Читать книгу Die zwei Schwestern von Borneo - Ian Hamilton - Страница 8
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ОглавлениеDAS DINNER WAR GERADEZU PERFEKT. Acht Gänge wurden serviert – eine Zahl, die sowohl als traditionell wie als glückbringend galt. Marcus Lee hatte darauf bestanden, dass jedes einzelne Gericht etwas ganz Besonderes war. Als die Kosten in die Höhe schossen, waren Amanda und Michael erschrocken gewesen, aber Marcus war nicht zu bremsen gewesen. »Mein ältester Sohn heiratet Jack Yees einzige Tochter. Das muss gebührend begangen werden«, hatte er erwidert.
»Es geht wohl mehr um deine Reputation«, entgegnete sein Sohn.
»Nicht mehr … vielleicht ebenso viel«, gab er zu. »Doch wie dem auch sei – ich möchte, dass es das beste Hochzeitsbankett aller Zeiten wird.«
Die Bediensteten erschienen mit dem ersten Gang: riesige Platten mit gegrillten Milchferkeln, deren goldene Haut unter der Saalbeleuchtung glänzte. An jedem Tisch schnitt eine Servicekraft knusprige Scheiben ab und arrangierte sie auf einer Servierplatte. Die Gäste wiederum legten die Scheiben auf dünne weiße Pfannkuchen, die fast transparent waren, und fügten dann Hoisin-Sauce hinzu, um das Gericht zu vollenden. Schwein war ein traditionelles und symbolträchtiges Gericht – es stand für Reinheit.
Als die Abalonen hereingetragen wurden, erhob sich begeistertes Gewisper. Ava schaute zum Tisch der Familie Lee hinüber und sah, dass Marcus ein breites Lächeln auf dem Gesicht hatte. Amanda und Michael hätten sich mit gewöhnlichen aufgeschnittenen Abalonen zufriedengegeben, aber Marcus hatte darauf bestanden, sie im Ganzen zu servieren und war dann noch einen Schritt weitergegangen und hatte den Catering Manager des Hyatt darum gebeten, Yoshihama-Seeohren aus Japan zu besorgen. Jede Portion Abalone – mehrere Tage geschmort, bis sie goldbraun waren und glitzerten wie flüssiges Gold, serviert mit schwarzen Pilzen – kostete Marcus Lee mehr als hundert US-Dollar.
Als Nächstes folgte Haifischflossensuppe. Die Flossen stammten eigentlich vom Sägefisch, einem haiartigen Rochen, der unter Kennern als bester Rohstofflieferant der Welt galt. Die Suppe war doppelt gegart worden und wurde mit Bambuspilzen serviert. Der erste Löffel zauberte ein Lächeln auf Avas Lippen; einige Minuten später, als weitere Tische bedient worden waren, sah sie, wie die Gäste anerkennend nickten.
Nach der Suppe folgte eine kurze Pause, um Amanda Zeit zu geben, sich erneut umzukleiden. Auf dem Weg zur Suite fragte Amanda Ava: »Was hat Elizabeth zu dir gesagt?«
Die anderen Brautdamen waren bei ihnen, und Ava merkte, dass sie vorgaben, nicht zuzuhören.
»Sie hat gesagt, sie freue sich, dass ich deine Trauzeugin bin.«
»Ich war leicht schockiert, als sie auf dich zuging.«
»Ich auch.«
»Obwohl es keinen Grund zur Sorge gab. Wir haben das gründlich mit ihr besprochen, und sie ist … nun sie ist wirklich eine tolle Frau.«
»Das glaube ich gern«, pflichtete Ava ihr bei.
In der Tat hatte Elizabeth Lees Verhalten Ava ebenfalls schockiert, aber das eigentlich Schockierende war ihre Freundlichkeit gewesen. Es war eine Sache, zuzustimmen, dass Ava eine so prominente Rolle bei der Hochzeit spielte – etwas ganz anderes jedoch war es, die Tochter ihres Gatten so warm in aller Öffentlichkeit anzuerkennen. Bis dahin war Elizabeth bloß ein Name gewesen – eine anonyme, wenn auch bedeutsame fortwährende Präsenz. Jetzt war sie real geworden, und Ava musste einen Weg finden, Elizabeth in ihre Vorstellung von Familie einzufügen.
Amanda wechselte schnell in ein elektrisch blaues seidenes Abendkleid. Dann machte sich die Brautgesellschaft auf den Weg zurück in den Ballsaal, wo die Bediensteten schon auf sie warteten, um den vierten Gang zu servieren.
Als Ava in den Ballsaal trat, hörte sie, wie jemand sie beim Namen rief. May Ling und Changxing Wong standen gleich in der Nähe der Tür. Ava ging zu ihnen hinüber. Changxing schenkte ihr ein winziges Lächeln, als sie ihn auf die rechte Wange küsste. May öffnete die Arme weit, und die beiden Frauen umarmten sich erneut. Ava schaute ihrer Freundin ins Gesicht. Sie entdeckte unvertraute Fältchen unter den Augen und Mays Blick wirkte abwesend.
»Tut mir leid, dass wir uns verspätet haben«, sagte May.
»Ich hatte eine Telefonkonferenz mit Beijing«, fügte Changxing hinzu.
»Ihr habt die Haifischflossensuppe verpasst. Aber egal – ich bin froh, dass ihr es geschafft habt.«
»Ich weiß nicht, wie lange wir bleiben können«, sagte Changxing. »Wir sind beide ziemlich müde.«
»Es wird ein quirliger Abend werden, von daher wird es sicher niemand befremdlich finden, wenn ihr irgendwann geht.«
»Falls wir uns später nicht mehr sehen sollten: Wir treffen uns morgen zum Frühstück?«, fragte May.
»Natürlich«, erwiderte Ava.
Changxing warf seiner Frau einen nervösen Seitenblick zu. »Wir suchen jetzt besser unseren Tisch«, sagte er, als eine lange Reihe von Bediensteten mit Tabletts voller Seegurken und Shrimps an ihnen vorbeizog. Er legte seinen Arm um Mays Taille, wie um sie zu beschützen.
Ava eilte davon, um sich wieder zu Amanda zu gesellen. Als sie die Brauttafel erreichte, sah sie, wie May Ling und Changxing sich ihren Weg durch den Ballsaal bahnten und die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Changxing war ein ziemlich gewöhnlich aussehender Mann von mittlerer Größe und Statur, mit einem kleinen, runden Gesicht und kurzem Haar, das glatt nach hinten gekämmt war. Ohne seinen Armani-Anzug und seine Hermès-Krawatte hätte man ihn für einen unbedeutenden chinesischen Geschäftsmann halten können. Doch er war keineswegs unbedeutend. Er war der wohlhabendste Mann in einer Provinz, die mehr als fünfzig Millionen Einwohnerinnen und Einwohner umfasste, und darum nannten die Menschen ihn den Kaiser von Hubei. Selbst in Hongkong, bei einem Fest, auf dem mehr als genug Multimillionäre zugegen waren, war er ein Mann, dem man Beachtung schenkte. Geld sprach für sich in Hongkong, und je mehr man hatte, desto lauter sprach es. Alle Gäste in dem Saal, die etwas vorstellten, wussten, wer Changxing war.
»Sieh dir nur an, wie die Frauen May anstarren«, sagte Amanda. »Selbst in einem schlichen schwarzen Kleid weckt sie ihren Neid.«
Ava hatte nicht darauf geachtet, was May trug, als sie ihr an der Tür begegnet war. Jetzt betrachtete sie das, was in der Tat ein schlichtes schwarzes Kleid war, das bis zum halben Knie ging, mit Spaghetti-Trägern und einem dezenten V-Ausschnitt. Ihr Schmuck war ebenso schlicht: ein Perlenhalsband und Diamantohrringe mit tropfenförmigen Perlen.
»Ihre Figur ist unbezahlbar«, sagte Ava.
»Ebenso wie deine«, erwiderte Amanda, als ein Tablett mit Seegurken vor sie hingestellt wurde.
»Lass uns essen«, sagte Ava.
Die Seegurken waren mit Shrimps, Shrimp-Rogen und Frühlingszwiebeln geschmort worden. Es war ein weiteres symbolträchtiges Gericht – es repräsentierte Harmonie. Zum Entzücken der Gäste fütterten Michael und Amanda einander mit winzigen Häppchen.
»Ich bin jetzt schon satt«, sagte Amanda, als ihre Teller abgeräumt wurden.
»Als Nächstes kommt Hummer und Huhn«, erwiderte Ava.
»Gott!«
Hummer und Huhn war offiziell ein einziges Gericht, die klassische Kombination von Drache und Phönix – Yin und Yang, um die Harmonie in der Ehe zu symbolisieren. Ava war eigentlich auch schon satt, aber der Hummer aus dem Wok mit Ingwer und Knoblauch und das auf Apfelholz geräucherte Huhn waren zu lecker, um es sich entgehen zu lassen.
Der sechste Gang bestand aus gedünstetem Fisch. Das Wort Fisch wird im Chinesischen genauso ausgesprochen wie das Wort Fülle. Der Caterer hatte Zuchtfisch verwenden wollen, aber Marcus hatte auf Fangfisch bestanden, weil der als glückbringender galt.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Amanda.
»Iss wenigstens einen Bissen«, entgegnete Ava.
Reis bildete den siebten Gang. Trotz ihrer Beteuerungen, satt zu sein, vermochten weder Amanda noch Ava der köstlichen Kombination aus Reis, Ei, Pinienkernen, Krabben, Muscheln und Shrimps zu widerstehen.
»Jetzt kommen nur noch die Nudeln«, sagte Ava.
»Und das Dessert.«
Sie beide kosteten nur ein wenig von den Nudeln, die mit einer Mischung aus exotischen Pilzen angerichtet waren.
Während sie auf den Nachtisch warteten, der nicht zu den acht Gerichten gezählt wurde, trat Marcus Lee zu den Frischvermählten an den Tisch. Er strahlte. »Es war hervorragend, nicht wahr?«
»Dad, du hast dich selbst übertroffen«, antwortete Michael.
»Es war fantastisch«, fügte Ava hinzu.
»Mir haben einige gesagt, es sei das beste Hochzeitsbankett, das man ihnen je serviert habe.«
Wie aufs Stichwort traten zwei Männer zu Marcus, die voll des Lobes waren. »Warten Sie nur, bis Sie das Dessert probiert haben«, erwiderte er ihnen. »Doppelt gekochte Schwalbennestersuppe mit Kokoscreme und Kandis.«
Ava stöhnte auf. »Das klingt großartig!«
Satt oder nicht – Ava verspeiste das Dessert ganz und gar.
»Noch ein letztes Mal zurück in die Suite«, sagte Amanda, als das Festmahl schließlich vorüber war.
Ihre sämtlichen Brautdamen waren Amanda beim Anlegen ihres letzten Gewandes behilflich: ein blau-goldenes Cheongsam mit einem Schlitz an der Seite, der ihren Schenkel zeigte.
Als sie in den Ballsaal zurückkehrten, wartete Michael an der Tür mit May Ling und Changxing. Er hielt einen roten Umschlag in der Hand, den die beiden ihm offenbar eben überreicht hatten. Als May Amanda erblickte, sagte sie: »Du siehst atemberaubend aus.«
Amanda neigte den Kopf.
»Hier, das ist für dich. Ein kleines Extra.« May reichte ihr einen weiteren Umschlag.
»Das ist doch nicht nötig.«
»Ich weiß.«
Während die Frauen fortgewesen waren, hatte die Band die Bühne eingenommen und stimmte nun ihre Instrumente.
»Der erste Tanz ist unser«, sagte Michael zu Amanda.
»Und wir kehren in unser Hotel zurück«, sagte May. »Es war ein langer, anstrengender Tag, und Changxing fliegt morgen in aller Frühe nach Beijing.«
Es folgte eine rasche, aber herzliche Verabschiedung.
»Wir sehen uns beim Frühstück«, sagte May zu Ava. »Mach dir keine Gedanken wegen der Uhrzeit – ruf mich einfach an, wenn du so weit bist.«
Ein Liebeslied von Andy Lau hob leise im Hintergrund an.
»Das ist unser Zeichen«, sagte Michael.
»Tanzen wir«, erwiderte Amanda.
Die Wongs wandten sich zum Gehen. Ava registrierte allerdings noch Mays aufeinandergepresste Lippen und Changxings umwölkte Stirn. Irgendwo in ihrer Welt muss irgendetwas schiefgelaufen sein, dachte sie.
Die Musik wurde lauter, und Michael und Amanda betraten die Tanzfläche. Während der ersten Hälfte des Liedes tanzten die beiden allein miteinander, dann holte Amanda ihren Vater auf die Tanzfläche und Michael seine Mutter. Der Saal brach in Hochrufe aus.
Der Rest des Abends war Ava nur noch schemenhaft in Erinnerung. Sie hatte erwartet, dass sie viel an ihrem Tisch sitzen und die Gäste beobachten würde, aber stattdessen hatten Amanda und Michael sie gebeten, sie zu begleiten, während sie von Tisch zu Tisch wanderten. Normalerweise brachte das Brautpaar nach dem Servieren der Haifischflossensuppe einen Trinkspruch auf die Gäste aus, aber Michael und Amanda hatten beschlossen, mit dieser Tradition zu brechen. Danach war Ava die meiste Zeit auf der Tanzfläche. Der Tradition gemäß tanzte sie zuerst mit Peter, dem Trauzeugen des Bräutigams, dann folgten alle ihre Halbbrüder und schließlich auch noch ihr Vater. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er mit ihr tanzen würde.
»Das muss unangenehm für dich sein«, sagte sie.
»Nicht annähernd so unangenehm wie eure Begegnung für dich und Elizabeth«, gab er zurück.
»Sie war bezaubernd.«
»Ich kann mich glücklich schätzen.«
Ava fragte nicht, was er damit meinte.
Während der Abend voranschritt, wurde Ava zur Zielscheibe der Aufmerksamkeit eines außerordentlich attraktiven Mannes, der etwa in ihrem Alter oder vielleicht ein wenig jünger war. Er erzählte ihr, er sei als Jurist für die Regierung in Hongkong tätig. Was er nicht erwähnte, aber Amanda sehr wohl, war die Tatsache, dass er der einzige Sohn einer der wohlhabendsten Immobilienbarone der New Territories war. Er flirtete zuvorkommend und beharrlich mit Ava und bat sie zwei Mal, sich mit ihm zum Abendessen zu verabreden. Ava war versucht ihm zu sagen, dass sie lesbisch sei, aber er tanzte so gut, dass sie ihn nicht als Partner verlieren wollte.
Um Mitternacht gesellte Ava sich, aufs Angenehmste müde, zu der übrigen Hochzeitsgesellschaft am Ausgang des Ballsaales, um die Gäste zu verabschieden. Als diese an ihr vorüberströmten, kam ihr in den Sinn, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben tatsächlich Teil dieser großen Familie war. Zuvor hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter, ihre Schwester Marian und sie selbst auf irgendeiner fremden Insel gestrandet wären, an der ihr Vater von Zeit zu Zeit anlegte, während die Tanten und Halbgeschwister auf anderen fernen Inseln lebten. Jetzt war sie offiziell als Marcus Lees Tochter anerkannt worden – als Halbschwester seiner vier Söhne, und auch Elizabeth Lee hatte ihren Status bestätigt. Es gab ihr das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein – ein Gefühl, das ihre kleine Familie in Kanada ihr nicht geben konnte. Aber hier in Hongkong, wo alle, die etwas galten, alle anderen kannten und wo Familien nah beieinander lebten und ständig miteinander zu tun hatten, spürte Ava, dass sie Teil dieses größeren Kreises geworden war.
Als die letzten Gäste den Festsaal verließen, richtete Michael das Wort an die Hochzeitsgesellschaft. Er dankte allen dafür, ihren Part zu diesem fantastischen Tag beigetragen zu haben. Ava hörte zu, bis ihr Blick über Michaels Schulter hinweg auf einen Mann fiel. Er stand draußen im Gang und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Es war Sonny, Onkels Bodyguard und Chauffeur, aber es war nicht der Sonny, den sie kannte.
Wie immer trug er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Er war ein großer Mann von gut eins fünfundneunzig mit mächtigen Schultern und kräftiger Brust, aber trotz seiner massigen Gestalt war er unglaublich behände. Er gehörte zu den wenigen Menschen, bei denen Ava bezweifelte, sie körperlich bezwingen zu können. Doch der Mann, der da im Gang stand, sah nicht aus wie jemand, den man hätte fürchten müssen. Er hatte die Arme verschränkt, die Schultern hingen tief, sein Kopf war gesenkt. Er sah aus wie ein Mann, der sich in sich selbst verkrochen hatte.
Ohne sich zu entschuldigen, verließ Ava die Gruppe und ging auf ihn zu; ihre hohen Absätze klickten auf dem Marmorboden.
»Sonny«, sagte sie.
Er sah auf und schien verwirrt. Ava fragte sich, ob er sie erkannte.
»Onkel ist gerade ins Krankenhaus gekommen. Es sieht nicht gut aus«, sagte er.