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ALS SIE MAY LING WONG allein am Eingangsportal der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis stehen sah, ahnte Ava Lee sofort, dass etwas nicht stimmte.

Es war der zweite Samstag im Januar, und der Himmel war bewölkt. Es war kalt und feucht, typisch für einen Wintertag in Hongkong. Ava saß in einem Bentley mit Amanda Yee – der Braut und ihrer zukünftigen Schwägerin – und drei Brautjungfern, als sie May Ling entdeckte. Amanda war im Begriff, Avas Halbbruder Michael zu heiraten, und Ava war ihre Trauzeugin. Sie waren von Sha Tin hergefahren, der Stadt in den New Territories, in der Amandas Eltern lebten.

Die fünf Frauen waren seit sechs Uhr früh auf, um von den teuersten Haarstylistinnen und Make-up-Artists Hongkongs frisiert und geschminkt und schließlich angekleidet zu werden. Ava hatte sich dagegen verwahrt, dass ihr schulterlanges schwarzes Haar zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur gestylt und gesprayt wurde. Sie hatte sich geweigert, ihr Gesicht mit Foundation und Puder zukleistern zu lassen. Doch sie hatte keine andere Wahl gehabt, als das glänzende lavendelfarbene Seidengewand anzuziehen, das Amanda für ihre Brautbegleiterinnen ausgewählt hatte. Das enge trägerlose Kleid ging ihr bis über die Knie und gab ihr das Gefühl, in buntes Plastik gehüllt zu sein.

Ava war Mitte dreißig, und dennoch war dies erst die dritte Hochzeit, an der sie teilnahm. Die erste war die Hochzeit ihrer älteren Schwester Marian gewesen, die einen gweilo Beamten namens Bruce geheiratet hatte. Im vergangenen August hatte Mimi, ihre beste Freundin, Avas besten Freund und gelegentlichen Arbeitskollegen Derek Liang in der Toronto City Hall in Anwesenheit von zehn FreundInnen und Familienmitgliedern geheiratet. Mimi war von Derek schwanger, und die Hochzeit war kaum mehr als eine Formalität gewesen. Sie hatten ihr gemeinsames Leben längst begonnen und waren kürzlich in ein Haus in Leaside gezogen, einer von Torontos wohlhabenderen Gegenden. Im Anschluss an die Zeremonie hatte Derek sie alle in ein nahegelegenes chinesisches Restaurant eingeladen. Im Kontrast dazu würde diese Hochzeit in Hongkong nach Prunk und Pracht der Kathedrale bei einem achtgängigen Festmahl im Ballsaal des Grand Hyatt fortgesetzt werden.

Als die Limousine vor der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis vorfuhr, warteten bereits drei Fotografinnen und zwei Kameramänner auf die Braut und ihre Begleitdamen. Zwanzig oder dreißig der mehreren Hundert Hochzeitsgäste drängten sich auf dem Bürgersteig, um schnell noch eine Zigarette zu rauchen. May Ling stand ein wenig abseits. Sie trug ein maßgeschneidertes Chanel-Kostüm in Korallenrot und Blassgrün, dessen Rock bis knapp übers Knie reichte. Sie starrte vor sich hin, ihr Gesicht ausdruckslos, und lehnte mit dem Rücken an der grauen Kirchenmauer.

»Da ist May«, sagte Ava an Amanda gewandt. »Sie wirkt ein wenig besorgt.«

»Was?«, sagte Amanda, die damit beschäftigt war, die meterlange Schleppe ihres elfenbeinfarbenen Hochzeitskleides von Vera Wang zusammenzuraffen.

»Ach nichts.« Ava hätte das Wort ›besorgt‹ nicht über die Lippen kommen sollen. Die Hochzeit mochte nach westlicher Manier in einer römisch-katholischen Kirche stattfinden, aber damit war nicht aller chinesischer Aberglaube außer Kraft gesetzt. Allein schon ein negatives Wort – von einer Tat ganz zu schweigen – mochte die Macht haben, das Brautpaar mit einem Fluch zu belegen. Zu Avas Aufgaben als erste Brautjungfer gehörte es, dafür zu sorgen, dass Amanda unbehelligt in ihrer Glücksblase geborgen war.

Als Ava aus der Limousine stieg, trat May Ling einen Schritt vor und winkte. Sie lächelte, aber ihre Stirn war gerunzelt und ihr Lächeln flüchtig.

Amanda glitt aus dem Wagen, posierte für die Kameras und wurde dann für weitere Fotos von ihren Brautdamen umringt. Der Plan sah vor, dass diese sie zu einem kleinen Raum gleich hinter dem Haupteingang geleiten würden, wo Amanda ein allerletztes Mal ihr Aussehen überprüfen und sich auf den Gang zum Traualtar vorbereiten konnte. Als die Brautgesellschaft sich auf den Weg in die Kirche machte, trat Ava neben Amanda.

»Wir haben noch ungefähr zwanzig Minuten, bevor die Zeremonie beginnt«, sagte Ava. »Ich werde kurz mit May Ling sprechen und mich dann drinnen wieder zu dir gesellen.«

»Wo ist May?«

»Dort drüben«, antwortete Ava, wies hinüber und merkte zu ihrer Erleichterung, dass Amanda ihrer vorherigen Bemerkung keine weitere Beachtung beimaß.

Amanda warf einen Blick in Richtung May. »Ich bin erstaunt, dass sie hier ist.«

»Warum?«

»Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gesagt, dass sie es vielleicht nicht schafft.«

»Warum nicht?«

»Das hat sie nicht gesagt. Sie hat nur gemeint, sie müsse sich um einige Probleme in Wuhan kümmern.«

»Nun, sie ist hier, also haben sich die Probleme vermutlich erledigt. Du gehst jetzt besser hinein.«

»Bleib nicht zu lange weg. Ich bin nervöser, als ich gedacht hätte«, sagte Amanda.

»Ich bin gleich wieder bei dir.«

Ava wandte sich ab und ging zu May Ling hinüber. Die beiden Frauen hatten sich im Jahr zuvor kennengelernt, als May und ihr Mann Changxing Ava und Onkel, ihren Partner, engagiert hatten, um einige Millionen Dollar, die das Ehepaar beim Kauf gefälschter Kunstwerke verloren hatte, aufzuspüren und zurückzuholen. Ava und Onkel waren damals auf dem Gebiet der Schuldeneintreibung tätig gewesen. Kurze Zeit später war May Ava in einem Fall, der Avas Familie – insbesondere ihren Halbbruder Michael – betraf, zu Hilfe gekommen, und die beiden Frauen hatten Freundschaft geschlossen.

May trat einen Schritt vor und breitete die Arme aus. Ava glitt hinein, und die beiden Frauen umarmten sich.

»Du siehst absolut fantastisch aus!«, sagte May.

»Ich habe den gestrigen Abend und den heutigen Morgen mit Amanda und ihren Freundinnen verbracht, die alle in den Zwanzigern sind. Seitdem fühle ich mich alt und keineswegs fantastisch.«

»Du bist auch erst Anfang dreißig. Ich bin Mitte vierzig – stell dir vor, wie ich mich fühle!«

»May, die Männer lieben dich«, erwiderte Ava.

»Changxing jedenfalls.«

Ava trat einen Schritt zurück. May war so groß wie sie – eins sechzig – und wog vielleicht fünf Pfund weniger. Sie war sehr schlank, feingliedrig und hatte, genau wie Ava, üppige Brüste, die zu zeigen sie sich nicht scheute. Ihr Haar war glatt und zu einem modischen Bob geschnitten. Ihre zarte Erscheinung mochte Verletzlichkeit suggerieren, aber sie besaß einen scharfen Verstand und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es drauf ankam. Sie konnte jedoch auch höchst charmant und dezent verführerisch sein. Onkel behauptete, Männer wären hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu beschützen, und dem Wunsch, sie zu beeindrucken.

»Wo ist Changxing?«, fragte Ava.

»Er mag keine Hochzeiten, und er hasst Kirchen. Er verbringt den Nachmittag mit Onkel. Wir treffen uns nachher im Mandarin Oriental, um uns zum Abendessen umzuziehen.«

»Onkel hat mir gegenüber gar nicht erwähnt, dass er sich mit Changxing trifft.«

»Er hat Onkel heute Morgen angerufen, um zu hören, ob ihm der Besuch recht wäre. Onkel bejahte, obwohl ich Changxing gesagt habe, er hätte mit dir Rücksprache nehmen sollen.«

»Ich bin weder Onkels Pflegerin noch seine Sekretärin, und er kann es nicht leiden, wenn ich mich wie das eine oder andere verhalte.«

Onkel war genau wie Changxing und May Ling aus Wuhan in der Provinz Hubei in Zentralchina. Er war als junger Mann vor dem kommunistischen Regime geflohen. Nach seiner Ankunft in Hongkong war er in den Triaden aufgestiegen, bis er schließlich als Oberhaupt einer Triaden-Gesellschaft zurückgetreten war und sich auf Schuldeneintreibung spezialisiert hatte – ein Geschäft, in das Ava später eingestiegen war. Changxing betonte gern, dass er und Onkel gemeinsame Wurzeln hatten. Onkels Interesse an dem wohlhabenden Geschäftsmann, der als ›Kaiser von Hubei‹ bekannt war, gründete auf dessen guanxi, seinem Einfluss und seinen Verbindungen, und auf seiner Macht, Gefallen zu erweisen.

Die Beziehung zwischen Ava und May Ling existierte unabhängig von der Verbindung zwischen den beiden Männern – ein Umstand, den Onkel guthieß. Obwohl es sich weder in Worten noch Taten nachweisen ließ, hatte Ava jedoch das Gefühl, dass Changxing Onkels Begeisterung für die zunehmend enge Freundschaft der Frauen nicht teilte, zumal diese noch gefestigt worden war, indem sie kürzlich ein gemeinsames Unternehmen gegründet hatten. Die drei Schwestern war der Name ihrer Investmentgesellschaft. May Ling und Ava waren die Hauptaktionärinnen und Amanda Minderheitsaktionärin. Amanda widmete sich der Investmentgesellschaft inzwischen in Vollzeit, May Ling teilte ihre Zeit zwischen dem neuen Unternehmen und ihren Geschäftsinteressen mit Changxing auf, und Ava engagierte sich, nachdem Onkel ihr seinen Segen erteilt hatte, ebenfalls auf dem neuen Betätigungsfeld.

»Wie geht es Onkel?«, fragte May Ling leise.

»So gut es die Umstände zulassen. Der Krebs hat sich vom Magen her auf weitere Organe ausgebreitet. Die Ärzte geben nicht gern Zeitprognosen ab, aber ich glaube nicht, dass ich noch lange in Hongkong gebraucht werde.«

»Es sind jetzt vier Monate, nicht wahr?«

»Es ist schon der fünfte. Allerdings geht es ihm besser, als ich für möglich gehalten hätte. An den meisten Tagen treffen wir uns morgens zum Congee essen, und, wenn sein Zustand es erlaubt, zum Abendessen irgendwo in Kowloon. Die Abendessen werden dieser Tage seltener – es gibt nur noch wenig, was sein Magen verträgt. Das macht ihn ärgerlich, und das tun nicht viele Dinge. Aber er scheint zu akzeptieren, was geschieht, und es gelingt uns, unser Beisammensein zu genießen und über andere Themen zu sprechen. Meine Mutter ist Anfang Dezember für zwei Wochen aus Toronto hergekommen. Das war ein Segen – als Unterstützung für mich und als Ablenkung für Onkel. Sie bringt ihn zum Lachen.«

»Ava, hältst du Onkel bei diesen Gesprächen auf dem Laufenden, was unser Unternehmen angeht?«

»In groben Zügen. Ich habe ihm erzählt, dass du und Amanda euch um alles kümmert, bis ich bereit bin, mich Vollzeit einzubringen.«

»Gut.« May zögerte. Ihr Blick glitt an Ava vorbei zum Eingangsportal der Kirche. »Ich glaube, eine der Brautjungfern hält nach dir Ausschau.«

Ava wandte sich um und sah Camille im Eingang der Kirche stehen. »Ich bin gleich da!«, rief sie ihr zu.

»Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde die Situation befremdlich«, sagte May und betrachtete die Gäste, die nun allmählich in die Kirche gingen.

»Was meinst du damit?« Ava war irritiert von Mays Bemerkung.

»Entschuldige. Ich meine, dass du die Trauzeugin der Braut bist«, antwortete sie und schlug dann die Hand vor den Mund. »Ach, Ava, entschuldige noch mal. Ich wollte dich nicht kränken; es ist nur so, dass die Leute reden.«

»Ich weiß. Heute Morgen bin ich zum ersten Mal Michaels drei Brüdern – meine Halbbrüdern – begegnet. Anfangs waren sie ziemlich distanziert. Dann haben wir ein bisschen miteinander geplaudert und sie entpuppten sich als unglaublich nett. Aber ich weiß, dass sich die Leute das Maul zerreißen, weil die Tochter einer zweiten Frau eine so große Rolle bei der Hochzeit des ältesten Sohnes der ersten Frau spielt.«

»Es ist ungewöhnlich.«

»So wie ich die Sache sehe, bin ich eine Freundin und jetzt auch eine Geschäftspartnerin von Amanda. Ihr Vater Jack war ein Klient von Onkel und mir, und wir haben ihm sogar das Leben gerettet. Wenn sie jemand anders heiraten würde, hätte ich die gleiche Rolle inne. Ich bin ihretwegen hier.«

»Ava …« Erneut erklang Camilles Stimme vom Eingangsportal herüber.

»Ich muss gehen«, sagte Ava zu May.

»Können wir uns morgen zum Frühstück treffen? Wir könnten Dim Sum im Mandarin essen.«

»Sicher, das müsste gehen«, antwortete Ava und merkte dann, dass May erneut an ihr vorbeiblickte. »Gibt’s ein Problem?«

»Nein, eigentlich nicht. Wir müssen bloß einige Dinge besprechen.«

»Ava, Amanda ist fast bereit«, sagte Camille, als sie neben Ava auftauchte und sie am Ellbogen fasste.

»Sag ihr, sie ist die schönste Braut, die ich je gesehen habe«, bat May Ava.

»Ja, das sage ich ihr«, erwiderte Ava. Dann wandte sie sich um und betrat mit Camille zusammen die Kirche.

Was für ein seltsamer Tag, dachte sie. Erst lerne ich alle meine Halbbrüder kennen, und dann erweckt May den Eindruck, als sei sie in Sorge. Und jetzt werde ich gleich vor Amanda den Gang zum Altar hinunterschreiten in dem Wissen, dass die meisten Menschen in dieser Kirche es allein schon für skandalös halten, dass ich überhaupt anwesend bin.

Ava ahnte nicht, dass der Tag noch viel seltsamer werden sollte.

Die zwei Schwestern von Borneo

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