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Die Regensonne hat die Macht ergriffen. Luft wird zu Wasser, Boden zu einem Laichgrund für Frösche und Kröten. Fische schwimmen durch die Straßen, springen die Stufen zum Thronsaal empor; auch er versinkt in der aquatischen Welt, Motecuzoma braucht dringend Kiemen – wo, bei den Göttern, bleibt der Diener?

„Totecuiyo?“

Na endlich. Aber weshalb hörte er den Diener so gedämpft, als ob er Stöpsel in den Ohren hätte? Viel zu langsam tauchte er aus den Fluten seines Traumes auf. Er schnappte nach Luft, ihn fror. Der Diener legte ihm einen Mantel um und stellte ein Feuerbecken auf. Über ihm prügelte der Regen das Dach.

„Bring noch sechs Papageienfedermäntel, mein Vater, von der Farbe des Feuers, mehr gelb als rot.“ Die Könige Cholollans, die er zu geheimen Verhandlungen eingeladen hatte, erholten sich in ihrer Residenz. Zu der Zeit, da die frühe Nachmittagssonne sich von den Wolken verschlucken ließ, hatten sie in Sänften mit falschen Emblemen die Brücke der Festung Xoloc passiert. Als sie ausgestiegen waren, hatte schon der Regen sie umsponnen. Unmöglich, dass ein Unbefugter sie erkannt haben könnte.

Der Diener kam wieder. Er schlug einen Vorhang hinter dem Thron zur Seite, und Motecuzoma schlüpfte durch die geheime Tür in den angrenzenden Saal, wo er neben Schilden, Fächern und Geschmeide auch die sechs Federmäntel vorfand. Er kontrollierte noch einmal alles und schritt zufrieden den Kreis der Sitze ab.

Am Abend empfing er die Gäste. „Meine älteren Brüder, ihr seid in eure Stadt gekommen – auf eure Matte, euren Thron.“ Er überreichte die Geschenke und bewunderte wortreich die ihren. Unvergleichliches Geschirr für seine Tafel, orangefarben und mit mythischen Szenen kunstreich bemalt, schimmerte im Fackelschein. „Was für eine Augenweide! Die Stadt der Grünfederschlange hat ihren Ruf zu Recht. Sie wird noch mehr Prestige erlangen – und meine älteren Brüder mit ihr.“

Links neben ihm raschelte Temic, der Herr Traum aus Cholollan-Am-Markt, erfreut mit seinem Federmantel. Nachtjaguar, der den Sitz zu seiner Rechten, angeblich um den Ältesten zu ehren, ausgeschlagen hatte, lächelte undefinierbar von gegenüber. Die Übrigen interessierten nicht.

Der Diener stellte einen Krug und sieben hohe Becher mit Trinkrohren vor Motecuzoma; der Gastgeber füllte sie eigenhändig. „Herz und Blut!“ Der rote, scharf gewürzte Schaum aus der frischen Kakaobohne zerging auf der Zunge. „Malt euch ein neues Reich aus – das wiedergeborene Reich der Tolteken, ein blühendes Land, von Eintracht regiert“, begann Motecuzoma, nachdem sie das Getränk genossen hatten. Er redete die Könige Cholollans um ihren Verstand, damit sie unbedingt dazugehören wollten. Er ließ das neue Reich erstrahlen; er säte Mais, der fünfmal trug, er pflanzte Bäume, die bis in den Himmel wuchsen, und baute goldene Städte ohne Festungsringe. Seine Gäste ließen sich verlocken.

„Was müssen wir dafür bezahlen?“, fragte Temic, der nicht nur der ranghöchste Sprecher der sechs, sondern auch der Oberste der Kaufmannschaft Cholollans war.

„Nichts“, sagte Motecuzoma betont. „Wir haben euch ja nicht erobert, und für einen freiwilligen Beitritt fordert der aztekische Bund niemals Tribut.“

„Nur freiwillige Geschenke“, stichelte der Sprecher links neben Nachtjaguar. Nachtjaguar selbst blieb unbeteiligt.

„Das ist so üblich“, rügte Temic. „Ich habe kein Problem damit. Wir werden schließlich alle davon profitieren.“

„Ach, sind wir schon beigetreten?“, gab die spitze Zunge zurück.

„Welchen Nutzen würden wir denn daraus ziehen?“, fragte Nachtjaguar.

Motecuzoma schwieg gewichtig. Die sechs sahen ihn erwartungsvoll an. „Ist Cholollan nicht die Stadt der Grünfederschlange?“, begann er endlich salbungsvoll. „Befolgen wir nicht alle seit jeher die Gesetze, die sie uns gab? Wie sollte sie da nicht die heilige Stadt unseres Reiches sein?“

„Ist sie das nicht längst?“, meldete sich der Älteste rechts neben Motecuzoma.

„Das würde niemand leugnen, zieht sie doch das ganze Jahr hindurch Scharen von Pilgern an. Allerdings war sie dereinst auch anerkannt als Ort der Fürstenweihen. Mit dem geheiligten Adlerknochen haben eure beiden Hohenpriester selbst den Mächtigsten der Welt die Nasenscheidewand durchbohrt und ihnen den Herrscherschmuck eingesetzt. So soll es wieder sein.“

Nachtjaguar und Temic tauschten einen Blick. „So viel Macht willst du uns geben?“, fragte für sie die spitze Zunge.

„Das ist mein Wille. Ich werde eure Hohepriester anerkennen.“

„Ach, meinst du: sie ernennen?“

Motecuzoma fühlte sich durchschaut. „Welchen Einfluss hätte ich wohl? Wählt ihr nicht stets die ältesten Priester? Ich werde dies gewiss nicht ändern.“

Damit schienen alle zufrieden. Temic kam auf den Handel zu sprechen. „Welche Privilegien lässt du unseren Pochteken, die mit ihren Tauschwaren bis an die Meeresküsten und in die Wälder der Maya ziehen?“

„Du fürchtest, Tenochtitlan will den Fernhandel allein kontrollieren?“

„Ihr habt nur wenigen Städten Fernhandelsrechte verliehen.“

„Wir brauchen ein zweites Zentrum jenseits des Popocatepetl: Cholollan.”

In Temics Augen glimmte es. „Und den großen Markt in Tepeyacac lässt du fallen?“

„Sollte ich so unbedacht sein?“

„Tepeyacac war nichts weiter als ein Dorf, bevor ihr es erobert habt.“

„Heute gehen alle Waren aus dem Süden und Osten über diesen Markt. Auch Händler aus Cholollan sind dorthin gezogen.”

„Uns kommt das nicht zugute. Sie zahlen bei uns keine Marktsteuern mehr.“

„Ihr tauscht nicht etwa billig ein? Federn, Steine, Silber, Gold – was immer ihr benötigt, um euren edlen Schmuck zu schaffen, den ihr dann teuer weiterverkauft? Ihr werdet jenen Markt sehr brauchen, wenn ihr noch reicher werden wollt. Wird man nicht bald überall nach Gegenständen der Verehrung lechzen? Reliquien aus der heiligen Stadt … Und überhaupt: Was willst du auf dem ohnehin schon überfüllten Platz am Tempel des Quetzalcoatl noch alles unterbringen? Vielleicht den großen Vogelmarkt?“

Temic lachte. „Um das Gekreisch der Aras reiße ich mich nicht.“ Der Scheinkampf war vorüber.

Allerdings lag die Entscheidung nicht allein bei Temic. Die Könige mussten sich einig sein. Und sie wussten, was Cholollan wert war. Motecuzoma musste jedem einen Wunsch erfüllen. Nur Nachtjaguar hielt sich zurück. Er allein schien nichts zu fordern, und das beunruhigte Motecuzoma.

„Was willst du außer unserem Beitritt haben?“

„Was sollte ich haben wollen, Nachtjaguar?“

„Den Festungsberg vor unserer Stadt?“

„Um euch zu schützen, mein älterer Bruder.“

„Nicht um Tlaxcallan anzugreifen?“

„Nein. Wir verletzen den Vertrag über den Blumenkrieg nicht.“

„Wir haben schon zu viele Menschen durch die Blumenkriege verloren.“

Das also war es. Motecuzoma atmete auf. „Die Zeit der Blumenkriege ist vorbei, jetzt sind wir Glieder eines Reiches.“ Er hatte diesen Part geübt wie ein Sänger sein Lied.

Nachtjaguar war aber noch nicht fertig. „Es geht die Rede, dass die Fremden, die bei den Totonaken sind, andere Götter verehren als wir – Götter, die keine Herzen begehren.“

„Sie ziehen sich auch kein Blut aus den Ohren“, wusste Temic zu berichten. „Lediglich räuchern sie und erniedrigen sich, indem sie niederknien. Wie ihre Götter davon leben können, begreife ich nicht.“

„Fast alle meine Söhne habe ich schon den Göttern gegeben”, sagte Nachtjaguar schlicht.

Also hatte er noch einen. Einen, der dem Vater auf den Thron folgen würde. Motecuzoma erwog im Stillen, ihm eine Tochter zur Frau zu geben.

„Jadefisch, mein Jüngster, ist Ixiptla.“

„Er ist der letzte Tezcatlipoca aus der Stadt der Grünfederschlange. Sein Name wird niemals vergessen werden.“

Motecuzoma wurde unbehaglich. Nachtjaguar sah ihn unverwandt an. Fast gehörte es sich nicht, dass er die Augen so lange auf ihn gerichtet hielt. Er forderte doch nicht … nein, das war ganz unmöglich. Die wenigen Gefangenen der Blumenkriege, die noch keiner Gottheit versprochen waren, konnte Motecuzoma vielleicht gehen lassen – nicht aber jene anderen, und einen Ixiptla schon gar nicht. „Der Gott der Götter hat ihn erwählt, Er-Durch-Den-Wir-Leben. Du kannst überaus stolz auf ihn sein.“

Nachtjaguars Gesicht erstarrte zu einer höflichen Maske. Motecuzoma wusste nicht, was er tun sollte. Temic sprang in die Bresche. Er fing an, Tezcatlipocas Namen aufzuzählen. Als er bei Er-Der-Seinen-Spott-Mit-Uns-Treibt angekommen war, hatte Nachtjaguar die Sprache wiedergefunden: „Er ist auch Der-Feind-Auf-Beiden-Seiten.“ So gab er zu verstehen, dass er sich dem Beitritt versperrte.

Aber Motecuzoma gab noch nicht auf. Er beschloss, seinen Gegner auf dem kochenden Boden der Ehre zu stellen. Leise seufzend bot er an: „Sollte dein Herz es wünschen, dass ich wegen Jadefisch mit Tezcatlipoca rede?“

Nachtjaguar sprang auf. „Du willst einen unbescholtenen Krieger entehren?!! So hat man uns noch nie beleidigt!“

„Willst du Jadefisch nicht wiederhaben?“

„Ich habe nichts dergleichen verlangt!“

„Dann habe ich dich falsch verstanden. Sag mir also, was du willst!“ Nachtjaguar setzte sich wieder. „Nichts! Ich will überhaupt nichts von dir!“

Die Verhandlungen waren gescheitert.

„Wir sollten morgen weiterreden“, schlug der Älteste noch vor.

„Wozu?“ Temic, der Herr Traum, sah die Dinge, wie sie waren. „Nachtjaguar ist stur. Selbst wenn die ganze Erde bebt, wird er sich nicht von seinem Platz bewegen. Ich reise ab.“

Motecuzoma verbarg seinen Ärger. Ruhig sah er Nachtjaguar an. „Du kannst dich immer noch entscheiden.“ Dann lud er die Gäste zu einem Bankett.

Wie eine Hummel summte es ihm in den Ohren: Der Große Sprecher gibt ein Fest! Heut Nacht im Haus der Wolkenschlangen. Er wusste es von Schädelwand. Der hatte mal wieder einen gekannt – einen Musiker des Hoforchesters.

„Was spielt er für ein Instrument?“

„Die Zungentrommel, Ixiptla-tzin.“

Jadefisch gab sich desinteressiert. Insgeheim jedoch zog es ihn dorthin. Sogar Könige wurden erwartet, und dass Schädelwand nicht wusste, wer sie waren, reizte ihn umso mehr. Auch das Gefolge schien darauf zu brennen. Goldfasan stellte allerlei Mutmaßungen über den Ablauf des Festes an.

„Was glaubst du, Schädelwand: Wird dein geliebter Oheim heute eher einen Alligator oder eine Boa servieren?“

„Da müssen wir in der Küche nachfragen, ich kenne den Koch.“

„Natürlich.“ Goldfasan griente. „Ist das nicht unter deiner Würde?“

„Es ist eine Ehre, dem Großen Sprecher dienen zu dürfen. Noch der geringste seiner Sklaven ist von Adel.“

„Dennoch wagst nicht einmal du, des Herrschers Neffe, dich ungeladen ins Haus der Wolkenschlangen.“

Das durfte nur der Ixiptla. Verstohlen sahen sie ihn an. Endlich ließ Jadefisch sich herab. „Von mir aus. Wenn es euch glücklich macht.“

Er ging jedoch nicht gleich dorthin, sondern geduldete sich bis weit nach Einbruch der Nacht. Erst als der Mond so klein und gelb wie ein halber Maisfladen über dem Adlertor stand, machte er sich auf den Weg. Wer hätte sich heute verlaufen können? Auch ohne Schädelwand hätte Jadefisch das Haus der Wolkenschlangen unter den Palastgebäuden leicht herausgefunden, denn die Trommeln hörte man von weitem.

Als er eintraf, ging es schon hoch her. Im Festsaal hing eine Wolke aus säuerlichem Atem und Rauch. Am Feuer tanzten schöne Frauen. Motecuzomas Gäste standen, saßen oder lagen überall im Raum. Jadefisch erkannte Tepehua, den Herrn des Speerhauses, wieder.

„Wer ist der Würdenträger neben ihm?“

Schädelwand stellte vor: „Atlixca, Erster des Kriegsrats und Herr des Richterhauses! Und da ist sogar der Cihuacoatl, die Weibliche Schlange!“

Das Amt eines Cihuacoatl gab es in Jadefischs Heimatstadt nicht. Man erzählte sich dort, dass sein Träger so etwas wie ein Kanzler und des Großen Sprechers Stellvertreter sei. „Das also ist der zweite Mann des aztekischen Bundes?“, spekulierte Jadefisch.

Schädelwand bejahte. „So wie du sagst, Ixiptla-tzin. Er empfängt seine Autorität von der Erdgöttin und kommt gleich nach dem Großen Sprecher.“

„Schädelwand übertreibt mal wieder“, sagte Goldfasan. „Er hat in den anderen Städten nichts zu sagen, denn die Macht des Cihuacoatls ist auf Tenochtitlan begrenzt.“

„Aber nicht mehr lange!“

„Noch wird das Bündnis vom Dreifachen Thron regiert.“

„Willst du sagen, mein verehrter Oheim …“

„Ist einer von dreien.“

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“

„Er ist der Erste unter Gleichen.“

„Dein Glück!“

„Wo sind denn die anderen beiden Großen Sprecher?“, fragte Jadefisch.

Schädelwand zuckte die Achseln. „Sie sind wohl nicht hier. Bei dem König von Tlacopan ist das auch kein Wunder. Der Tepaneken-Fürst ist hochbetagt. Jedoch Cacama? – Aber halt, da ist er …“

Die Frauen hörten auf zu tanzen, und der König von Tetzcoco, der zweiten Hauptstadt des Bundes, die am östlichen Seeufer lag, sprang zwischen die Feuer. Nun tanzte er zum Schlag der Trommeln. Er war jung, der Herr Cacama, 25 Jahre vielleicht. Im Nacken wippten ihm zwei bunte Federquasten. Sein geölter Körper glänzte wie ein Otterfell.

„Der erste Neffe deines geliebten Oheims“, stichelte Goldfasan.

Schädelwand reagierte nicht. Ein zweiter Mann sprang zu Cacama, sang eine weitere Strophe. Ihm floss über Haupt und Rücken ein funkensprühender, blaugrüner Kamm: Federn des Quetzalvogels, die das Feuer reflektierten. Es war die höchste Kriegsauszeichnung, die ein Mann erlangen konnte.

„Mein Oheim Cuitlahua, der Herr der Stadt Itztapalapan!“

„Du bist hier wohl mit jedem verwandt?“, stichelte Goldfasan weiter.

„Meine Mutter ist Motecuzomas Schwester.“

„Dann wirst du sicher selbst einmal König.“

Schädelwand betrachtete Goldfasan kalt. „Ich werde in Xochimilco, der Blumenstadt, regieren.“

„Meinen Glückwunsch“, sagte Goldfasan. „Hoffentlich erkennt dich unser Cihuacoatl auch an.“

Schädelwand griff Goldfasan am Schulterknoten. „Hüte dich!“ Dann stieß er ihn zurück. Die beiden anderen Wächter schritten ein. Einer packte Goldfasan, der andere Schädelwand.

Jadefisch beachtete sie nicht. Die Trommeln wurden lauter und schneller, Rasseln, Pfeifen, Flöten fielen ein. Die Sänger kreischten auf wie Möwen. Sie schienen jetzt um das Feuer zu fliegen, sie schienen mehr zu sein als zwei – ein ganzer Schwarm im Sturzflug auf die Beute, während das niederbrennende Feuer gespenstische Schatten erzeugte. „Owaja!“ schrie Cacama. „Owaja!“ rief Cuitlahua. Damit endete der Tanz. Der Saal applaudierte.

Es wurde immer heißer und dunkler. Die Fackeln an den Wänden und die Feuerbecken in der Mitte spendeten nur noch wenig Licht. Die nächsten Sänger waren kaum mehr auszumachen. Motecuzoma, hieß es, tanze, wohingegen andere meinten, er sitze unter seinem Baldachin. Die letzte Flamme sank in sich zusammen. Nur Holzkohle, halb von Asche bedeckt, glomm noch im Becken. Der Tänzer, wenn es ihn gab, zog sich zurück, und eine Zungentrommel – rrrattatick – fuhr wirbelnd auf.

Ein Schatten trat in die Mitte. „Einer unserer Feinde …“, flüsterte Schädelwand, der sich beruhigt hatte, Jadefisch zu, „… vielleicht einer der vier Herrscher von Tlaxcallan. Niemand soll ihn erkennen.“

Der feindliche König begann seinen Tanz. Wie er um das Glutbecken sprang! Etwas an ihm zog Jadefisch an. Er schob sich weiter nach vorne. Als der unbekannte König zu singen begann, setzte ihm der Herzschlag aus. Er kannte die Stimme, er kannte das Lied. Am Ende der Strophe fiel er unwillkürlich ein. Der andere verlor für einen Flügelschlag den Rhythmus, sang dann wie getrieben weiter, und Jadefisch antwortete wieder, diesmal aus einer anderen Richtung. Während dies eine Weile so ging, entfernte er sich im Dunkeln allmählich von seinem Gefolge.

Schließlich stieß er am Rand des Kreises beinah mit dem Sänger zusammen.

„Jadefisch?“

„Vater?“

„Du hier? Hat Motecuzoma dich holen lassen?“ Der Vater hörte es sich erstaunt, beglückt und auch ein bisschen aufgebracht an. Doch just in dem Moment wurde eine Kienfackel entzündet. Feuerschein strich über die beiden hin und beleuchtete ihre Gesichter.

„Ixiptla-tzin, Ixiptla-tzin!“ Die Umstehenden warfen sich nieder.

„Ich hätte es wissen müssen“, sagte Nachtjaguar dumpf. „Du bist ja das Abbild des Gottes.“ Auch er vollzog die Geste des Erdessens. Jadefisch, den dieser Anblick zutiefst schmerzte, stand wie versteinert. „Wer wagt es, eine Fackel zu entzünden?“

Alle Köpfe gingen in die Richtung, aus der die Stimme des Herrschers kam, der selbst noch immer im Dunkeln saß. Jadefisch machte sich das geistesgegenwärtig zunutze. Rasch zog er seinen Vater aus dem Fackelkegel. Dann erkundigte er sich leise nach seinem Befinden und nach der Lage in Cholollan.

„Motecuzoma will sich unsere Stadt einverleiben. Er hat viel, sehr viel, geboten – sogar das eine, dies jedoch auf eine Weise, dass ich es nicht annehmen kann”, presste Nachtjaguar mühsam heraus. „Ich weigere mich, seinem Bündnis beizutreten.“

„Und die anderen?“

„Sind gespalten. Temic wird mich hassen.“

„Fürchtest du nicht, dass Motecuzoma uns angreifen wird? Temic kann die Stadt an ihn verraten.“

„Dazu ist dein Onkel zu vernünftig. Und zu loyal. Außerdem kann sich Motecuzoma diesen Krieg nicht leisten. Sein Stern beginnt zu sinken.“ Jetzt sprach Nachtjaguar fest und bestimmend. „Höre: Der Große Sprecher von Tetzcoco hat einen unzufriedenen Bruder. Dieser, Prinz Ixtlilxochitl, Vanilleblume, hält sich für den legitimen Herrscher. Er meint, Motecuzoma habe ihn um sein Thronrecht betrogen. Vor drei Jahren lehnte er sich gegen die Königswahl auf. Da das Bündnis ihn nicht schlagen konnte oder wollte, wurde das Reich von Cacama geteilt. Vanilleblume regiert über den Norden. Aber er erstrebt noch immer Tetzcocos Thron. Er sammelt Verbündete gegen Motecuzoma. Schon rebellieren die Totonaken. Ihr beleibter König leitet den Aufstand von seiner Felsenburg aus.“

„Er wurde nicht hingerichtet?”

„Dafür ist Motecuzomas Besatzung nicht stark genug, und in der Regenzeit wird er kein Heer zur Küste schicken. Zudem werden die Totonaken von fremden, bärtigen Kriegern beschützt. Ihre Waffen sind Donner und Blitz.”

„Woher sollten solche Krieger kommen?”

„Aus dem Meer des Morgensterns.”

Nachtjaguar wollte noch etwas dazu sagen, besann sich aber anders. „Da kommen Motecuzomas Spione. Sie bewegen sich so linkisch, dass selbst ein Blinder sie bemerkt. Mit kleinen, runden Räucherschalen leuchten sie den Gästen ins Gesicht. Sie sind nur noch wenige Schritte entfernt.“ Er wandte sich zum Gehen. Sein Sohn hielt ihn zurück. Er löste einen Stein aus einer Kette. „Gib das meiner Mutter.“ Nachtjaguar öffnete die Hand, ächzte plötzlich wie ein Baum im Wind: „Davon wird sie auch nicht froh. Und ich …“

Das schwache Licht der Räucherschalen glitt über Nachtjaguar. Es streifte Jadefischs Füße. Es fiel auf das schwarze Schlangenmuster auf den Sandalen des Ixiptla! „Was erlaubt ihr euch?“, rief dieser, den Erbosten spielend. Während die Spione betreten ihre Lampen sinken ließen, entschwand Nachtjaguar.

Der Ixiptla nahm seine Flöte und spielte das Blumenlied des Tezcatlipoca. Gleich wurde es still. Die Feuer in der Mitte des Saales wurden wieder entfacht. Auf seinem Sitz unter dem Baldachin war Motecuzoma zu sehen.

Jadefisch drängte es nach draußen. Er musste auf der Stelle an die frische Luft. Den Ausgang suchend gelangte er an eine Wand, an die jemand immer wieder mit der Stirn anrannte. Ein anderer stand dabei und deklamierte Verse. „Sie sind im Land der Götter“, sagte Schädelwand, der den Ixiptla aufgespürt hatte. Eine Schale machte die Runde. Schädelwand griff dort hinein und hielt einen bräunlichen Pilz in die Höhe. „Das Fleisch der Götter, Ixiptla-tzin.“ Auch die anderen nahmen sich Pilze. Doch Schädelwand aß nichts davon, er würde den Ixiptla nicht entfliehen lassen. Als Jadefisch das sah, verzehrte er die seinen ohne Honig mit Hut und Stiel. Sie bissen im Hals. Ihm wurde heiß und alles um ihn gläsern. Die Menschen und die Dinge, selbst die Luft, begannen zu irisieren, und sein Vater war wieder da. Auch er war von einer Aura umgeben, er trug ein überirdisch schönes Jaguarfell von sattem Gelb, von dichtem Schwarz – so intensiv, dass Jadefisch hätte weinen mögen. Mit ausgestreckten Armen rückwärts gehend rief der Vater: „Jadefisch, folge mir!“ Das Echo war in seinem Kopf, als er am nächsten Tag in seinem Saal im Priesterhaus erwachte.

Eine quälende Unruhe bemächtigte sich seiner. Er dachte an Vanilleblume, den Rebellen. Cholollan musste unbedingt zu dessen Kriegsbund stoßen und die Feindschaft mit Tlaxcallan überwinden. Vanilleblume brauchte jeden Mann. Es war nicht gut, nur abzuwarten, sonst würde Cholollans Freiheit den Tag nicht überdauern, an dem Vanilleblume den Sieg errang und seine Mitstreiter belohnte. Nachtjaguars Sohn bekam glänzende Augen. Sein Herz schlug schneller – so, als gäbe es für ihn noch etwas zu wollen.

Die zerbrochenen Flöten

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