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ES WAR BEINAHE MITTERNACHT, als Ava Schiphol, Amsterdams internationalen Flughafen, verließ und in eine kalte, feuchte Nacht hinaustrat. Sie fröstelte. Der Limousinen-Abholbereich war überdacht, aber ein heftiger Wind fegte über den Flughafen; er peitschte den Regen seitwärts, zusammen mit der Kälte, die in der Luft lag. Ava war erst einmal zuvor in Amsterdam gewesen, und zwar mitten im Sommer – zwei Tage lang war sie damals in Shorts und T-Shirt durch die Stadt gelaufen.

Sie hatte Hongkong am frühen Abend verlassen, nachdem sie einen hektischen Nachmittag lang nach Flügen und einem Hotel gesucht und die Kleidung, die sie mitnehmen wollte, zusammengestellt hatte. Nach vier Monaten Sesshaftigkeit packten sich ihre Reisetaschen nicht mehr wie von selbst. Sie war überrascht, wie lange es dauerte, alles zusammenzusammeln.

Als sie mit dem Packen fertig war, rief sie im Krankenhaus an, um Onkel zu sagen, dass sie gleich nach Amsterdam fliegen würde. Er schien wach und munter zu sein, und seine Stimme klang fest, als er ihr noch einmal eine gute Reise wünschte und versicherte, von Schanghai aus in Kontakt zu bleiben.

In Toronto war es mitten in der Nacht, also schickte sie E-Mails an ihre Mutter, an ihre Geliebte Maria und an ihre Freundin Mimi und erklärte, sie würde für einige Tage in einer kleinen geschäftlichen Angelegenheit unterwegs sein. Sie betonte, dass es sowohl ihr selbst als auch Onkel gutgehe und dass es keinen Grund zur Besorgnis gebe.

Um vier Uhr hatte Ava sich von einer der Limousinen des Mandarin Oriental zum Flughafen bringen lassen. Sie hatte sich von Sonny hinfahren lassen wollen, aber als sie ihn anrief, sagte er, dass Onkel noch vor dem Abendessen aus dem Queen Elizabeth Hospital entlassen werden würde. May war eine Stunde vor ihr aufgebrochen. Beide hatten sie mehrmals vergeblich versucht, Amanda telefonisch zu erreichen.

Ava hatte einen Direktflug mit Cathay Pacific nach Amsterdam gebucht. Normalerweise hätte sie ihre Reiseagentin Gail beauftragt, alles für sie zu arrangieren, aber Gail lag vermutlich daheim im Bett. Ava wusste, dass es ein bisschen altmodisch war, Reiseagentinnen zu beschäftigen, aber ihr gefiel der Gedanke, jemanden anrufen zu können, wenn etwas schiefging, eine Gail, der das nicht egal war und die sich kümmern würde. Diesmal buchte sie ihr Ticket für die erste Klasse also selbst und schickte Gail eine Kopie der Buchung.

Ein Hotel zu finden war eine größere Herausforderung. Avas Hotelpräferenzen waren weniger breit gefächert als die Wahl ihrer Airlines, die für gewöhnlich in Asien beheimatet waren. Ava wohnte gern in den großen Fünf-Sterne-Hotelketten, wenn sie sich in Asien aufhielt; das Mandarin Oriental war ihr Lieblingshotel, dicht gefolgt vom Peninsula und dem Shangri-La. In Nordamerika und Europa fand sie den Service in den großen Hotels jedoch zu unpersönlich und entschied sich deshalb gewöhnlich für kleinere erstklassige Boutique-Hotels in zentraler Lage. Als sie online Hotels in Amsterdam suchte, fand sie eine Suite im Dylan, einem Fünf-Sterne-Hotel mit nur einundvierzig Zimmern und einem Restaurant, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet war. Das Hotel lag an der Keizersgracht und damit fast im Stadtzentrum.

Der zwölfstündige Flug verlief angenehm. Ava trank während des Boardings zwei Gläser Champagner und beim Abendessen zwei Gläser Weißburgunder zur Seezunge; danach schaute sie den chinesischen Film Election. Er erzählt von der Wahl eines neuen Triaden-Oberhauptes. Ava kannte ihn bereits, war aber immer wieder fasziniert davon, nicht zuletzt weil Onkel für mehrere aufeinanderfolgende Perioden ein solches Oberhaupt gewesen war. Die Intrigen, der Verrat und die Gewalt, die die Wahl begleiteten, waren schrecklich. Ava fand es schwierig zu akzeptieren, dass Onkel bei so korrupten Vorgängen die Hand im Spiel gehabt haben könnte, aber sie wusste, dass Triaden-Filme aus Hongkong nur einen lockeren Realitätsbezug hatten. Sie schlief ein, kurz bevor es zu der entscheidenden barbarischen Begegnung der beiden Protagonisten kam.

Als sie erwachte, waren es noch drei Stunden bis Amsterdam. Sie suchte kurz die Bordtoilette auf, bestellte sich anschließend einen Kaffee und öffnete dann den Umschlag, den May ihr gegeben hatte. Er enthielt eine Menge Papiere, jedoch weniger konkrete Informationen, als Ava erwartet hatte. Die Partnerschaftsvereinbarung war das umfangreichste Dokument: dreißig Seiten voller Standardklauseln, die nicht mehr besagten, als May Ling bereits erläutert hatte, auch wenn Ava es befremdlich fand, ihren Namen als eine der Geschäftsführerinnen und Executive Vice President von Borneo Fine Hardwoods and Furniture aufgelistet zu sehen. Mit Onkel war sie schon seit zehn Jahren ohne schriftlichen Vertrag als Geschäftspartnerin verbunden. Sie erinnerte sich nur an einen Handschlag. Und Titel hatte es schon gar nicht gegeben.

Der Brief von May Lings Anwalt war nichts weiter als ein einseitiges Dokument, das bestätigte, dass die Partnerschaftsvereinbarung ein rechtsgültiger Vertrag war und dass Ava uneingeschränkt bevollmächtigt war, Entscheidungen im Hinblick auf das Unternehmen und das Insolvenzverfahren zu treffen. Die Insolvenzerklärung war genau das: Sie besagte auf deren Firmenbriefpapier, dass Timmerman BV zum Konkursverwalter ernannt worden war, um die Vermögenswerte von Janssen Volker NY zu veräußern und das Unternehmen zu liquidieren. Alle gesicherten und ungesicherten Gläubiger wurden zu einer Versammlung eingeladen, die am kommenden Dienstag um elf Uhr vormittags in der Damstraat 113 in Amsterdam stattfinden würde.

An den Brief war eine Liste der Kreditoren mitsamt den Summen, die ihnen geschuldet wurden, angeheftet. Nur zwei von ihnen waren gesicherte Gläubiger: eine Bank für einen Nominalbetrag und eine Firma namens Meijer Finance, die fünfzehn Millionen Euro als Forderung geltend machte. Die Liste der ungesicherten Gläubiger war länger: verschiedene Speditionen, ein Vermieter, einige Lagerhäuser, Kreditkartenunternehmen und, alle anderen in den Schatten stellend, Borneo Fine Hardwoods and Furniture.

Ava holte ein schwarzes Moleskine-Notizbuch aus ihrer geräumigen Chanel-Tasche. Sie öffnete es und schrieb Borneo Furniture oben auf die erste Seite. Für jeden Auftrag, den sie mit Onkel zusammen übernommen hatte, hatte sie ein eigenes Notizbuch gehabt. Ihre Freundinnen amüsierten sich über ihre Low-Tech-Ausstattung, aber sie selbst fand, dass es ihrem Erinnerungsvermögen und ihren analytischen Fähigkeiten dienlich war, wenn sie Zahlen, Namen, Fakten, Fragen und Thesen handschriftlich festhielt. Und nach Beendigung eines Jobs stellte das Notizbuch eine dauerhafte Dokumentation dar. Sämtliche Notizbücher bewahrte sie in einem Bankschließfach in der Nähe ihrer Wohnung in Toronto auf.

Sie übertrug die Einzelheiten des Timmerman-Briefes in ihr Moleskine. Dann listete sie May Lings Mutmaßungen hinsichtlich der Brüder und ihrer Verbindung mit der holländischen Firma auf. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich aus, als sei die Insolvenz arrangiert worden – alles erschien so verdammt glatt. Doch es war eine Sache, Anschuldigungen zu erheben, eine ganz andere Sache war es, Mays Annahme, dass es betrügerische Absprachen zwischen drei oder mehr Parteien gab, zu beweisen. Und wenn es sich doch bloß um einen Fall von inkompetentem Management handelte, das irgendwie in das effiziente niederländische Insolvenzsystem gestolpert war?

Ava schlug ihr Notizbuch zu und lehnte sich zurück. Seit mehr als fünf Monaten hatte sie nicht mehr gearbeitet. In der Vergangenheit hatte es immer eine Weile gedauert, bis sie nach einer längeren Pause wieder in Hochform gewesen war. Diesen Luxus konnte sie sich in diesem Fall nicht leisten. Die Gläubigerversammlung fand schon am nächsten Tag statt, und das Geld, dessen Verlust drohte, gehörte nicht irgendeinem Auftraggeber. Während Ava über die enorme Summe, die dreißig Millionen darstellten, nachsann, ging das Flugzeug in eine leichte Schräglage und der Pilot verkündete, dass sie sich im Anflug auf Amsterdam befanden.

Sie landeten um dreiundzwanzig Uhr dreißig, und keine dreißig Minuten später verließ Ava den Flughafen und ging in die kalte, feuchte Nacht hinaus.

Vom Flughafen Schiphol bis zum Hotel Dylan waren es nur ungefähr zehn Kilometer. Stadteinwärts herrschte um diese Zeit wenig Verkehr; Ava sah fast so viele Busse wie Autos, und um halb eins fuhr sie am Hotel vor. Der Eingang mit seiner Steinfassade, den Metallgittern vor den Fenstern und den hohen Torbögen sah aus wie aus einem vergangenen Jahrhundert. Das Dylan war ursprünglich nicht als Hotel gedacht gewesen; es bestand aus mehreren dreistöckigen Ziegel- und Steinhäusern, die einen Hof umschlossen, der im siebzehnten Jahrhundert angelegt worden war.

Ava hatte einen späten Check-in gebucht, und bei ihrer Ankunft war die Kimono-Suite für sie bereit. Sie war ganz in Schwarz und Weiß gehalten, ultramoderner japanischer Minimalismus mit schnörkellosen, strengen Linien. Sogar die vier Bettpfosten waren dünn und schilfartig und erfüllten mehr dekorative Zwecke als eine Funktion.

Ava packte ihre Shanghai Tang Double Happiness Tasche aus und trug ihren Kulturbeutel ins Bad. Sie hatte vor zu duschen, in frische Unterwäsche und ein T-Shirt zu schlüpfen und dann zu schlafen. Ihre Suite befand sich in der obersten Etage des Hotels, und das Bad hatte etwas von einem Loft mit den schwarzen schrägen Holzbalken von Wand zu Wand und der gläsernen Decke, die den Blick auf einen sternenlosen Himmel freigab. Wegen des starken Kontrasts, der sich durch die Glasdecke ergab, wurde der Raum von gleißendem Licht geradezu geflutet, als sie die Lampen einschaltete, und beim Ausziehen bemerkte sie, dass das grelle Licht jede Pore ihres Körpers erkennen ließ. Selten hatte sie sich nackter gefühlt. Ava betrachtete sich selbst im Spiegel und war überrascht, wie bleich ihre Haut aussah, und das umso mehr, als sie sich seitwärts drehte und die rote Narbe auf ihrem Oberschenkel erblickte, die von einem Einsatz in Macau stammte, bei dem sie eine Schusswunde davongetragen hatte.

Doch selbst in dem harten Licht sah ihr Körper aus wie der einer jüngeren Frau. Die Kombination aus Joggen und Bak Mei – die chinesische Kampfkunst, die sie ausübte – half ihr, so lange sie zurückdenken konnte, ihre Figur zu bewahren. Sie hatte wunderbare Proportionen, ihre Taille war nahezu perfekt angesetzt, ihre Schenkel und ihr Gesäß waren fest und muskulös.

Das Bad war so minimalistisch gestaltet wie die übrige Suite. Die riesige weiße Porzellanwanne war komplett in schwarzen Marmor eingelassen. Ava ließ Wasser einlaufen, fügte Badeschaum hinzu und ließ sich in die Wanne gleiten.

Während sie sich im heißen Wasser entspannte, betrachtete sie die beiden weißen, von elektrisch blauen Streifen durchzogenen Vasen, die auf einem Sims am Fuß der Wanne standen. Sie waren vermutlich japanischer Herkunft, dachte sie, mochten aber ebenso gut chinesisch sein.

Was machte sie hier in Amsterdam? Dann kam ihr in den Sinn, dass sie nicht nur das erste Mal seit fünf Monaten Hongkong verlassen hatte, sondern dass sie außerdem völlig allein war. Sie schloss die Augen. Das Bild von Onkel, wie er da im Bett im Queen Elizabeth Hospital gelegen hatte, erschien vor ihr. Sie lächelte – oder glaubte es zumindest –, aber sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen.

Die zwei Schwestern von Borneo

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