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Kapitel 3

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Zärtlich … ganz sanft wird Keno zwei Stunden später wachgeküsst. Selbst mit geschlossenen Augen weiß er sofort, dass es sich um Mika handelt, der sich rittlings auf ihn setzt. Immer wieder liebkosen ihn weiche Lippen. Küsse werden auf seine Wangenknochen und die Augenlider gehaucht. Eine freche Zungenspitze tupft kitzelnd Kenos Lippen.

„Mhmm, Knoblauch. Wie lecker!“ ärgert er Mika grinsend.

„Hmhmm“, lacht sein Süßer brummend, während seine Hände über Kenos Arme und den Brustkorb streichen. „Hast du etwa Hunger?“

„Ich sterbe vor Hunger!“

„Na, dein Glück, dass wir dir eine doppelte Portion Nudelauflauf mitgebracht haben!“, schnurrt Mika und schiebt Kenos Shirt hoch, um die harten Brustwarzen zu verwöhnen.

Jetzt öffnet er doch die Augen. Fast gleichzeitig hebt Mika sein Gesicht. Ihre Blicke treffen sich … so intensiv, dass es Keno erschreckt.

„Ich liebe dich“, haucht Mika. Zärtlich fährt er seinem Geliebten mit den Fingerspitzen über die Wangenknochen. „Und wenn du dich noch so bescheuert benimmst. Ich werde dich immer lieben und ich werde jederzeit alles für dich tun!“

„Wowow“, überspielt Keno lachend diese innige Liebeserklärung. „Vielleicht denkst du nochmal darüber nach. Du könntest dich womöglich übernehmen.“

Übergangslos beginnt er Mika zu kitzeln. Dessen Lachen schallt daraufhin durch das ganze Haus. So ärgern sie sich gegenseitig eine Weile, bis Keno eine unbedachte Bewegung mit seinem rechten Fuß macht. Zischend zieht er die Luft durch die Zähne. Sein Gesicht verzieht sich zur Grimasse.

„Fuck! Dieser scheiß Knöchel!“, flucht er aus vollem Herzen.

Erschrocken springt Mika von ihm herunter. Und wie viele in so einer Situation, fragt er überflüssigerweise: „Tut’s weh?“ Mitleidig runzelt er die Stirn.

Keno setzt sich auf und winkt ab. „Ach, kaum!“

„Als würdest du das jemals zugeben!“, brummt Johns tiefe Stimme aus Richtung Zimmertüre. Er schiebt sich hinter Mika und schlingt ganz selbstverständlich seine Arme um den Blonden. Während er ihn sachte wiegt, reibt er – wie ein übergroßer Kater – seine Wange gegen Mikas Schläfe. Und genauso selbstverständlich lehnt sich Mika gegen den starken Körper hinter sich.

Kenos Blick ruht wehleidig und gleichzeitig leer auf dieser Szene. Er lässt sich seine Emotionen nicht anmerken.

Jetzt beginnt John ebenfalls, an Mika herum zu zwicken. Wie unter kleinen Elektroschocks zuckt dieser zusammen, kichert und windet sich. John hingegen grinst Keno breit an.

„Dieser blonde Aal hier wird uns jetzt einen Kaffee machen. Das kann er nämlich sehr gut. Währenddessen seh‘ ich mir mal die Katastrophe an, die du Verband nennst. Okay?“

Gleichzeitig lässt er Mika los.

„Na gut“, seufzt Mika theatralisch und verlässt eilig den Raum. Seine feuchten Augen wischt er schnell mit den Handballen trocken. Er atmet tief durch. Nicht nur die Kitzelattacken haben ihn so mitgenommen. Dass Keno seine Liebeserklärung mit keinem Wort erwidert hat, trifft Mika wie ein Schlag ins Gesicht. Warum benimmt er sich bloß so komisch? Früher hat er mich mit Liebe überschüttet … auch verbal. Und jetzt? Kein Wort. Noch nicht mal ein gemurmeltes „Ich dich auch“.

Mika schluckt schwer. „Ich krieg’s schon noch raus, nur Geduld“, flüstert er auf dem Weg zur Küche.

*

Zwei Tage später ist Wochenende. Absinth – Jacksons bester Kumpel – hütet das Café Bohne. Das hat er schon oft getan, damit sich Mika sorglos auf den vor ihm liegenden Samstag freuen kann. Endlich wollen sie mal wieder was zu dritt unternehmen. Da soll ein neuer Biergarten eröffnet haben. Das Wetter ist freundlich und sonnig bei 22°. Der ideale Tag, um ein kühles Getränk im Grünen zu genießen.

Einen Wermutstropfen hat die Sache allerdings. Als sie vorgestern ihren Kaffee geschlürft und Keno beim Verschlingen des Auflaufs zugesehen hatten, setzte dieser seinen treuesten Dackelblick auf und fragte, ob Jackson und Luca nicht auch mitkommen könnten. Er würde so gerne mit seinem Motorrad fahren. „Echt! Soo gerne!“ Und überhaupt wäre es doch sicher viel amüsanter, wenn sie mit Freunden was unternähmen. Freunde?, hatte Mika gedacht. Unsere Freunde sind sie ja nun nicht gerade. Aber da er den sanftmütigen Luca gut leiden kann und Keno momentan ohne Jackson quasi im Sterben liegt, lenkte er achselzuckend ein. John war sowieso mit allem einverstanden. Doch er konnte es sich nicht verkneifen, Keno zu ärgern.

„Ja, super“, gab er – cool wie immer – zurück. „Luca ist echt niedlich. Wie eine freundliche hübsche Version von dir. Vielleicht könnten Jackson und ich über einen Tausch verhandeln. Was meinst du, Mika?“

Kenos böses Funkeln in den Augen war die ganze Zeit über nicht gewichen. Johns Gelassenheit ist legendär; fast genauso wie seine Fähigkeit, Cat damit auf die Palme zu bringen.

So sitzen sie nun zu dritt in ihrem fetten 5er BMW und warten darauf, dass Keno und Jackson endlich fertig werden. Gefühlte Ewigkeiten zurren und zippen die beiden Biker an irgendwelchen Schnallen herum. Auch ihre Maschinen checken sie immer wieder.

John sitzt hinterm Steuer, Mika fläzt sich auf dem Beifahrersitz und Luca schmiegt sich genüsslich in die Polster der Rückbank. Man könnte ihn tatsächlich mit Keno vergleichen. Seine Haare sind lang und braun, ähnlich wie Kenos. Doch er ist schlanker als dieser. Und seine Gesichtszüge sind feiner. Außerdem hat Luca ein völlig anderes Naturell. Er ist eher von der ruhigen und zurückhaltenden Sorte.

Endlich bekommen Mika und John auch mal Lucas und Jacksons Wohnsitz zu sehen – wenn auch nur von außen. Wirklich ein herrliches Gebäude. Eine typische Vorstadt-Villa. Alles wurde großzügig angelegt. Riesige Fenster und Flügeltüren, die über entsprechend umfangreiche Terrassen in den Garten führen. Garten? Von wegen. Das fällt schon in die Kategorie ‚Park‘. Luca ist die Bewunderung der Beiden ziemlich peinlich. Jackson hat das Haus von seiner Großmutter geerbt. Nach deren Tod beschlossen er und Luca, hier zu leben. Lucas Praxis befindet sich in den unteren Räumen. Sein Ruf als spiritueller Heiler machte in Loewenherz schnell die Runde. Mika hat schon mit einigen Menschen gesprochen, die auf Lucas Fähigkeiten Stein und Bein schwören. Dieser ist dennoch bescheiden und herzlich … solche Charakterzüge gefallen Mika ungemein.

„Wird’s bald mal!“, mault John durch sein geöffnetes Seitenfenster. Grinsend schreitet Cat in voller Montur auf sie zu und beugt sich auf der Fahrerseite zu ihnen herunter.

„Kann sich nur noch um Stunden handeln“, frotzelt er vergnügt. „Fahrt doch schon mal. Wir holen euch locker ein.“

Mit einem schnalzenden Geräusch täuscht John eine Kopfnuss in Kenos Richtung vor. Er setzt sich gerade und startet den Wagen.

„Das ist doch mal ein Wort. Evel Knievel gibt uns sogar einen Vorsprung. Wie gnädig!“ Süffisant verzieht John einen Mundwinkel. „Wir treffen uns am Biergarten!“

Mika hört noch Kenos arrogantes „Ha Ha“, doch da rollt der schwere Wagen bereits Richtung Eingangstor.

„Jetzt hast du was gesagt“, murmelt Mika vorwurfsvoll.

„Dieses Großmaul“, grient John. „Bis die beiden sich frisiert und ihr Tutu anhaben, ziehen wir uns schon ein ‚Kühles Blondes‘ rein.“

„Warum musst du ihn immer so reizen?“, mault Mika zurück.

John tätschelt beruhigend den nervös zappelnden Oberschenkel des Kleinen.

„Weil er nichts anderes erwartet. Wenn ich immer nur nett wäre, dann würde er denken, ich bin krank.“

„Ach soo“, schaltet sich Luca von hinten ein. „So machst du das! Das merk‘ ich mir! Könnte auch bei Jacks funktionieren!“

Sie lachen und flachsen weiter herum, während der BMW wie ein elegantes Flaggschiff über die Autobahn gleitet. Es herrscht kaum Verkehr, so dass sie auch auf der rechten Fahrspur ziemlich schnell vorankommen.

Fünf Minuten später hat John gerade noch Zeit ein „Nicht erschrecken“ hervorzustoßen.

WWWUUMM! WWWUUMM! Wie zwei zornige Hornissen schießen die Motorräder links an ihnen vorbei.

Mika sitzt kerzengerade vor Schreck. Auch Luca beugt sich nervös nach vorne.

„Sind die noch ganz dicht?“, haucht er geschockt.

Innerlich schreit John sämtliche Flüche auf Englisch, die er kennt. Doch nach außen bewahrt er die Fassung und schüttelt lediglich tadelnd den Kopf.

Hundert Meter weiter erkennt man die aufleuchtenden Bremslichter der Motorräder. Sie lassen den Wagen näher kommen. Schließlich wedeln sie spielerisch um den BMW wie, als würden sie mit dem Schwanz wackeln. Schließlich fahren beide Biker nebeneinander vor ihnen her. Lässig stemmt Keno zwischendurch die linke Hand in die Hüfte und wendet seinen Kopf immer wieder Jackson zu.

„Unterhalten die sich etwa?“ Mikas Empörung kennt keine Grenzen. „Die machen ein Kaffeekränzchen mitten auf der Autobahn.“

Doch schon wedeln sie wieder in Schlangenlinien um den BMW herum. Keno vor und Jackson hinter ihnen.

Ohne dass Mika und die anderen darauf geachtet hätten, zieht in diesem Moment ein silberner Porsche Carrera links an der Fahrzeuggruppe vorbei. Keno gibt Jackson daraufhin ein kurzes Zeichen. Er hebt die rechte Hand und lässt den Zeigefinger kreisen. ‚Mir nach‘ soll das wohl bedeuten. Jackson dreht kurz auf und befindet sich im Nu neben Keno. Dann nehmen die beiden Biker die Verfolgung des schnellen Sportwagens auf.

John atmet tief durch. Diese hirnlosen Arschlöcher! Dieser und ähnlich zornige Sätze schießen ihm durch den Kopf, während er ebenfalls Gas gibt, um die Rasenden nicht vollends aus den Augen zu verlieren.

„Was machen die da?!“ Mika ist völlig entsetzt. Er kann nicht fassen, welches Szenario sich vor seinen Augen abspielt. Jetzt erkennt man an der Fahrweise des Porsche, dass der Fahrer verunsichert ist. Jackson bremst bereits ab und zieht auf die rechte Spur. Doch Keno bedrängt ihn sichtlich von hinten.

Die meisten Porsche-Fahrer verfügen naturgemäß über einen relativ dünnen Geduldsfaden. Aber statt einfach Gas zu geben und die lästige Fliege hinter sich zu lassen, als Keno endlich auf die rechte Fahrbahn ausweicht, schert der Wagen kurz zur Seite, als Keno rechts neben ihm fährt. Er weicht instinktiv auf den Standstreifen aus, doch bei einer Geschwindigkeit von bestimmt 190 km/h kann das Verreißen des Lenkers tödlich enden. Einen schrecklichen Moment lang scheint es, als würde Keno die Gewalt über das Motorrad verlieren. Er eiert kurz hin und her. Doch dann fängt er das Bike ab. Böses Hupen begleitet den röhrenden Motor des davonbrausenden Porsche.

John ahnt, dass sich auch Keno mächtig erschrocken hat. Denn statt den Wagen weiter zu jagen, wartet er auf Jackson und zieht mit ihm gemeinsam von dannen. Immer noch zu schnell. Immer noch gefährlich ‚sportlich‘, doch kein Vergleich zu dem soeben vollzogenen Manöver.

Aschfahl im Gesicht starrt Mika den immer kleiner werdenden Krafträdern hinterher.

„Er hätte sich fast umgebracht“, stößt er geschockt hervor. Unter größter Anstrengung löst sich sein Blick von der Fahrbahn. Lucas Miene starrt ihm entsetzt von der Rückbank entgegen, als er sich umdreht.

„Ich hatte ja keine Ahnung …“, keucht Jacksons Freund fassungslos. „Dass sie schnell fahren, … ja. Aber so …“

Mika atmet flach, seine verschwitzten Hände reiben in gleichmäßigen Bewegungen über die Oberschenkel.

„Dem ist scheißegal, ob er dabei drauf geht. Und ihm ist scheißegal, ob wir dabei zusehen. Das ist … ich kann das einfach nicht fassen. Ich glaub‘ nicht was ich da gerade geseh’n hab‘.“

Mikas Krächzen ist geprägt von Fassungslosigkeit. Er ist zutiefst erschüttert.

„Keine Angst, Kleiner!“, versucht ihn John zu beruhigen. „Ist ja alles gut gegangen. Nichts passiert!“ Seine Ruhe lässt ihn wie den sprichwörtlichen Fels in der Brandung wirken. Gott sei Dank!

*

Zehn Minuten später rollt der Wagen über knirschenden Kies auf einen schon ziemlich vollen Parkplatz. Am Ende des Platzes, unter einer großen schattenspendenden Eiche, stehen die Motorräder. Jackson und Keno hampeln wie zwei unter Speed stehende Junkies um die Maschinen herum. Sie lachen übertrieben laut, schubsen sich ständig und fahren sich nervös durch die Haare. Offensichtlich fällt es ihnen schwer, ruhig zu bleiben. Das Adrenalin trieft ihnen aus jeder Pore. John steigt aus und streckt einmal den ganzen Körper durch. Er blinzelt gegen die Sonne. Was für ein schöner Tag.

Mika steigt gleichzeitig mit ihm aus und schafft es gerade noch, zehn Meter in die andere Richtung zu wanken, bevor er sich etwas abseits in ein dichtes Gebüsch übergibt. Seine Nerven sind wirklich nicht die besten. Ein schlimmeres Szenario hätte Keno ihm kaum bieten können.

Luca rauscht wie ein Racheengel an John vorbei und auf Jackson zu. Er packt ihn und zieht den blauhaarigen Punk ein Stück zur Seite. Jacks zieht sofort den Kopf zwischen die Schultern. Wie ein getadelter Schüler lässt er Lucas gefauchte Wut über sich ergehen.

John beobachtet die Szene wie ein Unbeteiligter. Wer ihn nicht kennt, würde sagen, dass er vor sich hinträumt. Schließlich setzt er sich doch in Bewegung. Vor dem zappelnden Keno bleibt er stehen.

„Fuck! Fuck! War das geil, was? Hart am Limit, ziemlich hart. Der Typ in dem Porsche hat ja wohl auch ‘ne Meise, mich einfach so abzudrängen. Hast du das geseh’n? John! War das nicht der Hammer?“

Kenos Stimme klingt unwirklich; viel höher als üblich. Er steht noch total unter dem Eindruck des Erlebten. Bei einem Drogenabhängigen würde man sagen: Er ist noch voll drauf.

Im Hintergrund hört John wie der sonst so sanftmütige Luca rumschreit. „DIR WAR DANACH? IST DAS DEIN ERNST? ICH FRAG DICH WIE DU DARAUF KOMMST SO EINE SCHEISSE ZU BAUEN UND DU LABERST VON ‚MIR WAR DANACH‘??“

Eine sanfte Brise lässt die Blätter des riesigen Baumes rascheln. Ein so friedliches Geräusch. Im Biergarten unterhalten sich murmelnd die Gäste; einige Kinder kreischen, während sie über das riesige Gelände toben.

John legt den Kopf schräg und beobachtet Cat wie ein exotisches Tier. Sein Verhalten ist ungewöhnlich. Er redet nicht; gibt keinen herablassenden Kommentar ab. Wäre Keno nicht so dermaßen damit beschäftigt, rumzuzappeln, um sein Adrenalin abzubauen, würde ihm sofort auffallen, welcher Sturm sich in seinem Gegenüber zusammenbraut. Erst langsam wird ihm Johns absolutes Schweigen bewusst. Doch statt sich zurückzunehmen und den Mund zu halten, stellt er eine Frage. Und genau diese Frage hätte er sich verkneifen sollen. Johns stählernes Nervenkostüm ist legendär. Doch dieses eine Mal ist Kenos arglose Bemerkung genau der Auslöser für John, seine Fassung zu verlieren. Drei Worte.

„Kotzt Bambi etwa?“ Keno reckt den Kopf Richtung Auto und runzelt die Stirn.

Dass er Mika meint ist klar. Und dass er mit diesen drei Worten sein absolutes Unverständnis für Mikas Reaktion ausdrückt ist ebenso unmißverständlich. John versteht die Welt nicht mehr. Warum tut er dem Kleinen das an? Er ist damals fast gestorben, als er versucht hat, Mika zurückzuholen. Wie kann er Mikas Angst einfach so ignorieren? Früher hat er ihn geradezu angebetet. Ich fass‘ es nicht.

John liebt seinen Chaoten, doch er liebt auch das blonde Nervenbündel da drüben, das sich gerade schwankend aufrichtet. Eine Hand presst Mika auf seinen Magen und mit dem Handrücken der anderen wischt er sich über den Mund.

Blanke Wut schießt in Sekundenschelle durch Johns Körper. Eine Millisekunde lang ist er noch gelähmt. Doch dann verliert er den Kampf gegen seine Selbstbeherrschung.

Keno hat gerade noch einen Wimpernschlag Zeit in Johns Richtung zu blicken. Wie eine Stahlramme trifft ihn dessen Faust am Kinn. Keno wird von der Wucht des Schlages nach hinten geworfen. Der breite Baumstamm hindert ihn daran, zu Boden zu gehen. Sein Hinterkopf schlägt hart auf die Rinde, so dass ihm kurz die Sinne schwinden. Alles surrt und dreht sich um ihn herum. Wie dickflüssiges Gift sickert ein Gedanke in sein Bewusstsein. Diese Erkenntnis trifft ihn heftiger als der eigentliche Schlag: Das hat er noch nie gemacht.

Und es stimmt. Sie hatten schon sehr viele Auseinandersetzungen. Manche wirklich unschön. Doch einen so gezielten, harten Schlag mitten ins Gesicht … das gab es noch nie.

Cat tastet automatisch mit einer Hand nach seinem knirschenden Kinn. Mit der anderen stützt er sich auf dem Oberschenkel ab, während warmes Blut von seiner aufgeplatzten Lippe zu Boden tropft.

„John“, haucht er völlig konsterniert. Er versucht so gut es geht geradeaus zu sehen.

John steht vor ihm, nach außen hin immer noch völlig kalt. Seine grau-blauen Augen ruhen starr und scheinbar ungerührt auf Kenos blutverschmiertem Gesicht.

Kenos Knie beginnen zu zittern.

„Ich muss dir … was sagen“, stottert er kaum verständlich.

Sein verzweifelter Blick versucht irgendeinen Funken von Mitgefühl in Johns Augen zu entdecken. Vergeblich.

„Ich will es nicht hören“, erwidert John leise.

„Aber …“ Cats Augen füllen sich mit Tränen. „Ich will dir … erklären. Es tut mir wirklich leid.“ Seine Stimme wird immer leiser, denn John dreht sich einfach um und lässt ihn stehen.

Mika hat sich inzwischen beruhigt und sein Gesicht an einem fröhlich plätschernden Brunnen gesäubert. Er steht am Wagen und blinzelt John entgegen. Den Schlag hat er mitbekommen. Das konnte er wahrlich nicht übersehen. Doch im Moment fehlen Mika einfach die Nerven, sich in das Geschehen einzuschalten.

„Sollen wir fahren?“, bietet John an.

„Was ist mit ihm?“, will Mika wissen und deutet mit dem Kinn in Kenos Richtung.

„Der kommt schon irgendwann. Ich frag‘ mal Luca, ob er auch die Schnauze voll hat.“

„Sollten wir nicht …“ Doch Mika wird jäh unterbrochen, denn in diesem Moment startet mit lautem Dröhnen Cats Maschine. Er gibt Gas und das Hinterrad bricht dabei kurz auf dem Schotter aus. Es dreht eine Sekunde lang durch und lässt die Steine spritzen. Dann verlässt Keno den Parkplatz und rast davon. Fast im gleichen Moment kommt Jackson angerannt, setzt seinen Helm auf und startet ebenfalls sein Motorrad. Wie der Blitz verfolgt er seinen Kumpel.

„Na wunderbar!“, kommentiert John lakonisch. „Glänzender Abgang!“

Auf der gegenüberliegenden Seite des Wagens legt Mika die überkreuzten Arme auf das Wagendach und presst sein Gesicht dagegen. Er zittert am ganzen Körper. John umrundet den BMW und dreht den völlig fertigen Kleinen mit festem Griff zu sich herum. Starke Arme halten ihn. John streichelt Mika beruhigend über den Rücken.

„Was ist nur los mit ihm?“, jammert Mika vorwurfsvoll. „Er bringt sich noch um; ganz bestimmt bringt er sich mit dem Ding jetzt um.“

„Der hat sieben Leben“, brummt John ihm ins Ohr. „So schnell beißt der nicht ins Gras.“

Mika löst sich aus der Umarmung. „Sechs! Jetzt hat er nur noch sechs Leben!“, korrigiert er John und wischt sich die vom kotzen roten wässrigen Augen. In diesem Moment stößt Luca zu ihnen. Auch sein Gesichtsausdruck spricht Bände.

„Fahren wir?“, fragt er mit bitterer Stimme.

Auch er scheint keine Lust mehr auf einen relaxten Tag im Biergarten zu haben.

*

Fast hätte Jackson Kenos Maschine übersehen. Keine zehn Kilometer weiter steht sie vor einer typischen Spießerkneipe, wie es sie zu Tausenden auf den Dörfern gibt. Braun getönte Butzenscheiben, ein dicker Filzvorhang in der Eingangstüre und das ‚DidudummDidudumm‘ eines Spielautomaten begrüßen ihn. Seine engen Lederklamotten und die verschwitzten blauen Haare sorgen für etliche abschätzige Blicke. Vereinzeltes leises Lachen dringt an seine Ohren. Keno sitzt in der hintersten Ecke auf einer Holzbank mit ‚hübschen‘ dunkelgrün gemusterten Polstern. Finster starrt er auf die zerkratzte Tischplatte, während er sich an einem Glas Wasser festhält. Jackson seufzt erleichtert auf.

„Da bist du ja, Mann! Wieso haust du einfach ab? War doch klar, dass die sich alle aufregen würden. Das haben wir doch schon immer gesagt. Wenn wir mal richtig Gas geben, flippen die aus. Deine Worte. Und was hab‘ ich gesagt?“

Kenos Blick verschmilzt geradezu mit seinem Glas. „Is‘ mir egal“, antwortet er murmelnd.

„Genau!“ Jackson lässt sich stöhnend auf den Stuhl gegenüber sinken. Er sucht den Blick des Wirtes.

„Auch ein Wasser!“, ruft er und zeigt dabei auf Kenos Getränk.

„Wasser oder Wodka-Tonic?“, fragt der dicke Mann gelangweilt zurück.

Jackson dreht sich blitzschnell wieder in Kenos Richtung.

„Du besäufst dich hier? Bist du jetzt total durchgeknallt?“

Keine Reaktion. Wie um Jacks zu provozieren, setzt Keno das Glas vorsichtig an seine lädierten Lippen und trinkt es mit vier großen Schlucken aus. Ohne in die Richtung des Wirtes zu blicken, hält er sein leeres Glas hoch und bestellt: „Noch einen!“

„Kommt sofort! – Und du? Was willst du denn jetzt?“

Jackson winkt ungeduldig ab. Er beugt sich flach auf die Tischplatte, um Kenos Blick zu erhaschen.

„Ernsthaft, Alter?“, redet er auf Keno ein. „Du willst dich jetzt besaufen? Hier??“

„Hey“, protestiert der fettleibige Wirt als er Keno einen weiteren Drink vorsetzt. „Wenn’s dir nicht passt, kannst du ja abhauen! Aber lass meine Gäste in Ruhe! Wenn er zahlt und niemanden anpöbelt, kann er so viel trinken wie er will.“

Wortlos greift Keno in seine Jackentasche, fummelt einen Schein hervor – einen Fünfziger – und knallt ihn auf die Tischplatte. Mit der anderen Hand schiebt er den klimpernden Schlüssel seines Bikes in Jacksons Richtung.

„Na bitte!“, kommentiert der Gastwirt zufrieden, greift nach dem Schein und stampft wieder hinter die Theke.

Fassungslos starrt Jackson seinen Kumpel an. „Was soll das?“, redet er weiter auf Keno ein. Trotzdem nimmt er sicherheitshalber den Schlüssel an sich. „Ich mein, okay, John hat dir eine verpasst. Aber solltest du nicht lieber nach Hause und dich …“ Er unterbricht sich als Keno endlich den Blick hebt. Er scheint mit den Gedanken ganz woanders.

„Tu‘ mir einen Gefallen, Jacks und verpiss dich, ja?“

„Aber …“

„Hau‘ einfach ab!“, beendet Keno ihre Konversation. Denn mehr ist ihm nicht zu entlocken. Sein Kopf senkt sich erneut und so bleibt er in der abgetakelten Kneipe sitzen. Stumm und in sich gekehrt.

*

Johns Handy klingelt. Jacks ist dran. Aufgeregt erzählt er von Cats Besäufnis. Seit dieser seinen ersten Drink vernichtet hat ist einige Zeit vergangen. Jackson ist bei ihm geblieben, obwohl kein Wort mehr aus dem sich besaufenden Kumpel herauszubekommen war. Er hat sogar ein Jägerschnitzel mit Pommes bestellt, in der Hoffnung, dass sich Keno davon bedienen würde.

Doch der war lediglich nach einer dreiviertel Stunde aufs Klo gegangen. Als er zurückkam, hat er dem Wirt an der Theke etwas zugemurmelt. Ein weiterer Schein wechselte den Besitzer. Keno stieg auf Wodka pur um. Einige Minuten später stellte der Wirt eine Flasche und einen Eiskübel auf den Tisch. Ein frisches Glas und Knabberzeug folgten.

In diesem Moment wurde Jackson klar, dass er hier alleine nichts ausrichten würde. John musste her … oder Mika. Einer von beiden würde den immer weiter in sich zusammen sinkenden Säufer schon zur Vernunft bringen.

Bis John endlich in der Kneipe eintrifft und vor dem halb auf der Tischplatte liegenden Keno steht, vergeht noch eine ganze Weile. Jackson ist mittlerweile weg und John lässt sich auf den nun freien Stuhl sinken. Er bestellt eine Apfelschorle. Nachdem das orangefarbene perlende Getränk serviert wird, taxiert er die Liebe seines Lebens. Leise spricht er ihn an. Und irgendwie dringt seine tiefe Stimme zu Keno durch. Er hebt den Kopf und versucht diesen gerade zu halten. John weiß, dass er viel verträgt. Den Nullpunkt hat Keno noch nicht erreicht. Gott sei Dank.

John seufzt, bevor er weiterspricht. „Was heute passiert ist, tut mir sehr leid. Niemals hätte ich gedacht, dass du es schaffst, mich so zu provozieren, dass ich dermaßen die Kontrolle verliere. Ich hätte dich nicht schlagen dürfen … auf keinen Fall! Wenn wir soweit in unserer Beziehung sind, dass ich auf dich so reagiere, dann läuft was gewaltig schief. Du hast schon zu viel Prügel eingesteckt, bist von so vielen Menschen gehasst und geschlagen worden …“ Betreten senkt John den Kopf. „Und jetzt schlagen dich auch noch die Menschen, die dich lieben. Das darf einfach nicht passieren!“

„Schon gut!“, fällt Keno ihm nuschelnd ins Wort. Müde winkt er ab. „Das is‘ nich‘ schlimm, okay?“ Er nimmt einen weiteren tiefen Schluck. „Gar nich‘ schlimm!“, betont er, bevor er aufstößt. „Du bis‘ der einzige Mensch, der mich hauen darf. Fast der einzige …“ Er kichert in sich hinein. „Hauen, hehehe, geiles Wort. Hauen. Du darfst mich hauen!“ Kenos ganzer Körper zuckt unter seinem spontanen Lachanfall.

John lächelt traurig. „Warum tust du das dem Kleinen an?“, hakt er nach.

Seine Frage lässt Kenos Gegacker wie auf Knopfdruck verstummen.

„Aaaah“, stöhnt er stattdessen mit nasaler Stimme. „Das …“ Er schenkt sein Glas erneut voll und wirft drei Eiswürfel hinein. „… das weiß ich natürlich selber nicht. Oder … doch! Ich weiß es, aber ich …“ Seine versoffenen glasigen Augen starren voller Schmerz zu John hinüber.

„Ich trau‘ mich nicht, es ihm zu sagen“, flüstert er geheimnisvoll. Und wieder verschwindet ein halber Drink. John lässt ihn gewähren. Aus Erfahrung weiß er, dass es zwecklos ist, Cat zu maßregeln, wenn er so drauf ist … so selbstzerstörerisch.

„Vielleicht ist er erwachsener als du denkst“, gibt John zu bedenken. „Vielleicht sogar erwachsener als du!“

„Bestimmt!“, antwortet sein Gegenüber im Brustton der Überzeugung. „Jaa, er ist verdammt erwachsen geworden. Weiß gar nicht, ob mir das unbedingt gefällt.“

Seufzend lehnt sich John zurück.

„Du wolltest mir was sagen. Dann los! Raus damit. Du hast dir doch wohl inzwischen genug Mut angesoffen. Was liegt dir so schwer auf der Seele, dass du dich fast zu Tode fährst? Was, Cat?“

Keno presst die Lippen aufeinander, dass ein einsamer Tropfen Blut seiner lädierten Lippe vom Mundwinkel Richtung Kinn sickert und schüttelt langsam den Kopf. Wie ein gescholtener Hund senkt er ihn so, dass sein Gesicht halb hinter den Haaren verschwindet.

John packt ihn am Unterarm. „Was, Cat?“, wiederholt er eindringlich.

Leises Schniefen lässt John ahnen, dass einige Barrieren in dem verzweifelten Mann vor ihm zusammen brechen. Und so ist es. Als Cat das nächste Mal empor schaut, sind seine Augen feucht. Er versucht, sich mit einigen weiteren Schlucken Wodka zu beruhigen.

Dann starrt Keno auf die schmelzenden Eiswürfel in seinem Glas. Mit langsamer Bewegung seines Handgelenks lässt er sie sachte kreisen. Das leise Klirren scheint ihn zu hypnotisieren.

„Bevor Jacks und ich hinter euch her gefahren sind, hab‘ ich noch einen Anruf erhalten.“

„Von wem?“

„Von Edwina.“

„Und?“

Jetzt blickt er doch zu John hinüber.

„Er ist wach!“

Mehr muss Cat nicht sagen. John weiß natürlich sofort, von wem die Rede ist.

„Nein!“, entfährt es ihm entsetzt.

„Doch!“, erwidert Keno müde und hört sich an wie ein alter Mann. „Das Gerücht kursiert schon seit längerem, doch nun scheint es amtlich. Er ist wach!“

Entschieden kippt sich Cat den nächsten Drink ein.

„Auch einen?“, fragt er abgeklärt.

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