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Jadefisch erfuhr davon nicht das Geringste. Er konzentrierte sich ganz auf die Musik und spielte endlich makellos, er beherrschte das Blumenlied des Tezcatlipoca. Dennoch stimmte etwas nicht. „Gutes Handwerk“, lobte Eins-Affe, aber er schloss die Augen nicht mehr. Jadefisch war nicht zufrieden. Er wusste, dass er unter seinen Möglichkeiten blieb.

„Spotte nur! Vor meiner Erwählung habe ich besser gespielt.“

„Deine Flöte könnte klingen, als käme sie aus dem dreizehnten Himmel.”

„Dann hast du die Augen geschlossen.”

„Und du verspieltest dich.”

„Wie soll ich besser werden, wenn du mir das Zeichen nicht gibst?“

Eins-Affe nickte, tat ihm aber den Gefallen nicht. Jadefisch begann zu provozieren. Er flötete bald falsch, bald richtig, bald schlecht, bald gut, manchmal hinreißend – und beobachtete dabei Eins-Affe aus den Augenwinkeln. Es war lächerlich. Sie hatten beide Angst, der Lehrer wie der Schüler – Eins-Affe vor einem Rückfall Jadefischs und dieser davor, nicht weiterzukommen. Jadefisch fand einfach nicht heraus, wann er Eins-Affe betörte. Seine Willkür brachte ihn dabei allmählich von der überlieferten Weise ab. Ein eigener Gestaltungswille regte sich in Jadefisch und ließ ihn mit dem Muster spielen, das Tezcatlipoca den ehrwürdigen Vorfahren enthüllt hatte.

Der Priester-Weise beschloss einzugreifen. „Du darfst die Melodie nicht ändern.“

„Ich versuche lediglich, ihr Leben einzuhauchen.“

„Das vermagst du nur, wenn dich Tezcatlipoca leitet. Allein Sein Atem darf sich in der Blumenflöte bewegen.“

Jadefischs Brauen gingen nach oben. „Sternfinder, das verstehe ich nicht.“

„Die Macht des Blumenliedes kommt von unserm Herrn Tezcatlipoca. Er ist es, der damit die Menschen bezaubert – nicht du.“

„Aber …“

„Du bist nur Sein Gefäß. Mach dich leer, damit Tezcatlipoca in dich eintreten kann.“

Jadefisch legte die Flöte zur Seite. „Wozu bemühe ich mich eigentlich, wenn Ihm die leere Hülle genügt?“

„Jadefisch! Willst du Tezcatlipocas Nähe nicht? Seine Süße, Seinen wunderbaren Duft der kleinen weißen Puffmaisblüte?“

Jadefisch besann sich. „Doch, natürlich.“

„Dann öffne dich. Mach dich leer.“

„Wie, Sternfinder? Soll ich alles, was ich bin, vergessen?“

Sternfinder betrachtete Jadefisch besorgt. Eine dunkle Kraft schien ihn anzutreiben. Das Blumenlied des Tezcatlipoca wurde seit undenklichen Zeiten unverändert weitergegeben. Warum genügte es Jadefisch nicht, es so gut wie möglich zu spielen? Was bewog ihn, vom Muster abzuweichen? Er durfte sich Tezcatlipoca nicht entgegenstellen, noch sich mit Ihm identifizieren. Sonst würde ihn der Gott wie eine Eierschale zerbrechen.

„Wie hast du als Tempelschüler deine Skorpione gefangen?“

„Meine Skorpione?“ Jadefisch verzog angewidert das Gesicht. Die Knaben wurden nachts hinausgeschickt, um giftige Tiere zu sammeln. Die Priester brauchten sie für ihre schwarze Götterfarbe. Damit würde man auch Jadefisch bald bemalen.

„Wie konntest du sie fangen, Jadefisch?”

„Wie man es mich lehrte, Sternfinder.”

„Dachtest du dabei an deine Lehrer? Deine Freunde? Deine Feinde?” „Gewiss nicht.”

„Dachtest du, dass du gestochen werden, dass du gar sterben könntest?”

„Ich weiß nicht mehr. Ich glaube, ich habe an gar nichts gedacht.”

„Nur der Skorpion ist da. Er kriecht über den Boden. Er bewegt seine Scheren. Du, Jadefisch, bist nicht da. Deine Hände funktionieren ohne dich. Dein Geist ist leer wie das Gefäß für deine Beute.”

Fing Jadefisch an zu begreifen? Er sah den Priester-Weisen aufmerksam an.

„Nur der Skorpion ist da”, wiederholte dieser monoton. „Er kriecht, er bewegt seine Scheren.” Endlich entspannte sich Jadefisch. Hatte er verstanden?

Nun, in gewisser Weise. Jadefisch erinnerte den Skorpion und über ihm die feuchte Hand des Kindes. Woran dachte der Stachelbewehrte? Dass er gefangen, ja, zerstoßen werden könnte? Er tanzte, sein kopfwärts gebogener Schwanz mit dem Giftstachel zuckte im Takt, und seine Scheren wippten. Er behexte den ängstlichen Jäger, der seinen Bewegungen folgte, bis er ganz benommen war. Gegriffen hat ihn dann Ayo, Jadefischs Freund. Irgendjemand, irgendetwas rettete ihn immer.

Irgendetwas lag auch in der Luft. Die Menschen schienen auf etwas zu warten. Das mochte der erste Regenfall sein. Wenn jetzt kein Wasser kam, verdorrten die Saaten. Auf dem Weg zum Unterricht begegnete Jadefisch nun den Armen der Stadt, die sich vor dem Palast einfanden. Motecuzoma öffnete für sie den Speicher. Das tat er immer um die Jahreszeit, sobald der Hunger seine Fratze zeigte. Der Regen also. Unterschwellig aber spürte Jadefisch weitere Zeichen des Wandels. Eins-Affe, der um die Mittagszeit gern ein Nickerchen machte, blieb seit ein paar Tagen hellwach, und der Priester-Weise war nicht mehr immer bei der Sache. Neuerdings vergaß er, Jadefisch zu stechen, und ließ zu guter Letzt den Agavendorn im Priesterhaus liegen.

Auch der Amtsvorgänger hatte sich verändert. Einmal traf Jadefisch ihn auf der Straße. Flöte spielend kam er daher. Aber er glitzerte und glänzte nicht wie früher, trug keine goldenen Schellen mehr. Die schwarze Bemalung fehlte, sein Haar fiel nicht mehr lose herab, sondern war hochgesteckt wie bei einem verdienstvollen Krieger. Oh – und Mädchen hatte er bei sich. Als er Jadefisch erkannte, blieb er orakelnd vor ihm stehen. „Merkwürdige Dinge geschehen. Fremde sind an der Küste erschienen. Du wirst Unglaubliches erleben.” Dazu vernahm Jadefisch das irritierende Lachen der Frauen. Das Gottesabbild trieb wohl Schabernack mit ihm. Oder doch nicht?

Schließlich kam der große Festtag des Tezcatlipoca, an dem Sein Erwählter Tenochtitlan verließ. In einem bunt bemalten Boot paddelte man ihn südwärts über den See, um ihn an einem leeren Strand aus Muschelschalen abzusetzen. Von dort aus wanderte er auf die kleine, rote Tempelpyramide des Tezcatlipoca zu. Feierlich erstieg er sie, seine hellen Flöten spielend. Dabei zerbrach er eine nach der anderen und warf die Stücke in die auf dem Platz versammelte Menge. Ein Leuchten ging von ihm aus, das mit jeder Stufe wuchs. Als er die Plattform mit dem Heiligtum betrat, war er ganz von Licht umflossen. So empfingen ihn die Priester, so malte Jadefisch es sich aus, denn er sah ihn gar nicht wirklich. Er befand sich noch im Inneren der Pyramide. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihm. Die erregte Menge riss sich um die Reliquien. Immer, wenn Flötenteile niederfielen, johlte sie auf. Das Flötenspiel war auch zu hören, je höher das göttliche Abbild kam, desto reiner und schöner. Schließlich aber verstummte es. Ein Klagegesang erhob sich, schwoll an, verebbte in Schweigen. Der Gott war tot. Die Priester hatten ihm das Herz herausgeschnitten und boten es, damit das Leben fortbestand, der Sonne und dem Kreuz des Windes dar. Es zuckte noch; dem auf die Innentreppe gekauerten Lauscher pochte es in den Ohren. Seine Wahrnehmung setzte aus – er wurde auf die Plattform geschoben. Hinter der Statue des Tezcatlipoca kam er heraus. Der Priester führte ihn weiter, an der Opferschale mit dem Blut des anderen vorbei. Nun stand er oben auf der Pyramide als der erneuerte, der durch das Opfer verjüngte Gott, und wurde vom Volk bejubelt.

Deutlich zeichnete sich das Schicksal vor Jadefisch ab. Es hatte die klaren Konturen des mexikanischen Hochtals, das sich an diesem strahlenden Tag erstmals seinen Blicken auftat.

Er sah den grünen Ring der Berge, die Felder und Haine an ihrem Fuß und tief im Tal die langgestreckte Seenplatte mit ihren kleinen, bewohnten Inseln und den Wassergärten um diese herum. Wie funkelte die Wasserfläche! Wie herrlich schmückte sie das Perlenband der Uferstädte! Und im mittleren der Seen thronte stolz die Metropole Mexico-Tenochtitlan auf ihrer großen, befestigten Insel. Ihre hohen Tempelpyramiden ragten in den Himmel.

Jadefisch blickte nach oben. Dort saß die blaue Himmelsblüte mit dem gelben Pollen, und das Abbild aus Tlaxcallan flog als Kolibri in sie hinein. Jadefisch spürte den Sog, der von ihr ausging. Auch ihm würde die Sonne ihre Macht aufzwingen. Sie übte Gewalt aus, weil sie ohne Blut nicht leben konnte. Was aber wären wir ohne sie? Benommen von ihrer Hitze schloss er die Augen. Das pulsierende Zentrum blieb als dunkler Fleck auf seiner Netzhaut zurück.

Voller Ehrerbietung brachte man Jadefisch nach Tenochtitlan zurück. War das dieselbe Stadt, die er am Morgen verlassen hatte? Das Licht war auf dem Rückzug, so kurz vor Sonnenuntergang eroberten Schatten die Häuser.

Die Pyramide des Tezcatlipoca erhob sich im Südosten des Tempelbezirks auf einem großen, von Arkaden umsäumten Hof. Man geleitete Jadefisch durch den Wandelgang des Priesterhauses, und plötzlich stand sie riesig da! Unwillkürlich duckte er sich. Ihre vier Terrassenkörper türmten sich auf wie ein Ungeheuer. Zum Glück wurden gerade die Fackeln entzündet. Das Rückgrat jenes Tiers war nur die Treppenrampe, sein aufgesperrtes Maul nur die gezackte Mauerkrone auf dem Heiligtum. Jadefisch zieh sich der Torheit. Wie konnte er so kindisch sein?

Aus der Pyramide trat der Oberpriester. „Ixiptla-tzin!“

Ehrwürdiges Abbild? Natürlich. Jadefisch sammelte sich und grüßte zurück.

„Ixiptla-tzin, du wirst die Nacht im Heiligtum verbringen.“

Die unpersönliche Stimme ließ Jadefisch frösteln. Er sah in ein basaltenes Gesicht, in dem die Augen eines Jaguars glühten. Und sehnige Hände hatte der Oberpriester – Hände, die ein Opfermesser zu führen verstanden.

Jadefischs Blicke flohen seitwärts am Oberpriester vorbei. Da entdeckten sie Eins-Affe. Auch er gehörte dem Tempel an, und er, der als Lehrer immer so ernsthaft gewesen war, zog hinter dem Rücken des Oberpriesters eine flüchtige Grimasse, grotesk vom Fackelschein verzerrt. Jadefischs Mundwinkel zuckten. Der Oberpriester bemerkte den Kampf zwischen Lachen und Ernst im Antlitz des Gottesabbilds. „Tezcatlipocas unzählige Eigenschaften färben auf seine Diener ab”, tadelte er Eins-Affe. „Sternfinder ist auch hier”, sagte er dann unerwartet mild zu Jadefisch. „Du kannst ihn alles fragen.“

In die Pyramide war zu ebener Erde ein Raum mit einer kleinen Hinterkammer eingelassen. Dort fand Jadefisch den Priester-Weisen, beleuchtet von einem Feuergefäß.

„Sternfinder!”

„Ixiptla-tzin!”

„Bin ich jetzt wirklich … Tezcatlipoca?”

„Du bist Sein Abbild, Sein Ixiptla – die Haut, in die Er schlüpft, so oft Er will.“

„Und was ist mit … Jadefisch?“

„Es gibt ihn noch. Aber er sollte sich ruhig verhalten.“

„Und wenn der Gott nicht in mir ist?“

„Lässt du es niemanden merken.“

Jadefisch dachte an den Ixiptla aus Tlaxcallan. Ob sich dieser wohl mit oder ohne Tezcatlipoca dem Tod überantwortet hatte? Er fühlte sich wieder auf jenen Tempel versetzt. Er hörte wieder das Klagen der Menge und ihren Jubel, als er vorgetreten war. Den tosenden, nicht enden wollenden Beifall, und plötzlich verspürte er Wut. Den Azteken war es einerlei, ob Tezcatlipoca ihn beseelte! Ihnen genügte ein Als Ob. Eine Flut von Bildern schlug über Jadefisch zusammen. Da war die kleine, rote Pyramide des Gottes … die Sonne beschien die Stufen, die eine Gestalt emporschritt und dem Volk die zerbrochenen Flöten zuwarf, während sie das Blumenlied des Tezcatlipoca zerfetzte. Sie spielte es so gräulich falsch, dass niemand es je würde vergessen können. Unten stand die Menge, verständnislos schweigend und unbeweglich wie eine Wand. Niemand stritt um die entweihten Überreste einstigen Wohlklangs.

„Was ist dir?“

Jadefisch saß mit zusammengekniffenen Augen und geballten Fäusten da. Der Priester-Weise rüttelte ihn. „Der Gott ist oft sehr weit von uns entfernt. Aber am Tag des Opfers wird Tezcatlipoca dich vollständig erfüllen.“

Der Priester-Weise erinnerte Jadefisch daran, dass es der Gott war, der starb. Jadefisch brauchte keine Angst zu haben. „Das wirst du verstehen, wenn du bei der Statue gewesen bist. Dann erfährst du die göttliche Kraft. Wenn du zurückkommst, gibt man dir Tezcatlipocas Insignien und Seine Kleider. Du wirst mit Seiner Farbe bemalt, die dir die Furcht nimmt, und des Nachts wirst du in Seinem Quell, dem Schwarzen Wasser, baden. Nun geh nach oben in Sein Heiligtum.”

Jadefisch zog sich dorthin zurück. Nur ihm, Tezcatlipocas Priestern und dem Herrscher war es erlaubt, sich in dem Raum mit der Statue aufzuhalten. Sie war ein Meisterwerk der Kunst. In einem Stück war sie aus einem Block von makellosem, schwarzem Obsidian gehauen worden und hatte feurige Augen aus blauen Türkisen. Sie stand auf einem steinernen Altar, so dass der Eintretende zu ihr aufschauen musste. Vor ihr brannte in einer Schale ein ewiges Feuer. Erst nach geraumer Zeit, als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte Jadefisch, dass die Figur auch prachtvoll geschmückt und gekleidet war. Goldene Ohrringe und ein kristallener Lippenpflock mit einer zarten blauen Feder darin zierten das Antlitz, Reifen und Schellen die Hände und Füße. Ein fein gewirkter Netzumhang aus weißen und schwarzen Fäden umspielte den Leib und hob dabei den funkenden Türkis des Bauchnabels hervor. Am eindrucksvollsten aber waren die herrlichen Schwanzfedern eines weißen Reihers, die dem Gott im Haarknoten steckten.

Ja, Tezcatlipoca war der Inbegriff männlicher Schönheit. Ihm hierin zu gleichen, war eine der Aufgaben Seines Ixiptla. Scheu betrachtete Jadefisch das glänzende Antlitz. Er erschrak vor den strahlenden Türkisaugen, die die Welt in Brand setzen konnten. Rasch wandte er den Blick von ihnen ab – doch nur, um in der Hand des Gottes den dunklen Spiegel zu entdecken, der in der Mitte durchbohrt war. Darin sah Tezcatlipoca den verborgenen Grund der Dinge; er blickte mit dem Spiegel, wie man sagte, in das Innere von Holz und Stein, Er erkannte alles, was verhüllt war – auch die Menschenherzen. Jede Tat, selbst jeder Gedanke und jeder Zweifel, fing sich in dem Spiegel aus schwarzem Obsidian, und dann brachte Tezcatlipoca alles, das Gute wie das Böse, ans Licht. Er sorgte dafür, dass sich alles manifestierte. Der Gedanke musste weitergesponnen, der Zweifel erhärtet werden. Gutes wie Böses musste gelebt werden, und wenn es böse war, verdarb der Gott den Schuldigen gnadenlos.

Jadefisch begann zu zittern. ‚Oh, dass ich nicht in Seinem Spiegel bin, dass ich nichts denke, fühle, will und frage, was Ihm nicht gefällt.‘ Er sank auf den Steinfußboden. Wenn nun die Statue sich bewegte? Wenn sie den Fuß hob, wenn dabei die goldenen Schellen aneinanderschlugen? Wenn sie den Arm ausstreckte und dabei die Schmucksteine zu klingeln begannen? Schauer jagten Jadefisch über den Rücken. Wie gern wäre er geflohen, aber draußen standen Wächter. ‚Oh, dass ich nichts Unrechtes in mir habe!‘ wünschte er sich. ‚Dass ich niemals wieder einen falschen Ton erzeuge!‘ Die heilige Flamme knisterte, und Tezcatlipoca schwieg. Was sah Er in Seinem Spiegel? Bloß jetzt nichts fragen, nichts fühlen, nichts denken, nichts wollen. Damit nicht irgendetwas in Jadefischs Herzen Seinen Zorn heraufbeschwor. Endlich verfiel er in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem er immer wieder aufschreckte. Er sah sich Körbe und Kisten ausleeren. Mit fahrigen Bewegungen stieß er Gefäße um, in denen sich zu seinem Entsetzen immer noch Dinge befanden. Erst am nächsten Morgen wurde der Träumer von dieser erschöpfenden Arbeit befreit.

Der Priester-Weise Sternfinder und Yaopol, der Oberpriester, führten ihn in den Königspalast. Der Große Sprecher saß auf dem mit einer hohen Rückenlehne versehenen Thron, der zugleich sein Richterstuhl war. Auch er war ein Abbild des Gottes, auch er verkörperte in dieser Welt Tezcatlipoca.

Die Einkleidung eines Ixiptla nahm er seit siebzehn Jahren vor, er musste sich darauf schon lange nicht mehr konzentrieren. Aber diesmal war es anders. Jadefisch war der Sohn seines Widersachers Nachtjaguar. Er gab Motecuzoma das Gefühl, etwas falsch zu machen.

Die Priester nahmen Jadefisch den Umhang ab. Nackt stand er vor dem Großen Sprecher, der ihn, dem Ritual folgend, mit „mein geliebter Gott” anredete. Zum Glück sieht ihn so niemals eine meiner Töchter, musste er denken. Das irritierte ihn noch mehr. Er sollte Jadefisch in Tezcatlipoca verwandeln und wusste plötzlich nicht mehr, wie. Neben dem Thron lagen die Sachen. Motecuzomas Blick fiel auf die lange, kostbar verzierte Schambinde. Er ließ sie sich geben, um den Ixiptla zu bekleiden. Was starrte ihm der Oberpriester dabei auf die Hand? Motecuzoma wurde klar, dass er die Reihenfolge der rituellen Handlungen vertauscht hatte. Er hätte zuerst die Gesichtsbemalung vornehmen müssen, hätte dem Ixiptla die schwarze Farbe des Fastens und der Enthaltsamkeit auftragen müssen. Ein solcher Fehler war ihm noch nie unterlaufen. Scheinbar gelassen machte er sich an das Auftragen der Farbe. Dann folgte die Haartracht. Er kämmte das lange Haar eines Jünglings, der sich noch nicht im Kampf ausgezeichnet hatte, und klebte die mit Harz bestrichenen Adlerdaunen, das Zeichen des späteren Opfers, hinein. Motecuzoma gewann die Sicherheit zurück. Beim Anlegen des Schmuckes halfen ihm die beiden Priester. Nacheinander reichten sie ihm Armbänder und Ketten, die goldenen Ohrgehänge, den weißen, aus einer Meeresschnecke geschnittenen Lippenpflock und zum Schluss den kristallenen Stab mit der Feder, den er dem Abbild durch die Nasenscheidewand zog. Er setzte ihm den Kranz aus weißen Puffmaisblüten aufs Haupt, warf ihm den schwarz-weißen Netzmantel um, band ihm je zwanzig goldene Schellen um die Waden und hüllte seine Füße in Sandalen aus Jaguarfell. Er machte keinen weiteren Fehler mehr in der Reihenfolge. Befriedigt betrachtete er sein Werk. Das Abbild des Gottes sah prachtvoll aus. Es konnte in die Welt entlassen werden. Motecuzoma klatschte in die Hände. Acht junge Männer erschienen – vier Krieger, vier Priester. Sie schworen, dem neuen Abbild zu dienen – auf Schritt und Tritt, bei Tag und Nacht.

Jadefisch fing an, sich stark zu fühlen. Kurz nachdem der Herrscher ihm die Götterfarbe aufgetragen hatte, intensivierte sich seine Wahrnehmung der Dinge. Als er mit seinem stattlichen Gefolge den Palast verließ, spürte er eine kleine Sonne im Bauch. Sie wärmte, ohne zu verbrennen. Aus der harten Straße wurde federnder Wiesenboden. Die Luft durchschwirrten Kolibris, das Wasser des Kanals entlang der Königlichen Prachtallee glitzerte in allen Farben. Die Menschen, die ihm dort entgegenkamen, liebten ihn, er liebte sie. Er war jung und schön und fühlte sich zu allem fähig. So also war es, wenn man ein Gott wurde. Dann wandelte sich das dunkle Schicksal in etwas wunderbar Verheißungsvolles. Der blaue Himmel war ein Kelch der Freude, der ihm zuteil werden würde, wenn der Tag des Opfers sich jährte. Gelöst nahm er sein Amt auf. Zuerst besuchte er die große Doppelpyramide, die dem Kriegsgott Huitzilopochtli und dem Regengott Tlaloc gewidmet war und sich – nur einen Pfeilschuss weit von seinem eigenen Tempel entfernt – mit ihren beiden Heiligtümern hoch über die anderen Bauten erhob. Nach seinem Aufstieg über steile 114 Stufen stand er atemlos dort oben, mit einem Rauschen in den Ohren und einem Schwindelgefühl im Kopf. Erst konnte er kaum etwas sehen, doch dann hob sich der Schleier von den Augen, und da lag die Stadt zu seinen Füßen! Tenochtitlan! Ein riesiger Bienenstock, durch hohe Dammstraßen und Aquädukte in Viertel geteilt und dem Festland verbunden, schwamm, Wabe an Wabe, auf der Lagune. Wie viele Häuser mochte es in jeder Himmelsrichtung geben? Zwei mal achttausend – oder noch mehr? Berauscht zog er die Flöte hervor und blies in die vier Winde hinaus.

Die zerbrochenen Flöten

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