer wunderbar dominieren und seine zickige Art – da muss John grinsen – würde wohl niemals ganz verschwinden. Aber er ist nicht mehr derselbe Kerl wie vor Mikas Verschwinden. Einerseits gut, andererseits … ungewohnt, sinniert John. Denn Mika … dessen devote Art törnt mittlerweile auch John mächtig an. Und zwar immer intensiver. Diese Herr-und-Diener-Sache … John hält in seiner Bewegung inne und starrt ein Loch in die Luft, während er nachdenkt. Mika kann so … herausfordernd nachgiebig sein. Wenn er leidet, seufzt und jammert … Fuck … dann merkt man sofort, dass er eigentlich mehr will. Inzwischen ist John längst nicht mehr so zurückhaltend wie zu Beginn ihrer Dreier-Beziehung. Er hat den Dreh ziemlich raus, wenn es um Bestrafungen und geile Zwänge geht. Und er spürt … nein, er weiß ganz genau, dass sich Mika oftmals eine härtere Hand herbeisehnt. Wie gesagt … Keno ist nicht mehr ganz der aufbrausende Top von früher. Nur seine innere Unruhe, die scheint ihn umzutreiben. Momentan ist er ständig auf Achse. Aber ich, denkt John abschließend, bin auch nicht mehr so wie früher. Auch ich spüre zunehmend dieses Verlangen nach dominanten Spielchen. Und ich vermisse die Zeit, als wir fast immer zu dritt Sex hatten. Cat und Mika zu beobachten war einfach heiß. Unser Verhalten hat sich ganz schön geändert. Wir zelebrieren es nicht mehr, wie zu Beginn.
Ein unwilliges Brummen entfährt ihm, während er über Cats momentanes Verhalten nachdenkt. Doch wer ist er schon, seinen Teufel zu verurteilen?! Letztlich war dies immer die Seite an Cat, die John herausgefordert und angemacht hat.
Als alle Einkäufe verstaut sind, greift er nach dem großen Korbtablett und bestückt es mit Saft und Keksen. Außerdem hat er an Mikas Lieblingspudding gedacht. Während sich John das freudige Strahlen des Kleinen vorstellt, lächelt auch er unwillkürlich.
„Von wegen ‚Kleiner‘“, murmelt er und hebt das knisternde Tablett an. Auch Mika hat sich im vergangenen Jahr mächtig verändert. Natürlich steht er auf Unterwerfung beim Sex, doch er ist viel selbstbewusster als früher. Er weiß, was er will und er lässt sich nicht mehr so schnell aus der Bahn werfen. Auch seine Therapie ist abgeschlossen und er scheint an diesem ganzen Prozess gereift zu sein. Kaum flackern seine Ängste auf, hat er sie schon wieder im Griff. Besonders äußerlich gefällt John der blonde Strubbelkopf immer besser. Sie besuchen alle drei regelmäßig das nächstgelegene Fitness-Studio. Die Auswirkungen des Trainings gehen natürlich an Mika nicht spurlos vorüber. Er ist nicht mehr so zierlich. Schlank, ja! Aber zerbrechlich? John schmunzelt. „Nein, Sir!“, grinst er während er Mikas Zimmer ansteuert. Der Kleine strotzt vor Kraft. Seine Muskeln zeichnen sich sexy unter engen Shirts ab und sein Hintern ist noch knackiger als vorher. Ein Umstand, der vor allem Cat schier um den Verstand bringt.
Ja, Mika ist immer mehr Johns ‚Ding‘. Seine Vorliebe für „echte“ Kerle wird ausgesprochen befriedigt. Ihm stehen zwei ausgesprochene Prachtexemplare zur Verfügung. Charakterlich unterscheiden sie sich wie Feuer und Wasser. Er gibt es vor Beiden nicht zu, doch deren unterschiedliches Wesen bringt Johns Verlangen zum Kochen.
Kurz vor Mikas geöffneter Zimmertüre bleibt er lauschend im Flur stehen.
Weint er oder holt er sich einen runter? So ganz kann John die bis auf den Gang zu vernehmenden Geräusche nicht einordnen. Ein Blick ins Zimmer reicht. Mika träumt. Er liegt im Bett, die Wangen vom Fieber gerötet, die Haare verschwitzt. Das Shirt hat er sich mal wieder im Schlaf vom Leib gerissen. Leise jammernd strampelt er unter der Bettdecke herum. Und diesmal törnt John Mikas Wimmern überhaupt nicht an. Ein Alptraum hat den Kleinen im Griff. Schnell stellt er das Tablett auf den Boden und setzt sich zu Mika auf die Bettkante. Sachte berührt er dessen nackte Schulter.
„Hey, Kleiner“, spricht er ihn leise an. „Mika! Wach‘ auf! Alles okay, hörst du?“
Zärtlich streicht er dem verschwitzten jungen Mann einige Strähnen aus der Stirn. John weiß, dass sein nun folgendes panisches Erwachen nicht zu verhindern ist. Es ist nie zu verhindern. Nicht seit Edward.
Mikas Oberkörper katapultiert geradezu in die Senkrechte. Die Arme schnellen abwehrend vor. Das Gesicht verzieht sich zu einer schreckerfüllten Fratze. Er reißt Augen und Mund auf, als würde er ertrinken. Und genauso tief holt er Luft. Doch dieses Mal schreit er nicht die üblichen schreckerfüllten Worte. NEIN! NICHT! Diesmal flüstert er panisch.
„Da kommt er! John … Keno … wo seid ihr“, presst er schreckerfüllt hervor. Sein Gesicht schnellt zur Seite, als er Johns ruhige Stimme vernimmt.
„Schsch, alles gut, Kleiner! Ich bin da und du bist zu Hause!“
„John!!“ stößt Mika befreit hervor und greift mit beiden Händen nach den starken Unterarmen. Selbst durch sein Sweat-Shirt spürt John die heißen Handflächen.
„Wo ist Keno? Ist er auch hier? Oder ist er weg?“ Mikas heißer Atem streift Johns Gesicht, als er sich vorbeugt.
„Da war so ein … Troll. Der hat mich verfolgt und dabei hat er gekichert; so … so unglaublich gehässig.“
John löst sich aus dem fiebrig warmen Klammergriff und schiebt sich neben seinen Patienten aufs Bett. Sein linker Arm macht sich einladend hinter Mika breit. Ohne zu zögern drängt sich der Kleine an ihn. Als John seine rechte Hand auf Mikas Brust legt, spürt er dessen rasendes Herz. Erneut fährt er ihm durch die Haare und verteilt kleine Küsse auf dem feuchten Schopf.
„Alles gut, Kleiner“, murmelt er besänftigend. „Du hast geträumt. Doch jetzt bist du wieder sicher in der Wirklichkeit gelandet. Nichts kann dir mehr passieren, okay?“
Mika atmet hörbar erleichtert auf. „John! Es war furchtbar! Ihr beide wart auf einmal weg und ich konnte euch im Dunkeln nicht wiederfinden. Und dann dieses gehässige Lachen.“ Bei den letzten Worten versagt Mika fast die Stimme.
Johns Rechte reibt inzwischen beruhigend über den zitternden Oberkörper. Der Daumen seiner linken Hand streichelt zärtlich Mikas Oberarm.
„Es war nur ein Traum, Mika. Ein dummer Traum. Du hast immer noch Fieber und da träumt man eben solche Dinge. Doch jetzt ist alles vorbei. Hast du denn daran gedacht, deine Medikamente zu nehmen?“ Mit der letzten Frage versucht er Mika endgültig seinem Drama zu entreißen. Es scheint ihm zu gelingen.
Mika nickt wie ein artiger Junge. „Ja, klar. Ich stell‘ mir sogar den Wecker. Denn wenn ich es vergesse, mault Keno so lange mit mir rum, bis ich wieder höllische Kopfschmerzen bekomme.“
John nickt schmunzelnd. „Ja, ja. Cats penetrante Ader kann auch schon mal ihr Gutes haben!“
Mika entfährt ein keuchendes Lachen. „Allerdings. Eigentlich geht’s mir auch schon viel besser. Ich hab‘ heute viel geschlafen. Doch dann …“
Er beißt sich verlegen auf die Unterlippe. „Tut mir leid, wenn ich mich wie ein Baby benommen hab‘.“
John blickt Mika gespielt böse an. „Ja, noch EIN Mal und ich versohl‘ dir den Hintern, du Weichei!“
Jetzt lacht sein blonder Engel und prompt ändert sich die ganze Atmosphäre im Zimmer. Wenn er lacht, geht die Sonne auf, denkt John und drückt den hustenden Kerl fest an sich.
„Ist gut, ist gut!“, brummt er zärtlich, während sein rechter Arm nach der Saftflasche angelt. „Hier! Trink‘ mal einen Schluck.“
Gierig saugt Mika an dem köstlich frischen Inhalt. Atemlos setzt er nach einer Weile ab. „Wo ist Keno?“, presst er hervor und trinkt erneut.
John verzieht ein wenig den Mund. „Ich vermute mal, dass er mit Jackson rumhängt.“
„Er hängt NUR noch mit Jackson rum!“, mault Mika aufbrausend.
Jackson! Wer kennt ihn nicht in Loewenherz? Der Freizeitmusiker und Lebenskünstler mit den blauen Haaren. Durch seine eigenwillige Art und die schrillen Haare ist er bekannt wie ein bunter Hund. Dass ihre ruhelose extrovertierte Art die beiden einmal zusammenführen würde war zu erwarten. Doch dass sie dermaßen aufeinander abfahren … das hätte selbst John nicht geahnt. Jacksons große Liebe – Luca – ist das genaue Gegenteil. Auch hier sieht John gewisse Parallelen zu sich und Mika. Trotzdem mag er nicht in die gleiche Kerbe wie Mika schlagen.
„Na komm! Jetzt sei nicht unfair!“, versucht John ihn zu beruhigen.
„Unfair?“, protestiert Mika hustend. „Das mit seinem Motorrad-Tick geht ja schon eine ganze Weile so. Doch seit er in Jackson einen Seelenverwandten gefunden hat, befürchte ich wirklich Schlimmeres!!“
Beide blicken sich vielsagend in die Augen.
„Ich sag‘ nur …“ setzt Mika an.
„BMW S 1000 RR“, vollendet John gemeinsam mit ihm den Satz.
„Schneller als ein Laserstrahl.“ Geheimnisvoll zitiert John einen von Kenos Lieblingsvergleichen. „Hundertmal besser als die Agusta …“
„… und tausendmal besser als die Hayabusa“, ergänzt Mika eindringlich.
„Damit fick‘ ich Jackson ins Knie!“, führt John ihr kleines Wortgefecht fort.
„Ins Knie und in seinen fetten Arsch!“ Gespielt hämisch zieht Mika die Mundwinkel nach unten. „Denn die S 1000 RR“, betont er ironisch die Motorradmarke, „ist mein schwarzer Panther, mein Feuerball … mein verfickter Bolide“, beendet Mika krächzend ihren Wortwechsel.
„Fans nennen sie auch ‚Srr‘“, frotzelt John weiter. „Weil sie wie eine Nähmaschine surrt.“
Mika lacht keuchend, bevor er erneut an der Saftflasche nuckelt. Anschließend hält er sie mit beiden Händen auf dem Schoß und knibbelt am Etikett.
„Warum tut er das?“, fragt er nachdenklich.
John lehnt sich an das Kopfende des Bettes und verschränkt die Arme im Nacken.
„Das fragst du mich allen Ernstes?“, frotzelt er. Doch auch er kann nicht ganz verbergen, dass ihm die Vorstellung eines Geschwindigkeitsfanatikers wie Keno auf dieser Maschine ein mulmiges Gefühl beschert. Mehr als mulmig.
„Er tut das, was er immer tut.“
„Nämlich?“, fragt Mika obwohl er die Antwort kennt.
John zuckt einmal mit den Schultern. „Er setzt seinen Willen durch. Du kennst ihn doch. Hat er sich einmal was in den Kopf gesetzt, dann …“ Er beendet den Satz mit einer fahrigen Geste seiner Hand.
Mika nickt leicht; seine Stimme zittert. „Ich wünschte, ich könnte ihn davon abhalten. Ich wünschte …“
„Schsch …“ Erneut nimmt er Mika beruhigend in seine Arme. „Lass‘ ihn. Wenn wir es ignorieren, tobt er sich ein wenig aus und dann verstaubt das gute Teil in der Garage. Es nervt ihn nur, wenn du rumnörgelst und er merkt, dass du dir Sorgen machst. Dann reagiert er noch dickköpfiger.“
Mika seufzt und lässt sich schläfrig gegen Johns Brust sacken.
„Ich wünschte, er würde sich nicht so benehmen. Er war die letzten Monate so anhänglich und schmusig. Daran hab‘ ich mich gewöhnt. Er hat sich geändert.“ Schnurrend schmiegt er sich noch ein wenig näher an den wärmenden Brustkorb. „Nicht immer, aber …“
John grinst, da er genau weiß, was Mika meint. „Ja, das gefällt mir auch!“ pflichtet er dem Kleinen bei. Vor seinem geistigen Auge ziehen etliche nicht jugendfreie Szenen vorüber. Wenn Cat nicht dominieren will, sondern sich hingibt, dann aber mit vollem Einsatz. Oh Mann! Ein Ziehen in Johns Eiern ist die natürliche Reaktion auf sein Kopfkino. Dieser zügellose ungezähmte Kerl … sein emporgereckter Hintern … und dabei der Ausblick auf den tätowierten Rücken. Wenn er dann noch über seine Schulter durch die dunkle Mähne blinzelt, gibt das seinem Geliebten den Rest. John fickt ihn nicht einfach. Er bezwingt ein wildes Tier, das sich nur widerwillig darauf einlässt. Denn so ganz ohne Gegenwehr überlässt sich ihm sein Teufel dann doch nicht. Genüsslich leckt sich John bei dieser Vorstellung die Lippen. Ein wirklich herausfordernder Akt. Er kann ihn noch so oft besteigen – zähmen wird er ihn nie.
„Ich will nicht, dass er wieder so wie früher ist! Er grenzt uns aus! Jackson ist immer wichtiger als wir!“ maunzt Mika erneut und schnieft.
„Er tut alles für dich!“ antwortet John ernst.
„Er denkt nur noch an das bescheuerte Motorrad!“ mault er weiter. Mika ist krank und ungerecht.
„Gestern hattest du fast vierzig Fieber“, übergeht John Mikas Vorwurf. „Als ich abends von meinem Besuch bei Darleen und Ralf zurückkam, stand er vor der Haustüre.“
„Na und?“ schnieft Mika schmollend.
John krault ihm mechanisch den Kopf. „Na ja, es war ja schon sieben Uhr und draußen waren es nur sechs Grad. Cat stand bibbernd vor der Haustüre, wippte von einem Bein auf das andere und hielt die Arme vor der Brust verschränkt.“ John lacht leise auf. „Sogar sein Kopf wippte, als würde er Heavy Metal hören.“
„Und?“ Jetzt ist Mika doch neugierig.
„Und?“ wiederholt John schmunzelnd. „Er stand barfuß in Boxershorts und T-Shirt da.“
„Was?!“ Mika rückt ein Stück zur Seite, um John ins Gesicht sehen zu können. „Er stand bei der Kälte quasi nackt vor der Türe? Und wieso?“
„Das hab‘ ich ihn auch gefragt. Er meinte nur, dass du immer noch Fieber hättest. Ich hab‘ ihn dann gefragt, ob er auch scharf drauf wäre, weil er nur in Shorts in der Kälte rumsteht. Doch er lachte nur einmal auf und erwiderte lapidar ‚Ich geh‘ ihn jetzt kühlen‘. Dann ist er hochgeflitzt und hat sich zu dir ins Bett gelegt. Du weißt es wahrscheinlich nicht mehr, doch du fandst es richtig geil; hast geseufzt und dich an ihn gedrückt.“
John fährt Mika sanft mit einem Zeigefinger über die geröteten Wangen. „Das hat er übrigens noch zweimal gemacht.“
„Du lügst“, antwortet Mika leise, obwohl er genau weiß, dass John niemals lügen würde.
„Sei nicht eifersüchtig auf Jackson und schon gar nicht auf ein blödes Motorrad“, rät er dem verschwitzten Mika, als er sich aus dem Bett stemmt.
Im Türrahmen verschränkt er grinsend die Arme vor der Brust.
„Nimm deine Tabletten und werd‘ gefälligst schnell gesund. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch im Zaum halten kann.“
Mikas schiefes Grinsen spricht Bände.
*
Nachdem John ihn allein gelassen hat, kuschelt sich Mika seufzend in die Kissen. Was würde er nur ohne diesen bodenständigen coolen Typen machen? Er scheint immer im richtigen Moment einen Ratschlag parat zu haben. Immer wenn Mika meint nicht mehr weiter zu wissen, grinst ihn John an und holt ihn mit einer lässigen Bemerkung auf den Boden der Tatsachen zurück. Mika würde es niemals laut zugeben, doch ganz tief in ihm, da … ja, da scheint sich etwas zu verankern. Es beißt sich fest und will nicht mehr loslassen. Bei diesem Etwas handelt es sich um Mikas wachsende Ahnung, dass John … vielleicht … eines Tages … für ihn wichtiger werden könnte als Keno. Aber nein. NEIN! Mika schnalzt unwillig mit der Zunge und buddelt sich murrend noch tiefer in die Kissen. Keno wird immer seine Nummer Eins bleiben. Auch wenn er sich momentan aufführt, als hätten sie nicht diesen ganzen Scheiß mit Edward überstanden; als hätten sie nicht endlich alle Hindernisse für ein sorgloses Leben zu zweit … zu dritt … überwunden. Mika fährt sich mit der Hand über die schmerzende Stirn.
Er benimmt sich so, als hätten wir niemals eine Therapie gemacht. So viele Dinge haben wir besprochen und doch auch verarbeitet … oder? Ich zumindest fand‘ die Gesprächsrunden unheimlich befreiend. Natürlich hab‘ ich geheult wie ein Schlosshund. Ich musste schließlich alles nochmal durchleben. Und Keno … Mika schießen die Tränen in die Augen, als er unwillkürlich an die letzte gemeinsame Sitzung denkt, in der sein Geliebter vor Schmerz zusammenbrach. So verletzlich, so zerstört stammelte er zu Beginn der Stunde seine Erlebnisse hervor. Er schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, während er beide Arme um seine Körpermitte schlang. Sein Blick verlor sich im Nichts. Je länger er sprach, umso lauter und eindringlicher klangen seine gejammerten Worte.
„Sie haben mich gezwungen …“
„Sie haben verlangt …“
„Sie wollten, dass ich …“
„Ich musste …“
So begannen seine Sätze. Und die unbeschreiblichen Dinge, die von ihm verlangt wurden, ließen Keno mehr als einmal innehalten und würgend um Fassung ringen.
In einem Moment klagte er lautstark an, nur um anschließend die nächste Grausamkeit mit hoher erstickter Stimme hervorzupressen. Er hatte nichts mehr von einem Erwachsenen. Da saß ein misshandeltes Geschöpf – hilflos wie ein Kind und ebenso unschuldig. Ein menschliches Wesen – zerstört von Unmenschen, die keine Rücksicht auf die Gefühle anderer nahmen. Monster, die sich ganz nebenbei sein Leben packten; nur so – weil ihnen danach war. Sie haben auf diesem jungen Mann herumgetrampelt, seine Seele zerfetzt. Und als nichts mehr zu zerstören war, machten sie ihn zu ihrem Sklaven.
Mittlerweile laufen Mikas Tränen unaufhörlich. Sein Kopf glüht und pocht im Rhythmus des rasenden Pulses. Er setzt sich auf und greift nach einer Packung Taschentücher neben seinem Bett. Nach dem Naseputzen schluckt er eine weitere Schmerztablette. Ich muss mich beruhigen, ermahnt er sich. So werd‘ ich nie gesund.
Doch das ist leichter gesagt als getan. So oft schon hat Mika ihre Gespräche Revue passieren lassen. Und jedes Mal kommen ihm die Tränen. Leise und unauffällig, denn mit der Zeit verkraftet er diese Gedanken immer besser. Doch emotionslos daran zu denken … das kann er einfach nicht.
Nach dieser Therapiestunde sprach Keno zwei Tage lang kein einziges Wort. In sich versunken saß er in irgendeiner Ecke ihres wunderschönen frisch renovierten Bungalows. Nichts war von seiner aufsässigen, impulsiven Art geblieben. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein toter atmender Schatten.
Einige Tage später beschloss John mit ihm zu reden. Allein. Zwei Stunden verschwanden die beiden in Kenos Zimmer. Mika traute sich nicht zu lauschen. Das war noch nie seine Art. Stattdessen simste und telefonierte er mit David – seinem ewigen Halt. Dessen ruhige und liebevolle Art hielt Mika davon ab, während seiner Wartezeit vollends auszurasten.
Schließlich öffnete sich Kenos Zimmertüre und er verließ blass und verheult vor John den Raum. Als er Mika wie ein Häuflein Elend am Ende des langen Flurs auf dem Boden kauern sah, die Arme um die herangezogenen Beine geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt … wie ein kleiner struppiger Hund, der auf seinen Herrn wartet … da legte sich ein mitfühlendes Lächeln auf Kenos Lippen. Er ging vor Mika in die Hocke und wischte ihm die Tränen von den Wangen.
„Alles okay, Kleiner“, flüsterte er tröstend. „Die Therapie hat mich ein bisschen aus der Bahn geworfen, aber jetzt ist alles wieder gut.“
Ungläubig starrte Mika zu ihm empor. „Wenn du nicht mehr mit mir redest, kannst du mir genauso gut eine Knarre an den Kopf halten. Ich flipp‘ aus, wenn ich nicht weiß, was in dir vorgeht.“
„Ich weiß“, hauchte sein Gegenüber entschuldigend. „Und genau deswegen mach‘ ich ab sofort mit Einzelstunden weiter, Mika. Es fällt mir alles doppelt so schwer, wenn du dabei bist. Ich schaff‘ es so schon kaum, darüber zu reden. Verstehst du das?“
Mika wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. „Ja“, flüsterte er und nickte leicht. „Das versteh‘ ich. Tut mir leid.“
Eine Viertelstunde hockten sie gemeinsam auf dem Boden und umarmten sich. Sie trösteten sich gegenseitig, küssten die schlimmsten Gedanken weg und schworen sich ewige Liebe.
„Ewig“, murmelt Mika kaum hörbar, als seine Kopfschmerzen endlich abklingen und sein Bewusstsein in wohltuend friedlichen Schlaf übergeht.