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Zweites Kapitel Die Höhle des Toltekenkönigs 4

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„Ich habe keinen Thronerben mehr!“, fauchte Nachtjaguar.

Der Unterhändler blieb gelassen. „Hast du keinen Sohn mehr, o Herr?“

„Keinen, dem ein König seine Tochter geben würde. Seine Mutter ist nur die Tochter eines kleinen Fürsten. Er kann niemals den Königstitel tragen.“

„Die Zeiten ändern sich. Abstammung ist für meinen Herrn nicht halb so wichtig wie die Befähigung im Krieg. Und Sechs-Tod Feuerpfeil ist tapfer – ein Mann, der viele Gefangene nahm, ein Feldherr, der die Stadt zu schützen vermag.“

„Er dient mir, nicht deinem Herrn.“

„Indem er dir dient, dient er ihm.“

„Mein Sohn hat schon eine Hauptgemahlin und ist frei, die zweite selbst zu wählen.“

„Du hast also nichts dagegen?“

„Was bewegt deinen König? Seit wann ist er mir wohlgesonnen?“

„Er möchte sich mit dir verbünden.“

„Will er Cholollan so billig erwerben?“

„Er will keinen Krieg mit dir.“

„Warst du schon bei den anderen fünf Sprechern?“

„Mein Herr will erst dein Herz ergründen. Du bist es, der Cholollans Unabhängigkeit bewahrt. Wenn du dich seinem Wunsch verschließt, braucht er die anderen erst gar nicht zu fragen.“

Nachtjaguar fühlte sich bedrängt. Ein Nein würde die Spannungen mit Tlaxcallan verstärken, ein Ja – die mit dem aztekischen Bund. Er musste Zeit gewinnen. „Was sagen eure anderen drei Herrscher?“

Wie Cholollan wurde auch Tlaxcallan nicht nur von einem Herrscher regiert. Vor jeder wichtigen Entscheidung in Tlaxcallan trat der Rat der vier Könige zusammen, und dies geschah noch nicht einmal im Palast desjenigen, der den Unterhändler zu Nachtjaguar geschickt hatte. Dieser, Maxixca, war nur der Zweite im Rang. Sein Wort war es nicht, das bei Entscheidungen den Ausschlag gab.

Der Unterhändler überging die Anspielung zunächst. „Das Heiraten steht jedem frei“, äußerte er obenhin, ließ dann aber doch wieder eine Klinge aufblitzen, als spräche er in Wahrheit vom Krieg. „Wäre mein Herr mit dir verbündet, wer würde dann noch gierig auf Cholollan schielen? Wer würde es wagen, euch anzugreifen?“

Der Zweite von Tlaxcallan galt als Draufgänger, der zu Extremen neigte und – so befürchtete Nachtjaguar – durchaus bereit war, geltendes Recht zu brechen. Der Blumenkriegsvertrag verbot ihm jeden Angriff auf Cholollan, doch würde er sich daran halten? Es sah so aus, als wäre er mit seiner Stellung nicht zufrieden. Er griff nach mehr Macht, als ihm zustand. Nachtjaguar wollte nicht in sein Ränkespiel verwickelt werden, doch es erschien ihm auch nicht klug, ihn abzuweisen.

„Ich schicke Sechs-Tod Feuerpfeil als meinen Gesandten an den Hof deines Herrn, des Herrschers Maxixca-tzin. Dann wird sich die Gelegenheit ergeben, dass mein Sohn das Mädchen sieht.“

Der tlaxcaltekische Unterhändler verbeugte sich. „Deine Weisheit sei gepriesen.“ Als er fort war, atmete Nachtjaguar auf.

Er kam aber nicht dazu, die Angelegenheit zu überdenken, denn der nächste Besucher wurde bereits gemeldet. Seitdem die Fremden im Lande waren, schien es Boten vom Himmel zu regnen: von den Totonaken an der Küste, den Otomi von der Nordwestgrenze Tlaxcallans, den Tlaxcalteken selbst – so wie der letzte eben – und jetzt schon wieder einer von dort, wie die Kordel um seine Stirn verriet.

„Was führt dich zu mir?“, fragte Nachtjaguar mürrisch.

„Mein Herr will dir Ehre erweisen“, näselte der Bote.

Nachtjaguar konnte den Dialekt Tlaxcallans nicht mehr hören. „Mir werden dauernd Töchter angeboten. Welcher der vier Könige hat dich geschickt?“

„Keiner.“ Der Bote legte erst das Stirnband, dann den Umhang ab. Zum Vorschein kam ein zweiter, heller, mit Augenmusterborte. „Zu deinen Diensten. Tlacotl aus Tenochtitlan!“

Nachtjaguar ließ sich die Überraschung nicht anmerken. „Was wünscht Motecuzoma?“

„Nichts.“

„Dann kannst du ja wieder gehen.“

„Der Große Sprecher hat deinen Sohn Jadefisch erhöht. Er ist das Abbild des Tezcatlipoca!“

Nachtjaguar wich das Blut aus dem Kopf. Tlacotl sprach von Ehre, von der Würde, die sein Sohn ausstrahlte, von der Erhabenheit seiner Person und der Vollkommenheit seines Flötenspiels. „Du wirst doch kommen?“, hörte er es säuseln.

Motecuzoma mutete ihm zu, das Opfer anzusehen? Nachtjaguar begann sich zu wehren. „Warum schickt er dich schon jetzt? In einem Jahr kann viel geschehen.“ Er würde sich mit Tlaxcallan verbünden, dachte er hasserfüllt.

„Nicht doch“, sagte Tlacotl. „Du sollst Jadefisch in aller Pracht erleben. Du kannst ihn sehen, mit ihm sprechen. Motecuzoma gibt dir eine Residenz, damit du nach Belieben kommen und gehen kannst. Schließlich bist du der verehrte Vater unseres Gottesabbildes.“

„Das hat es noch nie gegeben.“

„Die Zeiten ändern sich.“

„Du bist der Zweite, der mir das sagt.“ Nachtjaguar ließ alle Vorsicht außer Acht. Ein aberwitziger Wunsch erhellte wie ein Blitz die Dunkelheit, in der er lebte, seitdem er keinen Thronerben mehr hatte. Konnte er Jadefisch zurückgewinnen? Er sagte zu, gleichzeitig seine Schwäche verfluchend.

Jadefisch fand sich in seiner Rolle nicht zurecht. Er spürte nie die göttliche Präsenz Tezcatlipocas. Umso mehr litt er darunter, dass er nur noch „Ixiptla-tzin“, „Sein verehrtes Abbild“, hieß. Als hätte er selbst keine Persönlichkeit. Sein Menschenname schien bedeutungslos, so wie auch sein Gesicht bedeutungslos war, unkenntlich unter der schwarzen Bemalung. Jeden Tag erwachte er in einem Lattenkäfig. Zum Schlafen schloss man ihn immer ein – wohl, damit er sich nicht, die Müdigkeit seiner Wächter ausnutzend, aus Tenochtitlan entfernte. Oder damit er den Tag als glücklichen Gegensatz zu jenem ihm auferlegten nächtlichen Leiden feierte, damit er Freude, Heiterkeit und Zuversicht ausstrahlte, wenn er – endlich wieder frei – durch die Stadt ziehen durfte.

Vorher wurde er noch bemalt und geputzt. Manchmal kamen Würdenträger, um ihn zu ehren, sie spendeten ihm Blumen, Tabak, feine Speisen und Kakao. Der nachts ein Sklave war, saß ihnen tags als Gott der Götter gegenüber, angetan mit seinem ganzen Schmuck, mit dem Türkis im Nabel, mit den weißen Puffmaisblumen auf dem Haupt und seinem Antlitz, schwarz und glänzend wie die Statue im Heiligtum.

Jeweils durch einen anderen Ausgang verließ er täglich den Tempelbezirk, ohne dass er sich viel bei der Reihenfolge dachte.

„Er ist durch die Pforte des Schilfrohrs gegangen, in Richtung Osten“, meldete sein Gefolge dem Oberpriester. Tags darauf: „Nach Norden, durch das Tor der Spiegelschlange!“ – „Durchs Westtor am Alten Königspalast!“ – Zu guter Letzt: „Nach Süden! Durch die Adlerpforte!“

Der Oberpriester zeigte sich erfreut. „Er hat den ersten Kreis vollendet.“

Jadefisch begann zu variieren. Wenigstens sollten seine Wege nicht vorhersehbar sein. Aber auch damit war der Oberpriester offenbar zufrieden. Nun hieß es: „Wahrlich, Tezcatlipoca geht, wo es Ihm beliebt.“ Daraus schloss Jadefisch, dass er tatsächlich tun und lassen konnte, was er wollte. Und so wanderte er bald unbekümmert kreuz und quer durch Tenochtitlan, spazierte sogar in die Häuser hinein und wurde überall freundlich empfangen: Seine Person verlieh einem Raum eine besondere Weihe. Er verweilte aber nicht. Es zog ihn immer weiter, fort aus dem Zentrum mit den Residenzen der Fürsten und Würdenträger, hinein in die Siedlungsbezirke des Volkes, das – nach Verwandtschaft und Beruf geordnet – um kleine Plätze lebte, wo sich jeweils ein Tempel für den Schutzgott der Gemeinde, ein Amtshaus und eine Kriegerschule befanden. Und weiter, immer weiter. Zehn Tage war er erst im Amt, als er auf seiner rastlosen Wanderung an den Rand der Lagune gelangte. Es war unsicheres Gelände, das hätte Jadefisch sich sagen können. Aus der soliden Straße war ein verschlammter Trampelpfad geworden, das Schwemmland rechts und links zur Brutstatt für Myriaden Mücken, die über jedem Moderloch tanzten. Für einen kurzen Augenblick erwog er wirklich, umzukehren, dann aber hörte er das Teichhuhn im Ried. Ein altvertrautes Rauschen drang ihm ins Ohr, das sich mit jedem Schritt verstärkte: Der Wind strich durch das hohe, gelbe Schilf, in dem das Teichhuhn sich versteckte. Jadefisch sog den fauligen Geruch des Sumpfes ein und ging noch schneller. Der Boden schmatzte gierig unter seinen Füßen, zog ihn bald knöcheltief hinein. Aber es gab kein Halten.

Jadefisch schlug sich zum Ufer durch, setzte sich auf einen Stein und ahmte mit der Flöte das Teichhuhn nach, wie einst als Knabe im Bruch bei Cholollan. Allmählich glitt er dabei in die alten Melodien seiner Heimat über. Das lockte einen Halsband-Taucher und einen Mann in einem Boot voll Schilf herbei. Der Halsband-Taucher linste aus schwarz umringten Augen neugierig auf den Flötenspieler, der Mann erschrak und ließ die Stake fahren. Als er das Gottesabbild grüßen wollte, kenterte auch noch der Kahn. Der Vogel tauchte fort, der Mann, im grünen Algenwasser, drehte schimpfend sein Kanu um, fischte die Stake aus dem Schilf, durchstocherte mit ihr den Schlick nach dem verlorenen Schneidemesser, fluchte: „Schurke! Übeltäter! Was fällt dir ein? Da beug ich mich vor dir nieder, und so vergiltst du es mir!“

Jadefisch lachte schallend. „Mach dich nur lustig über deinen treuen Diener!“

Der Mann kam an Land gewatet, das Kanu mit sich ziehend, und wurde von Jadefischs Wächtern gestellt.

„Was passt dir nicht?“

„Ich habe mein ganzes Schilfrohr verloren.“

„Du bist selbst schuld!“

„Wenn ich keine Matten flechte, haben meine Kinder nichts zu essen.“

Jadefisch schlug das Gewissen. Er löste einen Stein aus einer Kette. Jetzt erschrak der Mattenflechter wieder. „Ja … Ja … Jade zu besitzen ist verboten.“

„Natürlich.“ Jadefisch gab ihm stattdessen eine goldene Perle. „Die kannst du auf dem Markt versetzen.“

„Ich bin arm. Leicht kann man glauben, dass ich sie gestohlen hätte.“ „Dann kaufe ich den Mais für dich.“ Er schickte sich an, zum Marktplatz zu gehen, aber das Gefolge hielt ihn zurück: Der Himmel schwärzte sich. Es wurde dunkel wie zur Nacht. Frösche fingen an zu quaken, und ein verwirrter Rohrdump stimmte seinen Balzgesang an, so dass man vermeinte, eine tief gestimmte Zungentrommel zu hören.

Da war die Wetterfront auch schon heran. Wohl dem, der jetzt ein Obdach hatte. Das Spitzdach einer Pfahlhütte lugte durchs Schilf. Der Mattenflechter nahm die Beine in die Hand, und Jadefisch besann sich nicht lange. Kaum war er in Sicherheit, als sich der Himmel wütend auf die Erde stürzte. Der letzte im Gefolge wurde, noch auf der Stiege zur Hütte hinauf, bis auf die Haut durchnässt.

Drinnen herrschte Dämmerlicht. Schattenhafte Wesen hockten eng aneinandergedrängt um die Feuerstelle. Eine alte Frau rührte die Asche zwischen den drei Herdsteinen auf. Die Glut schlug einen Funken, und der Funke nährte eine Flamme. Die Frau setzte eine Tonpfanne darüber. Es gab nur diese eine, wie überhaupt der ganze Hausrat mehr als spärlich war. Ein Topf, von dem der Henkel abgebrochen war, ein abgenutzter Maismahlstein mit seiner Walze und ein paar Kürbisschalen. Eine Steinaxt. Weiter nichts. Die alte Frau griff in den Topf. Schlug in den Händen einen Klumpen Teig zu einem Fladen, den sie auf die Pfanne warf. Dann schaute sie auf. „Ixiptla-tzin …“ Sie entblößte die zwei Zähne, die sie noch besaß, und begann, den göttlichen Besucher in den höchsten Tönen zu preisen. Er habe den Regen zurückgebracht!

Der Wasserspiegel würde steigen, das Schilf neue Schösslinge treiben, die Fische würden laichen, die Vögel Eier legen, die Tomaten in ihrem Wassergarten, dem Pfahlbeet im See, die würden dick und rot. Und sie, sie würde ihr Elend vergessen, denn sie war Tezcatlipoca begegnet. Jadefisch lächelte verlegen. Das Mütterchen löste das Entschädigungsproblem, es hatte keine Scheu, ein Stückchen Jade anzunehmen, geschweige denn eine goldene Perle. Glücklicherweise endete der Regen bald, und Jadefisch konnte die Hütte verlassen. Die kleine Tochter des Mattenflechters zeigte ihm einen begehbaren Weg. Plappernd führte sie ihn erst ans Ufer, wo ihr Vater seinen Kahn an einem Steg vertäute, dann über einen Knüppeldamm durchs Ried auf die feste Straße zurück.

Im Tempel löste seine Rückkehr nicht die gewohnte Freude aus. Der Ixiptla glänzte nicht! Nicht nur waren die Sandalen und die goldenen Schellen schmutzverkrustet, der Dreck war ihm die Beine hoch bis an den Saum des Umhangs gespritzt! Auch das Gefolge hatte anscheinend ein Schlammbad genommen. Der Oberpriester wurde geholt. Schwer atmend begutachtete er die Zurückgekehrten. „Dort hinein!“ Das Gefolge wurde ins Priesterhaus getrieben. Zu Jadefisch sagte er beherrscht: „Sie haben dich nicht gut behütet, verzeih, Ixiptla-tzin.“ Später – das Gefolge hatte wohl inzwischen das Abenteuer gebeichtet – rügte ihn der Priester-Weise: „Gefällt es dir, die Leute zu erschrecken?”

„Gehören diese Hütten nicht zu eurer Stadt?”

„Die Leute sind es nicht gewohnt, dass ein Ixiptla bis zu ihnen kommt. Schon gar nicht, dass er sich im Schilf versteckt.”

„Willst du dem Gott den Weg vorschreiben?“ Jadefisch erschrak ein wenig vor sich, denn Tezcatlipoca hatte nicht mit ihm im Schilf gesessen. Oder doch? Was wollte denn der Priester-Weise anderes von ihm hören? Dieser wurde leiser: Das verehrte Gottesabbild möge auf sein Äußeres achten, wenn es sich in jene Gegend verirrte. Hörte der göttliche Schützling seinem besorgten Hüter noch zu? In seinem schwarzen Antlitz zuckte kein Muskel. Innerlich aber schämte er sich.

Der Ausflug zum fauligen Schilfwasser wiederholte sich vorerst nicht. In Tenochtitlan trafen jetzt aus allen Richtungen des Himmels Tributzüge aus den Provinzen ein. Dieses Schauspiel wollte Jadefisch sich nicht entgehen lassen. Vom Tanzplatz vor dem Singhaus aus sah er die Karawanen zum Schatzhaus ziehen.

„Über die Königliche Prachtallee!“, prahlte einer im Gefolge. „Zum Palast der Zwanzig Tore meines verehrten Oheims, des Großen Sprechers!“

Tzompan, Schädelwand. Der spielte sich gern als Neffe des Herrschers auf.

Im Gefolge begann man zu tuscheln. „Ob der Ixiptla das Schatzhaus beehrt?“

„Ob er dem Schatzverwalter zuwinkt?“

Schädelwand, der sich missachtet fühlte, rümpfte die Nase: „Pah! Was ist so Besonderes an einem Schatzverwalter?“

„Dass es deines geliebten Oheims Schatzverwalter ist!“ Wie Coxcox, Goldfasan, das sagte! So übertrieben weihevoll. Schädelwand ballte die Fäuste. ‚Ho’, dachte Jadefisch, ‚der braucht nicht viel, um in die Luft zu gehen.‘ Und Goldfasan? Der war ein Schalk. Wie spöttisch seine Augen blitzten!

„Du willst gleich deinen Herrscherneffenhals riskieren?“

„Sag das noch mal!“

„Wenn uns deinetwegen der Ixiptla entflieht, dann nehmen sie dich!“

„Nein, dich!“

„Weil du Motecuzomas vierhundertster Neffe bist?“

Schädelwand senkte die Stirn und preschte auf Goldfasan los. Der ließ ihn ins Leere laufen. Die andern im Gefolge feixten. Schließlich mischte sich ein Diener ein: „Gebt endlich Frieden, sonst nimmt man euch beide!“ Das einte die Streitenden auf der Stelle. Ehe man es sich versah, standen die vier Krieger-Wächter gegen die vier Priester-Diener, vier stolze Schöpfe, im Nacken mit weißen Bändern gebunden, gegen vier geschorene Häupter! Jadefisch lachte auf. Ihn überkam die Lust auf einen Streich. Er entfernte sich ein Stück von ihnen, um dann laut auszurufen: „Halloho! Habt ihr schon mal den Wind gefangen?“ Damit rannte er davon. Der verdutzten Wachmannschaft gelang es nicht, ihn aufzuhalten. Er lief mit flatterndem Gewand vor ihnen her und blieb erst auf dem großen Innenhof des Schatzhauses stehen, wo er ein Spottlied blies.

Das geschäftige Treiben hörte jäh auf. Die Träger, die Schreiber, die Tributeinsammler verharrten in der Bewegung. Der Schatzverwalter unter der schattigen Federstandarte blickte verärgert auf – weshalb wurde ihm nichts mehr angesagt, weshalb kratzte der Holzpinsel seines Gehilfen nicht mehr über das Papier, wer pfiff da bei der Arbeit? – O Gott, der Ixiptla!

Ein Diener öffnete ein kleines, kugeliges Gefäß mit Holzkohleglut, um für den Ixiptla eine Tabakspfeife anzuzünden. Dieser nahm einen tiefen Zug, wobei er den Rauch verschluckte und durch die Nasenlöcher wieder austreten ließ. Dann begab er sich in eines der Speicherhäuser. Der gleichermaßen geschmeichelte wie besorgte Schatzverwalter schloss sich ihm an. Wahrlich war Tezcatlipoca, der schurkische Spötter, in ihn gefahren. Musste er mit seiner Pfeife ausgerechnet in das Lager für die Baumwollstoffe gehen?

Dem Ixiptla lag nichts daran, die bunten Decken und die vielen verschieden großen Webstücke zu inspizieren, aus denen man die Umhänge nähte. Hätte er nicht den Blick auf seiner Hand gespürt, er wäre bald gelangweilt umgekehrt. Der Schatzverwalter starrte ängstlich auf den Pfeifenkopf, in dem es glomm. Vor einem Stapel Decken mit weißen Schneckenhäusern auf rotem Grund paffte der Ixiptla frech die kunstvollsten Kringel. Der arme Schatzverwalter beugte sich zu Boden – jederzeit bereit, den Funken auszulöschen, während er zum wiederholten Mal die Geste des Erdessens vollzog. Als der Ixiptla dann auch noch die Papierabteilung betrat, verlor der Schatzverwalter die Nerven. „Unser Papier! Unser weißes und braunes Papier!“

Wer interessierte sich für rohes, unbemaltes Papier? In hohen Stapeln wurde es gehortet.

„Wir dienen damit den Göttern. Wir fertigen ihre Kleider daraus, wir schneiden die Opferfähnchen … und stellen sie vor die Götterbilder …Wir schmücken die Opfersklaven damit …“ Durch das leise, ehrfürchtige Sprechen beruhigte sich der Schatzverwalter ein wenig. Dem Ixiptla hingegen wurde unwohl. Er stellte sich die Berge von Papier zu Streifen geschnitten als Zeichen des Todes vor.

„Nehmt ihr es nicht auch für Faltbücher und Schriftrollen?“, fragte er, um sich abzulenken.

Geflissentlich nickte der Schatzverwalter. „Die Papiermacher schälen die Feigenbäume. Mit ihren schweren Bastklopfern schlagen sie die Rinde breit – bum, bum, bum …“

„Bum, bum, bum …“, echote Jadefisch. Was machte er hier? Warum starrte ihm der Schatzverwalter auf die Finger? Funken sprühten aus dem Pfeifenkopf. Verlegen lächelnd trat er sie aus.

Wieder im Freien gesellte er sich zu einer kleinen Abordnung aus einer entfernten Provinz, die vor kurzem eingetroffen sein musste. Da er weder flötete noch rauchte noch sonst etwas tat, schaute bald alles auf den aztekischen Tributeinnehmer, der gelangweilt auf dem Platz neben seinem Schreiber stand. Wie der Ixiptla hielt er als Zeichen der Vornehmheit in der Hand einen Blumenstrauß, an dem er bisweilen roch. Endlich kam der Schatzverwalter aus dem Speicherhaus. Der Tributeinnehmer durfte sich nähern. Begrüßungen wurden ausgetauscht, ein Diener brachte eine Schriftrolle; dann wurden die Listen verglichen.

„Vierhundert rot gestreifte Decken …“

„Vierhundert schwarz gestreifte Decken …“

„Ein Quetzalfeder-Kriegeranzug …“

Die Träger liefen mit den Lasten auf dem Rücken in die angewiesenen Häuser. Kaum war alles verstaut, kam der nächste Zug.

„Achttausend Bündel Pfeile …“

Jadefisch gähnte. Da kam ein Läufer in den Hof geeilt. „Die Provinz der Totonaken, hoher Herr …“

„Kannst du nicht warten, bis du dran bist?“

Der staubbedeckte Bote senkte den Kopf. „Es kommen keine Tribute.“

„Was? Habt ihr euch etwa von den Regengottpriestern erwischen lassen?“

Goldfasan, der Schalk, stieß Schädelwand an. „Gleich kommt ein desolater Haufen, den man vermöbelt und ausgeraubt hat.“

„Bestimmt nicht! Schon lange hat sich keiner mehr erdreistet, das Eigentum des Großen Sprechers anzutasten.“

„Deines geliebten Oheims geschätzte Tribute! Was für ein Jammer! Die Regengottpriester bessern damit ihr Einkommen auf, der Herrscher selbst erlaubt es ihnen nach altem Recht.“

Dass sich Schädelwand nicht auf Goldfasan stürzte, lag am Gebrüll des Schatzverwalters. „Konnten diese Trottel keinen Bogen um die Regengottpriester machen?“

„Es ist viel schlimmer, hoher Herr!“ Wie eine aufgescheuchte Pute scharrte der Läufer mit dem Fuß und flüsterte dabei dem Schatzverwalter etwas zu.

„Was sagst du?“, schrie der Schatzverwalter. „Festgesetzt? In der Provinz der Totonaken? Die Tributeinnehmer? Alle fünf? Wie soll ich das dem Herrscher beibringen?“ Er zog die Schultern hoch. „Nun gut, ich habe nichts damit zu tun. Ich schicke erst mal einen Boten – oder soll ich mich lieber selbst darum kümmern? Ich muss allerdings zuvor die letzte Sendung fertigmachen. Wo war ich stehengeblieben?“

„Zweihundert Traggestelle …“, wiederholte der hilfreiche Schreiber, der neben seinem Herrn gewartet hatte.

„Siehst du“, triumphierte Schädelwand, „die Regengottpriester haben den Tributeinnehmern kein Haar gekrümmt.“

„Nein, nur die Totonaken. Das ist nicht der Rede wert.“

Es gab nur eine Antwort auf eine Rebellion. Der Ixiptla stimmte ein Kriegslied an und verließ das Schatzhaus in Richtung Adlertor. Dort, an der Südpforte des Tempelbezirks, befand sich das nächste der vier Speerhäuser der Stadt; er musste nur wieder auf die Prachtallee hinaus und dann noch ein paar Schritte bis ans Ende gehen.

Schon von weitem erblickte er das Speerhaus, das sich klotzig rechts und links der Pforte aus der Mauer erhob. Jadefisch blieb auf dem Vorplatz bei der Skulptur des Adlers stehen und blickte hinüber. Noch war es still. Noch schliefen die Kurzschwerter, Lanzen, und Schilde, die Pfeile, die Bögen, die Speere, die Schleudern, Fangnetze, Morgensterne – doch nicht mehr lange, und es nahte ihr Gebieter. Der hieß Tepehua, Herr der Berge, und er war, wie Schädelwand erklärte, ein Halbbruder des Großen Sprechers. Er sah vorsorglich nach dem Rechten, sicher würde er schon bald die Waffen an die Krieger verteilen. Jedoch zu Jadefischs Verwunderung geschah dies nicht, weder jetzt noch in den nächsten Tagen.

„Will dein geliebter Oheim nicht Vergeltung üben?“, fragte Jadefisch mit dem spöttischen Unterton, den er Goldfasan abgelauscht hatte.

„Der Große Sprecher kümmert sich doch nicht um Kleinigkeiten“, sagte Schädelwand pikiert, „schon gar nicht vor dem Fest der Regengötter.“

Er übertrieb natürlich. Ein Fest beanspruchte Motecuzoma mehr als eine Rebellion! Unglaublich! Schwankend zwischen Spott und Staunen ließ sich Jadefisch erzählen, wie der Große Sprecher auf die Doppelpyramide gestiegen war, um mit den Priestern um Regen zu fasten.

Und währenddessen zitterten die Totonaken vor Motecuzomas aufgespartem Zorn.

„Das ehrwürdige Gottesabbild wird wissen, dass der Große Sprecher nur mit dem Finger schnippen muss, damit die Totonaken sich besinnen“, fuhr Schädelwand fort. Jadefisch wurde es langsam zu viel. Seine Blicke tasteten die Prachtallee nach Abwechslung ab. Goldfasan reckte grienend den Hals.

„Was gibt es?“, wunderte sich Schädelwand.

„Nun, was siehst du?“

„Da eilen zwei Boten über die Prachtallee.“

„Ich würde eher sagen, sie schleichen. So schlappe Läufer – was für eine Schande!“

Jadefisch drehte sich um. Die beiden Läufer blieben keuchend stehen, um ihr Haar zu richten, denn aus den Knoten über dem Scheitel hatten sich Strähnen gelöst.

„Siehst du auch, was ich sehe?“, fragte Schädelwand zurück. „Steinpfeilerfrisuren? Gemusterte Baumwollmäntel? Ich will blind sein, wenn das nicht unsere Tributeinnehmer sind!“

Er kannte natürlich auch einen von ihnen. „Das war es!“, trumpfte er nun auf. „Der Totonaken-Häuptling ist bestimmt schon hingerichtet worden. Zwei Schergen haben ihn mit einer Baumwollschnur erdrosselt.“

„Das hat er sich gefallen lassen?“

„Ixiptla-tzin, was sollte er tun? Hinter den Schergen standen ja die Krieger aus unserer Garnison.“

„So einfach ist das?“

„Meistens“, sagte Schädelwand.

Jadefisch zog sich der Hals zusammen. Er warf einen Blick auf Goldfasan. Der widersprach nicht, sondern seine Augen glänzten vor Bewunderung. Wie mächtig Motecuzoma war!

Immer unwiderstehlicher zog es Jadefisch zum Königspalast. Bislang hatte er die Nähe des Großen Sprechers gemieden, hatte nur ein einziges Mal von der Pyramide des Tezcatlipoca in Richtung Süden auf die Palastanlagen geschaut. Was aber hatte er zu befürchten? Jadefisch begann, um den Palast zu streichen. Hier saß, im ersten Stock über der Marmortreppe, der Große Sprecher auf dem Jaguarthron und hielt die ganze Welt am Faden. Alles drehte sich um ihn.

Die zerbrochenen Flöten

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