Читать книгу Die zwei Schwestern von Borneo - Ian Hamilton - Страница 10
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ОглавлениеSIE SCHLIEF UNRUHIG, wurde immer wieder wach mit dem nagenden Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie schaute auf das Benachrichtigungslämpchen des Hoteltelefons. Es blinkte nicht. Sie überprüfte ihr Handy. Keine Sprachnachrichten, keine Textnachrichten. Onkel wird es gutgehen, sagte sie sich. Gegen Mittag wachte sie schließlich auf, und siedend heiß fiel ihr ein, dass sie sich mit May Ling zum Frühstück hatte treffen wollen.
Ava rief ihre Freundin auf dem Handy an. May antwortete beim zweiten Klingeln.
»Wei.«
»Tut mir leid wegen des Frühstücks. Ich bin gerade erst aufgewacht. Ich war bis nach vier bei Onkel im Krankenhaus. Er hatte einen weiteren Anfall.«
»Geht es ihm jetzt wieder gut?«
»Ja, soweit man das in Anbetracht der Umstände sagen kann. Es heißt, er würde heute entlassen.«
»Und geht es dir gut?«
»Ich denke schon.«
»Musst du ihn abholen?«
»Nein, das ist Sonnys Job, und da funkt ihm niemand dazwischen.«
»Dann kannst du dich also mit mir treffen?«
»Sobald ich geduscht habe.«
»Lass dir Zeit. Ich bin noch in meinem Zimmer.«
Ava ließ sich wirklich Zeit. Sie machte sich einen Instantkaffee und trank ihn, während sie die South China Morning Post überflog. Die Hochzeit wurde nicht erwähnt. Der Rechtsanwalt, mit dem sie getanzt hatte, hatte sie auf einige Pressefotografen aufmerksam gemacht. Sie hatte geglaubt, sie kämen von einigen der vielen chinesischen Tageszeitungen in Hongkong.
Sie duschte, entfernte die letzten Spuren ihres Make-ups vom Abend zuvor, putzte sich die Zähne und frottierte ihr Haar. Sie streifte sich ein schwarzes Giordano-T-Shirt über und ihre Adidas-Trainingshose, und plötzlich kam sie sich verloren vor. Michael und Amanda würden hoch in der Luft sein, auf dem Weg zu ihrem einwöchigen Honeymoon auf den Seychellen. Sonny würde zum Krankenhaus fahren, um Onkel abzuholen, und dann würden sie sich auf den Weg nach Schanghai machen. Beide Bezugspersonen ihres Lebens in Hongkong waren fort. Sie rief May Ling an.
»Ich bin so weit.«
»Gut. Ich bin oben in der M Bar und trinke einen Martini.«
»Einen Martini?«
»Ich erkläre es dir gleich.«
Ava fuhr mit dem Fahrstuhl in die fünfundzwanzigste Etage. Sie hatte nicht gewusst, dass die M Bar so früh geöffnet war, aber da saß May Ling allein an einem Tisch mit Blick über den Victoria Harbour. Sie trug schmale schwarze Jeans und einen petrolfarbenen Rollkragenpullover. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und als Ava näher kam, sah sie kleine Falten in Mays Mundwinkeln und Ringe unter ihren Augen. Noch überraschender war ihre besorgte Miene. Avas Erfahrung nach war May Ling eine Frau, die alles spielend bewältigte.
»Tut mir leid, dass ich unser Frühstück verpasst habe«, sagte Ava.
Die beiden Frauen umarmten sich. Ava spürte die Anspannung im Körper ihrer Freundin.
»May, was um alles in der Welt ist los?«
May zuckte die Achseln. »Ist das so offensichtlich?«
»Es ist Mittag, und du trinkst einen Martini.«
»Nun, wir haben ein Problem.«
»Und zwar?«
»Ein geschäftliches Problem.«
Ava setzte sich an den Tisch. Augenblicklich erschien ein Kellner, und sie bestellte sich einen Kaffee.
»Ich dachte, wir reden erst und gehen dann hinüber ins Man Wah und essen Dim Sum«, sagte May und wies auf das Restaurant, das die andere Hälfte des fünfundzwanzigsten Stockwerks einnahm.
»Ja, das klingt gut. Aber ich mache mir Sorgen wegen dieses geschäftlichen Problems. Amanda hat auch schon Andeutungen gemacht, aber sie war der Meinung, es handele sich um eine Sache in Wuhan.«
May fischte eine grüne Olive aus ihrem Martini. »Mit Wuhan hat das nichts zu tun. Es handelt sich um ein Problem mit dem neuen Unternehmen – unserem Unternehmen. Ich habe versucht, es allein zu lösen. Ich meine, Amanda musste sich um ihre Hochzeit kümmern und du dich um Onkel, also dachte ich, ich würde euch beide nicht damit behelligen.«
May Lings Augen ähnelten Onkels. Sie waren von einem so dunklen Braun, dass sie in manchem Licht schwarz aussahen, und wie Onkels Augen hatten sie ihre eigene Sprache. Ava hatte sie erst ein einziges Mal besorgt gesehen, und zwar in jener Nacht in Wuhan, als sie und May sich kennengelernt hatten – als May Ling auf Avas Bett saß und sie anflehte, ihren Fall zu übernehmen. »Erzähl mir, was los ist.«
»Ava, bist du sicher, dass du zu diesem Gespräch imstande bist? Ich weiß ja, dass die letzten Tage dich sehr gefordert haben«, erwiderte May.
Ava zuckte die Schultern. »In den letzten vier Monaten habe ich mir Sorgen um Onkel gemacht und mit Amanda um ihre Hochzeit. Gestern hätte, was die beiden angeht, der schlimmste Tag seit meiner Ankunft werden können, aber wir haben die Hochzeit überstanden und Onkel hat eine weitere Krise überlebt. Und nichts davon – ich spreche von den letzten vier Monaten – hat sich als so quälend erwiesen, wie ich befürchtet hatte. Ich musste meinen Kummer, was Onkel anging, in Schach halten, und ich musste über die Trivialität der Hochzeitsvorbereitungen hinwegsehen. Und beides ist mir einigermaßen gelungen. Also, erzähl, was ist unser Problem?«
»Offiziell ist es noch nicht unser Problem«, erwiderte May und biss in die Olive, den Blick auf den Hafen unter ihnen gerichtet. »Noch hast du dein Geld nicht in das Unternehmen gesteckt, und wenn du hörst, worum es geht, tust du es vielleicht auch nicht mehr.«
»Ach, nun mach mal halblang«, antwortete Ava. »So schlimm kann es doch gar nicht sein.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, und Changxing ist definitiv der Meinung, dass es so schlimm ist.«
»Was hat er damit zu tun?«
May richtete den Blick auf Ava. »Nichts. Jedenfalls nicht direkt. Aber er weiß um das Problem. Ich konnte meine Bestürzung nicht verhehlen, als ich es erfuhr, und als er mich gefragt hat, was los ist, habe ich es ihm erzählt. Ich glaube, meine Besorgnis freut ihn insgeheim. Es bestärkt ihn in seiner Ansicht, dass ich ohne ihn nichts tun kann – oder, besser gesagt, nichts tun sollte.«
»Das verstehe ich nicht.«
May trank ihren Martini aus. »All mein Geld war in unsere gemeinsamen geschäftlichen Unternehmen investiert. Als ich mit dieser Idee für unseren Plan zu ihm kam, war er … Nun, er war irgendwie verständnisvoll und nachsichtig, aber vor allem war er perplex. Er konnte nicht verstehen, warum ich etwas allein mit dir und Amanda machen wollte. Aber ich muss ihm zugutehalten, dass er mir keine Steine in den Weg gelegt hat, als ich hundert Millionen Dollar aus unseren gemeinsamen Unternehmen abziehen wollte, um die neue Firma zu finanzieren, und er berechnet mir keine allzu hohen Zinsen für die fünfzig Millionen, die ich zurückzahlen werde, wenn dein Anteil einfließt. Doch ich glaube, dass er im Grunde seines Herzens möchte, dass ich – dass wir scheitern, damit die Dinge wieder so werden, wie sie immer waren.«
»Und was versuchst du mir zu sagen? Dass wir gescheitert sind?«
»Nein.« Sie schwieg kurz. Dann fuhr sie fort: »Unser neues Unternehmen hat sehr kurz hintereinander Geld in drei Geschäfte investiert. Als Erstes haben wir, wie du ja weißt, Jack Yees Handelsgesellschaft gekauft, weil das der einzige Weg war, Amanda mit ins Boot zu holen. Aber das ist ein etabliertes Unternehmen, das fast von alleine läuft. Wir haben in ein Vertriebsunternehmen in Schanghai investiert, das ich schon eine Zeit lang im Auge hatte. Ich kenne das Ehepaar, dem es gehört, schon seit Jahren, und im Grunde ist die Frau der Kopf des Unternehmens. Der Mann ist vor etwa sechs Monaten gestorben, und jetzt hat die Frau freie Hand zu expandieren. Sie ist mit einem Vorschlag auf mich zugekommen; ich habe ihn an Amanda weitergeleitet, und sie hat gesagt, es sei eine solide Investition. Wir haben der Frau das Kapital gegeben, das sie brauchte, um die Lagerfläche zu erweitern und den Fuhrpark zu modernisieren und zu vergrößern. Es sieht jetzt schon so aus, als würde die Rendite sehr gut sein.
Das Investment, das sich als problematisch erweist, ist das Einzige, in das wir vorab keinen detaillierten Einblick hatten. Es ist ein Familienunternehmen, das hochwertige Möbel aus Palisander, Teak, Rubberwood und Bambus herstellt. Als wir es geprüft haben, gab es vier gleichberechtigte Partner: die beiden Söhne und die beiden Töchter der Gründerfamilie. Die Eltern sind vor einigen Jahren verstorben.« May hielt inne, als der Kellner kam und Ava ihren Kaffee servierte.
»Noch einen Martini, Madam Wong?«, fragte er.
May Ling sah auf ihr leeres Glas und lächelte Ava kurz an. »Nein, danke«, antwortete sie.
Ava trank einen Schluck Kaffee. »Wie sind die Geschwister auf uns gekommen?«
»Über Amanda. Es war ihr Projekt. Sie war mit der jüngeren der beiden Schwestern auf der Business School.«
»Kein Wunder, dass du das vor der Hochzeit nicht mit ihr besprechen wolltest«, sagte Ava.
»Es hätte ihr womöglich den Tag verdorben.«
Und wäre womöglich ein schlechtes Omen für die Ehe gewesen, dachte Ava. »Aber May, willst du damit andeuten, dass Amanda vielleicht nachlässig gewesen ist?«
»Nein, das ist nicht Amandas Schuld, glaub mir. Sie hat alles mit der gebührenden Sorgfalt geprüft, und ich selbst habe mir die Unterlagen ebenfalls angesehen.«
»Warum aber haben wir dann ein Problem, und wie konnte sich das so schnell entwickeln? Ich meine, wie alt ist unser Investment?«
»Vier Monate.«
»Du liebe Güte.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber die Sache ist die: Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass wir von Anfang an hintergangen worden sind.«
»Was heißt das? Dass die Familie uns betrogen hat?«
May schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so einfach.«
»Sondern?«
May starrte hinaus über den Hafen; in dem weichen Deckenlicht erschien ihr Profil jung und verletzlich. »Ich glaube, dass die beiden Brüder versuchen, uns über den Tisch zu ziehen«, sagte sie dann und wandte sich wieder Ava zu.
Ava trank von ihrem Kaffee. Ihre Müdigkeit begann sich zu verflüchtigen. »Die Schwestern nicht?«
»Nein.«
»Wie kommst du zu dem Schluss?«
»Die Brüder sind Taugenichtse – beide.«
»Das erklärt nichts.«
»Entschuldige, es macht mich wütend, wenn ich nur an sie denke.«
»Ich höre.«
May starrte auf ihr leeres Glas. »Die Eltern haben die Firma aus dem Nichts aufgebaut. Anfangs haben sie Holz nach Übersee exportiert und sich dann den Weg in die Möbelproduktion erschlossen. Die Söhne und die ältere Tochter – sie heißt Ah-Pei – sind gleich nach der High School in die Firma eingetreten. Ah-Pei ist die Einzige, die wirklich gearbeitet hat. Die Brüder, Tambi und Mamat, waren in Verkauf und Marketing tätig, aber das heißt nichts weiter, als dass sie Handelsmessen besucht, mit Käufern getrunken und genügend von ihnen bestochen haben, um die Verkaufszahlen zu steigern. Die eigentliche Arbeit – alles, was mit Finanzen, Verwaltung, Einkauf und Produktion zu tun hat – wurde von den Eltern und nach und nach von Ah-Pei erledigt. Sie alle haben sieben Tage die Woche gearbeitet, und zwar rund um die Uhr – du kennst die Art von Menschen, von denen ich rede. Ah-Pei hat nie geheiratet – das Unternehmen war ihr Leben. Die beiden Söhne jedoch haben geheiratet und waren dann mehr damit beschäftigt, ihre Frauen bei Laune zu halten, als Zeit in der Firma zu verbringen.
Als das Unternehmen wuchs, wurde es zunehmend komplexer, und Ah-Pei und ihre Eltern fanden, dass Chi-Tze, die jüngere Tochter, eine entsprechende Ausbildung absolvieren sollte, um sie zu unterstützen. Sie schickten sie nach Melbourne, wo sie ihren Bachelor in Betriebswirtschaft machte. Sie war so gut, dass sie anschließend noch in die USA ging, um einen MBA zu erwerben, und dort lernte sie Amanda kennen.
Ihre Eltern sind, wie gesagt, vor einigen Jahren gestorben, und die vier Kinder haben das Unternehmen zu gleichen Teilen geerbt. Zu der Zeit hatte Chi-Tze ihr Studium bereits abgeschlossen und arbeitete mit ihrer Schwester zusammen. Tambi und Mamat taten, was sie immer taten: so wenig wie möglich für so viel Geld wie möglich. Ah-Pei kannte das nicht anders, und um die Wahrheit zu sagen, scheint sie ein wenig altmodisch zu sein, was ihre Beziehung mit den männlichen Mitgliedern ihrer Familie angeht. Aber Chi-Tze war nicht so tolerant. Sie beschloss, die Brüder aus dem Unternehmen zu entfernen, und mit der zaghaften Zustimmung ihrer Schwester nutzte sie ihre Kontakte von der Wirtschaftsuni, um zu sehen, ob jemand Interesse hätte zu investieren. Amanda stand auf ihrer Liste.«
»Wie sah unser Investment aus?«
»Es war zweistufig. Nach Amandas Einschätzung belief sich der Unternehmenswert auf gut sechzig Millionen US-Dollar. Ich hielt ihre Einschätzung für fast ein wenig zu niedrig und muss sagen, dass ich über ihren konservativen Ansatz erfreut war. Wir haben also ein Angebot über fünfundzwanzig Millionen für fünfzig Prozent des Unternehmens gemacht und den Deal so strukturiert, dass die Brüder mit fünfzehn Millionen abgefunden und die restlichen zehn Millionen dem Betriebskapital zugeschlagen werden sollten. Damit haben wir im Grunde nur fünfzehn Millionen für den Kauf des halben Unternehmens geboten.
Wir sind natürlich davon ausgegangen, dass die Brüder mit den Schwestern feilschen und die Frauen sich mit einem Gegenangebot melden würden, aber das passierte nicht. Amandas Meinung nach waren die Schwestern wohl einfach nur erpicht darauf, Mamat und Tambi endlich loszuwerden, und die Brüder waren ebenso erpicht darauf, einen Batzen Geld in die Hände zu kriegen.«
»Das sieht doch erst mal nach einem guten Deal für uns aus.«
»Nicht wahr?«
»Was ist dann schiefgegangen?«
»Ein Kunde in den Niederlanden.«
»Ein einziger Kunde?«
»Ja, aber der bei Weitem Größte. Im Nachhinein betrachtet viel zu groß für das Gedeihen des Unternehmens.«
»Was ist das Problem mit ihm?«
»Er hat Insolvenz angemeldet«, erwiderte May.
Ava hatte, ohne es wirklich zu merken, ihren Kaffee ausgetrunken. Sie brauchte einen zweiten und hielt nach dem Kellner Ausschau. Er stand in der Nähe und hielt seine Aufmerksamkeit auf ihren Tisch gerichtet. Alle hier im Hotel wussten, wer May Ling war, und inzwischen war ihnen auch Ava bekannt. Ava wies auf ihre Tasse. Er nickte und schaute dann May Ling an. Sie seufzte. »Was soll’s«, meinte sie und bestellte sich einen weiteren Martini.
»Wie viel schulden sie uns?«, fragte Ava.
»Ihre Verbindlichkeiten belaufen sich auf annähernd dreißig Millionen Dollar. Unsere Produktionskosten betragen zwanzig Millionen – wenn wir die bekämen, hätten wir zumindest die Kosten gedeckt. Doch soweit ich weiß, stehen die gesamten dreißig Millionen noch aus.«
Ava lehnte sich überrascht zurück. »Wie konnte das passieren? Ich meine, wie konnten sie sich derart übernehmen? Gibt es denn nicht zumindest Akkreditive?«
»Das habe ich in der vergangenen Woche versucht herauszufinden, und deshalb glaube ich, dass die Brüder uns übers Ohr hauen wollen – entweder allein oder gemeinsam mit den Niederländern.«
»Wie ist das möglich? Ich dachte, ihr hättet sie aus dem Unternehmen entfernt.«
»Manches ist nur eine Vermutung meinerseits, aber lass mich erzählen, was ich weiß, und dann sag du mir, was du denkst.«
Der Kellner erschien und servierte ihnen ihre Getränke. Währenddessen überdachte Ava die Zahlen. Das Resultat gefiel ihr nicht, selbst wenn sie einen Teil der dreißig Millionen retten konnten.
Ava hob ihre Tasse und prostete May zu. »Cheers!«
May warf ihr einen Blick zu, der ausdrücken mochte, dass sie Avas Geste für Sarkasmus hielt. Dann lächelte Ava, und May erwiderte ihr Lächeln, wenn auch ohne Begeisterung.
»Ich höre«, sagte Ava dann.
Mays Blick verdunkelte sich. »Wie ich bereits sagte, waren Tambi und Mamat für Marketing und Verkauf zuständig. Dieser niederländische Kunde – der die Produkte in ganz Europa vermarktet – hat seit vielen Jahren Möbel von der Familie gekauft und seine Rechnungen stets vollständig und für gewöhnlich pünktlich bezahlt. Am Anfang der Geschäftsbeziehung wurden immer Akkreditive vereinbart, aber im Laufe der Jahre entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis. Das Unternehmen räumte dem Käufer gute Zahlungsbedingungen ein und bestand nicht mehr auf Akkreditiven.«
»Waren die Brüder mit der Finanzierung befasst?«
»Nicht direkt. Ah-Pei hingegen musste die Vereinbarungen auf jeden Fall absegnen. Ich kann mir bloß vorstellen, dass die Brüder sie dazu überredet haben, und außerdem zeigte die niederländische Firma wie gesagt ein gutes Zahlungsverhalten. Aber Tambi und Mamat sind diejenigen, die den Kontakt zum Einkäufer hatten. Sie trafen ihn zwei-, dreimal im Jahr in Holland oder in dem Unternehmen in Borneo, um die Bestellungen aufzunehmen. Aber – und das ist ein großes Aber – im vergangenen Oktober, nachdem wir unseren Deal mit Ah-Pei und Chi-Tze abgeschlossen hatten, die Brüder jedoch noch nicht offiziell aus dem Unternehmen ausgeschieden waren, trafen diese sich mit dem holländischen Einkäufer und handelten eine riesige Bestellung aus. Der niederländische Kunde erwarb nahezu den gesamten Lagerbestand und orderte mehrere Container noch herzustellender Produkte.«
»Und die Schwestern fanden das nicht merkwürdig?«
»Ich glaube, sie waren nur froh, die Brüder loszuwerden, und außerdem war ihnen, wie gesagt, die holländische Firma seit langem bekannt. Das glaubten sie zumindest.«
»Mamat und Tambi waren also autorisiert, einen so umfangreichen Deal abzuschließen?«
»Sie waren immer noch Teilhaber und Geschäftsführer des Unternehmens, auch wenn sie Ah-Peis Unterschrift brauchten. Das Problem ist, dass Ah-Pei das Kleingedruckte erst zwei Wochen nach dem offiziellen Ausscheiden der Brüder gelesen hat.«
»Das Kleingedruckte … Wie übel war der Deal?«
»Die Bedingungen waren absurd. Das Datum der Nettofälligkeit war fünfundvierzig Tage, nachdem das Produkt in den Niederlanden eingetroffen war. Rechnet man dreißig Tage für den Versand hinzu, hieß das, dass mindestens fünfundsiebzig Tage verstrichen, ehe Geld in die Kasse kam.«
»Und es wurde tatsächlich so viel Ware so schnell versandt?«
»Sie haben das Lager geräumt. Innerhalb weniger Wochen war alles verpackt und auf dem Versandweg.«
»Die Frauen müssen doch gemerkt haben, dass ihr Cash-Flow sich enorm verschlechtern würde.«
»Ja, das haben sie gemerkt. Deshalb hat Chi-Tze in den Niederlanden angerufen und erklärt, dass sie auf eine schnellere Zahlung angewiesen seien. Sie hat den Holländern sogar zwei Prozent Skonto angeboten, wenn sie innerhalb von zehn Tagen zahlten.«
»Was haben die Holländer gesagt?«
»Dass sie sich bei ihr melden würden. Was sie nicht getan haben. Die Schwestern haben sie erneut angerufen. Niemand in der Firma war für sie zu sprechen. Einen Monat später erhielten sie ein Einschreiben von einem niederländischen Wirtschaftsprüfungsunternehmen, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass der Importeur pleite sei und sie als ein ungesicherter Gläubiger gelistet seien.«
»Ein ungesicherter Gläubiger?«
»Ja, und das ist noch nicht das Schlimmste«, erwiderte May und betrachtete ihren Martini. Mit einem Seufzen schob sie ihn von sich. »Ich hätte den nicht bestellen sollen. Das hilft auch nicht.«
»Wie schlimm wird es denn noch?«, fragte Ava.
»Nun, nachdem sich die beiden Frauen bei mir gemeldet haben, habe ich meinen Anwalt auf die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft angesetzt. Er arbeitet mit einer Kanzlei in Großbritannien zusammen, und nach einigem Hin und Her zwischen Großbritannien und den Niederlanden haben die Londoner Anwälte meinen Anwalt davon in Kenntnis gesetzt, dass nach niederländischem Recht einzig gesicherte Gläubiger über wirksame Rechte und die Mittel verfügen, den Insolvenzantrag zu umgehen und die Vermögenswerte in Besitz zu nehmen. Und genau das ist passiert. Ein gesicherter Gläubiger – augenscheinlich ein Finanzunternehmen – hat sämtliche Vermögenswerte des niederländischen Unternehmens an sich gebracht. Und das schließt unsere Möbel ein.«
»Alle?«
»Alle.«
»Sie werden sie verkaufen.«
»Natürlich. So schnell wie möglich – sie sind schon dabei. Sie interessieren sich nur für das Geld, das man ihnen schuldet. Der tatsächliche Wert der Möbel ist ihnen völlig egal.«
»Wie hoch sind die Forderungen des gesicherten Gläubigers?«
»Den Unterlagen des Insolvenzverwalters zufolge ungefähr fünfzehn Millionen Euro – das sind knapp über zwanzig Millionen US-Dollar.«
»Und unsere Forderungen an den Importeur belaufen sich auf über dreißig Millionen Dollar?«
»Richtig.«
»Das heißt, sie können die Möbel verramschen und dennoch ihren Schnitt machen.«
»Insbesondere wenn du noch die normale Großhandelsspanne berücksichtigst. Chi-Tze meinte, der niederländische Importeur hätte die für dreißig Millionen Dollar eingekauften Möbel normalerweise für mindestens vierzig Millionen verkauft.«
»Der gesicherte Gläubiger kann sie also zum halben Preis verkaufen und bekommt seine Forderungen immer noch zu hundert Prozent erfüllt.«
»So ist es.«
»Der Insolvenzverwalter kann nichts dagegen unternehmen?«
»Er kann den Verkauf überwachen – sie sind verpflichtet, ihm Bericht zu erstatten –, und wenn der Erlös zwanzig Millionen Dollar übersteigt, kann er den Überschuss an die anderen Gläubiger verteilen, von denen keiner gesichert ist.«
Ava schwieg. Dann fragte sie: »Und wir können nichts tun?«
»In zwei Tagen, also am Dienstag, findet in Amsterdam eine Gläubigerversammlung statt. Ich dachte, ich treffe mich mit den beiden Schwestern und fliege dann nach Amsterdam, um an der Versammlung teilzunehmen. Ich würde gern wissen, wer hinter diesem Finanzunternehmen steckt und was für eine Vereinbarung sie mit der Importfirma hatten.«
»Glaubst du, dass es eine Absprache zwischen ihnen gibt?«
»Glauben kann ich viel, aber ich habe keinen Beweis dafür, dass Mamat und Tambi einen krummen Deal mit der Importfirma abgeschlossen haben oder dass der Importeur und das Finanzunternehmen unter einer Decke stecken oder dass alle drei zusammen geplant haben, uns über den Tisch zu ziehen. Ich weiß nur, dass die Sache zum Himmel stinkt. Der Bankrott der Importfirma kam einfach zu schnell und zu gelegen, während sie ihr Lager voller unbezahlter Ware hatten.«
»Es klingt, als sei eine Reise in die Niederlande unumgänglich.«
»Ja.«
»Aber der Terminplan erscheint mir viel zu eng. Kannst du dich wirklich mit den Schwestern treffen und dennoch rechtzeitig in Amsterdam sein?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete May langsam. »Am liebsten würde ich dich bitten, uns in Europa zu vertreten.« Sie sah Ava kurz an und wandte den Blick dann wieder ab. »Du bist diejenige, die Erfahrung darin hat, solchen Dingen auf den Grund zu gehen, und du sprichst viel besser Englisch als ich. Aber ich weiß, dass du Onkel nicht gern allein lässt, und wenn es dir nicht möglich ist, dann kann ich das verstehen.«
Ava zögerte.
»Ich würde es dir auch nicht verübeln, wenn du es dir anders überlegst, was deine Teilhaberschaft angeht.«
Ava senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam. »May, du missverstehst mich. Ich denke nur an Onkel und die Zeit, die ihm noch bleibt. Was das Geld angeht, habe ich dir mein Wort gegeben. Nichts von dem, was du mir erzählt hast, ändert meine Zusage zu unserer Geschäftspartnerschaft.«
»Für mich schon. Ich finde es schwierig, von dir zu erwarten, dass du fünfzig Millionen in unser Unternehmen steckst und dass du ein Viertel davon verlierst, kaum dass die Tinte auf unserer Vereinbarung trocken ist.«
»Ich habe dir mein Wort gegeben.«
»Und ich gebe dir die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen.«
»Nein, ich mache keinen Rückzieher«, entgegnete Ava und schob ihre Hand über den Tisch.
May ergriff sie und drückte sie. »Danke. Aber anbieten musste ich es dir.«
»Nachdem du das nun zwei Mal getan hast, lass uns bitte nicht mehr davon reden.«
»In Ordnung.«
»Außerdem denke ich, dass ich nach Amsterdam fliegen könnte.«
»Und was ist mit Onkel?«
»Er und Sonny wollen für drei oder vier Tage nach Schanghai, also werde ich hier nicht gebraucht.«
»Onkel ist in der Lage zu reisen?«
»Sein Arzt hat ihm grünes Licht gegeben.«
May lächelte. »Das klingt besser, als ich zu hoffen gewagt habe.«
»Es löst unser Problem jedoch noch nicht. Sag, was gedenkst du im Hinblick auf die Schwestern und das Unternehmen zu tun? Die beiden müssen am Boden zerstört sein, und wie hält sich die Firma bei diesem drastischen Liquiditätsengpass über Wasser?«
»Ich hoffe, die Schwestern beruhigen zu können.«
»Und was ist mit dem Unternehmen? Ist es zu retten?«
»Vielleicht. Wir werden Geld reinstecken müssen, und ich muss mit ihnen über die Bedingungen verhandeln. Ich denke außerdem, dass wir Amanda hinschicken müssen, sobald sie aus den Flitterwochen zurück ist. Sie wird einen stabilisierenden Einfluss auf die beiden haben, und ehrlich gesagt ist mir wohler, wenn ich weiß, dass sie ein Auge auf unser Geld hat – sowohl auf die alte Einlage als auch auf das, was wir nachschießen müssen.«
»Das wird bestimmt kein Problem für sie sein.«
»Unser Investment hätte eigentlich kein Problem sein sollen«, erwiderte May und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, daraus spricht meine Frustration über die Situation. Es ist keine Kritik an Amanda.«
»Ich verstehe.«
»Noch eine Sache: Ich habe die Schwestern gebeten, den fiesesten, abgebrühtesten Anwalt anzuheuern, den sie auftreiben können.«
»Warum das?«
»Ich möchte wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, die Brüder zu verklagen.«
»Ernsthaft?«
»Absolut.«
»Du weißt nicht, ob sie irgendwie in ein Betrugsmanöver verwickelt sind.«
»Und?«
»Du hast nichts als Vermutungen.«
»Das heißt nicht, dass wir sie nicht dennoch verklagen können. Wir brauchen keine Beweise, um Anschuldigungen zu erheben – wir brauchen nur eine plausible Geschichte. Wollen doch mal sehen, wie sie reagieren, wenn wir sie unter Druck setzen. Wer weiß schon, wo das hinführen könnte?«
»Ich dachte, in China könnte es Jahre dauern, bis eine Klage auch nur erhoben wird.«
May trank einen kleinen Schluck von ihrem Martini. Sie wirkte inzwischen gefasster. »Wer hat was von China gesagt?«
»Das Unternehmen ist nicht in China angesiedelt?«
»Nein, in Borneo.«
Ava verbarg ihre Überraschung nicht. »In Borneo?«
»So habe ich auch reagiert, als Amanda mir anfangs erzählt hat, dass die Produktionsstätte dort angesiedelt ist, aber als ich dort war und die Schwestern kennengelernt habe, sind mir die Augen aufgegangen. Das Unternehmen ist gleich vor den Toren Kota Kinabalus, der Hauptstadt des Bundesstaates Sabah, und die Gegend ist viel besser entwickelt, als ich mir je hätte träumen lassen.«
»Das Gebiet gehört zu Malaysia, richtig?«
»Sabah – ja. Die Insel ist dreigeteilt. Der große südliche Teil, Kalimantan, gehört zu Indonesien. Die Nordküste besteht aus den beiden malaysischen Bundesstaaten Sabah und Sarawak, und Sarawak umschließt den kleinen Staat Brunei.«
»Borneo …«, sagte Ava und schüttelte den Kopf.
»Ja, und ein Fünf-Sterne-Shangri-la-Resort.«
»Es ist nie Urlaub, wenn man Geld nachjagt.«
»Ich schätze, die Erfahrung werde ich machen.«
»Du hast vorhin Unterlagen erwähnt«, sagte Ava.
»Ich habe sie hier.« May wies auf einen braunen Umschlag, der unter ihrer Handtasche auf dem Sitz neben ihr lag.
»Lass mal sehen.«
May nahm den Umschlag und öffnete ihn. »Hier – das ist die Insolvenzerklärung, die Datum, Uhrzeit und Ort der Gläubigerversammlung enthält«, sagte sie und reichte sie Ava.
Ava überflog sie rasch.
»Und das ist eine Kopie des Beteiligungsvertrags, den wir mit den Schwestern geschlossen haben, sowie eine Kopie unserer Satzung, in der du als Geschäftsführerin und Executive Vice President aufgeführt bist«, fuhr May fort. »Und nur für den Fall, dass du nach Amsterdam fliegst, habe ich unseren Anwalt eine notariell beglaubigte Vollmacht erstellen lassen, die besagt, dass du im Namen unseres Unternehmens im Hinblick auf die Insolvenz entscheidungsbefugt bist.«
Ava lächelte über Mays Vermessenheit.
»Ich dachte, ich sollte etwas in petto haben, falls du nach Amsterdam fliegst. Eine reine Vorsorgemaßnahme – mehr nicht. Ich wollte damit nicht etwa deine Entscheidung vorwegnehmen«, versicherte May.
»Momentai«, entgegnete Ava. »Ich sehe mir die Unterlagen später genauer an. Jetzt lass uns was essen.«
»Ja, bevor die Martinis mich umhauen.«
»Ich glaube, dazu braucht es mehr als ein paar Martinis.«