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Der Große Sprecher dachte indes ganz und gar nicht abschätzig von Jadefisch. Zwar war noch nie ein Spieler ausgezeichnet worden, der das Blumenlied Tezcatlipocas ruinierte, doch sah er darin eine Fügung. Hatte Jadefisch nicht wunderbar gespielt, bis ihn der Gott hatte straucheln lassen? Und warum? Doch nur, um ihm, Motecuzoma, einen Wink zu geben – denn Jadefisch war ein Geschenk.

Sein Vater war Motecuzomas letzter ernstzunehmender Widersacher in der Stadt der Grünfederschlange. Hartnäckig weigerte Nachtjaguar sich, dem aztekischen Bund beizutreten, stellte sich lieber den verlustreichen Blumenkriegen, auf denen Motecuzoma eben deshalb gnadenlos bestand. Vor einem Menschenalter hatte man den Vertrag darüber ausgehandelt. Er sicherte die Opfer für die Götter, aber auch die Unabhängigkeit der Mitgliedsstaaten; Motecuzoma dachte hier vor allem an das nördlich von Cholollan liegende Tlaxcallan, dann auch noch an das kleine Huexotzinco, das wie ein Adlerhorst im Bergmassiv des Popocatepetl saß. Motecuzoma durfte diese Gegner nicht erobern, sie ihrerseits sich ihm nicht unterwerfen.

Nun sollte Jadefisch Motecuzomas Lockvogel sein. Nachtjaguar würde seinen Sohn als Abbild des Tezcatlipoca in ganzer Pracht erleben wollen. Und wenn er erst in Tenochtitlan war, konnte er sich den Gesprächen kaum entziehen, die Motecuzoma den Königen von Cholollan anbot.

Nachtjaguar war früher oder später ohnehin gezwungen zu verhandeln. Er brauchte sein geschrumpftes Heer neuerdings zum Schutz der Stadt. Tlaxcallan, der größte und stärkste der Blumenkriegsstaaten, strebte nach der Herrschaft über seine Nachbarn. Es nutzte jede Schwäche aus – und was für eine fette Beute wäre die Stadt der Grünfederschlange!

Ein anderer, ein kalter Wind begann zu wehen. Nicht nur Nachtjaguar wappnete sich. Motecuzoma witterte darin die Chance seines Lebens: ein Reich, von ihm allein regiert! Wenn sich die Gegner stritten, konnte er sie einzeln unter seine Herrschaft zwingen. Zuerst den schwächsten und dabei doch angesehensten: Cholollan.

Motecuzoma kam ins Träumen. Was für eine Stadt das war! Cholollan war fast so alt wie die Welt. Es hütete das Erbe zweier alter Reiche, die längst zu Staub zerfallen waren. Das erste, ältere bestand nur noch in Träumen fort. In ihm hatte es noch Riesen gegeben, und es war dunkel gewesen, bis zwei Götter als Leuchten an den Himmel gestiegen waren. Das war in der großen Stadt der Götter, in Teotihuacan, geschehen. Motecuzoma kannte jene beiden gewaltigen Hügel, auf denen einst die Götter ihre Scheiterhaufen errichtet hatten, um sich durch die Kraft des Feuers in Sonne und Mond zu verwandeln. Immer, wenn er sein Orakel dort aufsuchte, maß er sie mit den Blicken ab, erklomm er ihre Hänge im Geist. Einmal hatte er sie selbst erstiegen, um eine Opfergabe dort niederzulegen. Seither stellte er sich vor, dass in ihrem Innern Pyramidenstümpfe steckten.

Auch in Cholollan gab es eine solche Pyramide, den „Von Menschenhand Gemachten Berg“. Längst hatte dichtes Buschwerk ihn besiedelt, so dass er wie ein natürlicher Hügel aussah. Es hieß, die Riesen hätten ihn errichtet. Und eine Quelle sollte dort entspringen, die dem, der aus ihr trank, ein langes Leben schenkte.

Von dem zweiten und jüngeren Reich, dem der Tolteken, bewahrte Cholollan noch weitaus mehr, denn kein Geringerer als der große Gott Quetzalcoatl, der Herr Grünfeder-Schlange, war in der Stadt gewesen und hatte ihr sein Erbe hinterlassen. Einst hatte er über die Tolteken geherrscht und ihre Metropole Tollan zum Inbegriff aller erstrebenswerten Dinge gemacht. Das Kunsthandwerk, die Schrift, die Religionsausübung, die Art, wie man regierte, wie man baute – alles ging auf ihn zurück. Das Reich von Tollan blühte und gedieh, solange Quetzalcoatl darüber wachte. Doch wie die Menschen hatten auch die Götter Feinde. Eines Tages tauchte darum folgerichtig der Gegenspieler des Quetzalcoatl auf: Tezcatlipoca, Rauchender Spiegel. Dieser wandte seine schwarzen Zauberkünste an. Quetzalcoatl fiel auf ihn herein, ließ sich austricksen, verführen, betrügen, und am Ende floh er aus Scham. In weitem Bogen südwärts ziehend gelangte er zunächst zu dem Von Menschenhand Gemachten Berg. Man hieß ihn dort willkommen, man setzte ihn auf seine Matte, seinen Thron, begann, ihm eine neue Pyramide zu errichten – vergebens: Er regierte nicht. Sein Feind, Tezcatlipoca, fand ihn tief im Innern, und er floh erneut. Es trieb ihn ohne Rast und Ruhe immer weiter, bis zum Rand der Welt und zum Schluss aufs Meer hinaus.

Hinter seinem Rücken zerfiel das Toltekenreich. Dürre, Hunger, Kriege verheerten das Land. Die Städte fielen eine nach der andern. Der Palast des Quetzalcoatl in Tollan wurde zur Ruine, wo der Wind um dächerlose Säulen pfiff. Nur Cholollan, die Schöne, konnte sich halten. Quetzalcoatl hatte, als er ging, der Stadt ein paar Reliquien gegeben, die seine göttlichen Kräfte enthielten, und diese schützten sie. Motecuzoma hatte die Reliquien noch nie gesehen. Sie wurden von Cholollans Priestern an geheimem Ort verwahrt und nur alljährlich einmal auf die neue Pyramide des Quetzalcoatl getragen. Dann erhob sich immer der Wind. Der Gott in seiner Tiergestalt flog durch den Himmel, die Schuppen tauig glänzend und mit der Saat für die Felder beladen. Schon sah Motecuzoma sich dort oben stehen als der Eine Sprecher der Welt im Ring des Wassers. ‚O Herr des Neuen Reiches von Cemanahuac‘, sagten die Hohepriester. Motecuzoma hörte es rascheln, als würden sie schon das Bündel mit den Reliquien enthüllen.

„O Totecuiyo, mein Enkel …“

„Was gibt es, mein Vater?“ Vor Motecuzoma kauerte sein alter Diener. Die Gegenwart verlangte ihr Recht.

„Der Herr-Des-Schwarzen-Hauses, der als zweiten Titel den eines Fürsten-Priesters führt, der Herr Opossum wartet draußen.“

Motecuzoma war alarmiert: Wenn Opossum ungerufen und in Person erschien, dann war etwas Bedeutsames geschehen. Sein Gehörsinn schärfte sich; Opossum pflegte nur zu flüstern.

„Die Wasserhäuser sind zurückgekommen, Totecuiyo.“

„Dieselben wie im letzten Jahr?“

„An ihren Masten blähen sich die gleichen weißen Planen mit dem roten Kreuz des Himmels. Aber es sind diesmal mehr: Elf Schiffe kamen die Küste herauf. Ihre Besatzung ist in Xicalanco, noch bei den Maya, an Land gegangen. Es kam zu einem wüsten Gefecht, bei dem die Fremden obsiegten. Der Mayafürst hat sie mit Geschenken versöhnt, so dass sie weiterfuhren.“

„Wo sind sie gelandet?“

„In der Provinz der Totonaken.“

„Wer führt sie an?“

„Ein Mann mit einem aschefarbenen Gesicht und einer Narbe an der Unterlippe, von seinem dichten Bart nicht ganz verdeckt – und er begann sofort, nach dir zu fragen.“

„Wer ist er?“

„Ein Fürst vom anderen Ufer des Meeres.“

Motecuzoma spürte den Boden unter sich wanken. Er hörte nicht mehr, was Opossum ihm weiter zu berichten hatte. Er dachte nur noch eins: Quetzalcoatl. Kam Er jetzt vom Meer zurück?

Wenig später schickte ihm der Diener den Tributeinnehmer. Dieser hatte, wie im Vorjahr, Bilder von den Fremden malen lassen. Der Herrscher erblickte die gleichen bärtigen Krieger mit der hellen Haut, die von Kopf bis Fuß in dicken Kleidern steckten, die Helme, Harnische und lange, glatte Schwerter ohne Seitenklingen trugen. Aber diesmal waren da noch ungeheuerliche Kreaturen mit zwei Leibern, Doppelwesen, deren Unterhälfte großen Hirschen und deren Oberhälfte Männern glichen! Er sah ein Rohr auf einem Gestell, und der Tributeinnehmer schwor, dass dieses Ding runde Steine spie – fähig, Bäume zu zerfetzen! Zweifellos besaß der Gott mächtige Waffen und Zaubertiere. Motecuzoma schauderte bei dem Gedanken, dass er Ihn durch seine Pläne mit der Stadt der Grünfederschlange selbst herbeigerufen haben mochte.

Quetzalcoatl schien ihm aber nicht zu zürnen, denn Er machte ihm Geschenke. Es waren wundersame Dinge, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Tiefrote Perlenschnüre funkelten ihn an. Dann kam ein Thron mit runden Seitenlehnen, in dem er kaum die Füße kreuzen konnte, der aber höher als der seine war. Ein roter Stoffhut, weich wie Moos – der hatte einen goldenen Schmuckbesatz mit einer verwirrenden Kampfszene darauf. Motecuzoma konnte umso weniger damit beginnen, als er noch einen Helm erhielt, den er mit Goldstaub füllen sollte. Verlangte der Gott Tribut von ihm?

Der Herrscher brauchte eine Rückversicherung bezüglich der Natur des Fremden. Er ließ die klügsten Priester rufen. Kaum hatten sie den Saal betreten, stieg er von seinem Thronpodest, um ihnen die seltsamen Gaben zu zeigen.

„Was seht ihr?“

„Totecuiyo …“ Die Priester wirkten irritiert. Sie sahen einen Thron aus Holz, sie sahen lange Perlenschnüre, einen Hut und einen Helm. „Betrachtet alles ganz genau! Saht ihr jemals einen solchen Thron? Wer könnte höher als ich selbst sitzen?“

„Sicher will dich jemand ehren“, versuchten sie sich. „Ja, man möchte dich erhöhen.“

Motecuzoma sah sich unwillkürlich auf der Pyramide des Quetzalcoatl in Cholollan. „Was haltet ihr von diesen Perlen?“ fragte er hastig.

„Roter Bergkristall?“, mutmaßte einer.

„Saht ihr je dergleichen?“

Die Priester schüttelten die Köpfe. „Was für eine Kostbarkeit!“

„Erlaubst du, Totecuiyo?“, wagte der Priester-Weise Sternfinder sich vor. Motecuzoma nickte. Der Priester-Weise griff sich eine Schnur heraus und ließ sie durch die Finger gleiten. „Die Perlen sind fast so leicht wie Korallen. Sie sind nicht aus Bergkristall.“

„Woraus dann?“

„Das Material ist mir unbekannt.“

„Dann ist es Blendwerk, Zauberei!“, befand Sternfinders Vorgesetzter. Als Oberpriester des Tezcatlipoca besaß Yaopol, Großer Feind, in religiösen Fragen eine beinahe schon göttliche Autorität. Alles starrte auf die Hände mit den Perlen. Wenn Sternfinder nun eine Krankheit befiel?

„Der würdige Yaopol-tzin hat hoffentlich nicht recht“, sagte Motecuzoma verstimmt. „Auch ich habe diese Perlen berührt.“ Nun war er es, dem man verstohlen auf die Hände schaute.

Der älteste Priester rettete die Situation. „Seht doch, seht doch die Farbe der Perlen! Wie das Morgenrot! Wie der Löffelreiherfedersitz der Sonne! Totecuiyo, woher kommen die Geschenke?“

„Aus dem Osten.“ Motecuzomas Spannung wuchs. Er sprach nun von den Wasserhäusern von jenseits des Meeres.

„Ein anderes Ufer?“ Die Priester legten sich ungläubig die Hand auf den Mund. Dann begannen sie zu deklamieren.

„Die Welt ist von Wasser umgeben …“

„Wie ein Schildkrötenpanzer ragt sie aus dem endlosen Meer …“

„Das nur der Himmel begrenzt.“

„In der Ferne türmen sich die Wassermassen zu einer unermesslichen Wand …“

„Auf der die Himmelsschichten aufliegen.“

„Wer von dort kommt …“

„Ist ein Gott.“

Motecuzoma ließ sich verleiten. „Ja! Unser Herr Quetzalcoatl ist zurückgekehrt!“

Als Erster fasste sich der Oberpriester. „Wie willst du Ihn empfangen, Totecuiyo?“

„Mit einem Schatz, der seinesgleichen sucht. Die besten Kunsthandwerker haben ihn erschaffen: Zeremonialwaffen, Brustpanzer, Schilde. Goldene Meeresschnecken, künstliche Vögel aus echten Federn, deren Kiele in Gold gefasst sind, mit goldenen Füßen, Schnäbeln und Augen, die sich der Gott in den Kopfputz steckt. Federmäntel, Baumwollstoffe, hauchdünn und mit Kaninchenhaar durchwirkt, verziert mit Quetzalcoatls Symbolen. Als Krönung zwei Kalenderräder, ein goldenes mit der Sonne, ein silbernes mit dem Mond.“

„Gibst du kein Buch mit, Totecuiyo?“

„O doch, das älteste, das wir von unserm Herrn bewahren. Und dann“, Motecuzoma senkte die Stimme, als wolle er ein Geheimnis weitergeben. „Seht ihr den Helm bei den Geschenken? Ihn wünscht der Gott bis an den Rand mit Gold gefüllt zurück.“

„Wozu braucht ein Gott einen Helm voll Götterdreck?“, entfuhr es dem Priester-Weisen Sternfinder.

„Ja, wozu?“, bestärkte ihn der Oberpriester. „Braucht Er nicht vor allem Opferherzen?“

„Er wird auch sie erhalten. Yaopol-tzin, du begleitest die Gesandtschaft und nimmst Opfersklaven mit.“ Motecuzoma wollte die Beratung schließen, aber Sternfinder räusperte sich:

„Totecuiyo, Unser Herr! Wie zeigt sich uns der Fremde? Trägt er die Vogelmaske des Quetzalcoatl? Seinen Hut aus Jaguarfell? Sein Wind-Emblem, das man aus einer Meeresschnecke schneidet?“

„Er trägt nichts dergleichen.“

„Wie kannst du dir dann sicher sein, dass er es ist?“

Alle starrten Sternfinder an.

„Er wird sich zu erkennen geben“, sagte Motecuzoma schließlich.

„Wie soll dies geschehen?“

„Was rätst du mir?“

„Prüfe ihn! Vier Göttertrachten lass ihm übergeben.“

Motecuzoma nickte. „Vier verschiedene.“

„O Totecuiyo, deine Voraussicht bezeugt deine Weisheit. Möge der Ankömmling wählen. Die Welt ist vielleicht größer als wir ahnen.“

Motecuzoma behielt die Verwunderung ob dieser letzten Äußerung Sternfinders für sich. Ruhiger, als er sie empfangen hatte, entließ er die Priester. Er begann zu hoffen, dass der Fremde doch nicht Quetzalcoatl war.

Die königliche Trägerkarawane war der prachtvollste Zug, der Tenochtitlan je verlassen hatte. Fünf mal zwanzig Männer gingen unter der Last der Geschenke, und doppelt so viele schleppten in ihren Kraxen den Proviant. Dazu kamen etliche Priester sowie ein Heer von Dienern für die fremden Gäste. Alles wurde gesichert von einem Begleitschutz – vorn und hinten. Meldeboten, die den Verantwortlichen über alles auf dem Laufenden hielten – etwa, wenn Träger erkrankten, so dass er in der nächsten Stadt Ersatz für sie beschaffen musste. An Tlacotl, Speerschaft, hing alles. Er war erst Ende zwanzig, doch schon seit längerem die rechte Hand des Herrn Opossum, seinem einstigen Lehrer der Politik und Geheimdiplomatie. Opossum war Motecuzomas Emissär, der die Geschenke überreichen sollte. Als Herr-Des-Schwarzen-Hauses reiste er in einer Sänfte mit einem Baldachin und verhängten Seitenwänden. In die eingewirkten Blumen und Schmetterlinge auf dunklem Grund hatte er Gucklöcher einarbeiten lassen. ‚Schau, aber lass dich nicht durchschauen!‘, dachte Tlacotl, der nie auf die Idee verfallen wäre, dergleichen auch nur anzudeuten. Allerdings war Opossum mit lichtempfindlichen Augen geschlagen, seit er bei der letzten Sonnenfinsternis auf die verdunkelte Scheibe am Himmel gestarrt hatte. Nur wenn der Zug die Sonne im Rücken hatte, ließ Opossum die Vorhänge aufschlagen. Dann ertönte ein warnender Pfiff. Ein Diener rannte nach Wasser, während die anderen die großen Fächer für ihren Herrn zu bewegen begannen. Kam die Sonne dann wieder von vorn, wurden die Vorhänge erneut geschlossen.

Die Reise dauerte sechs Tage; Tlacotl hörte bald auf, an Opossum zu denken. Er dachte nicht einmal mehr an die fremden Gäste. Sie würden denen gleichen, die er vor einem Jahr gesehen hatte. Zügig führte er die Karawane am Popocatepetl vorbei, umging ebenso zügig die Stadt der Grünfederschlange, so dass er nach drei Tagen den größten Markt der Region erreichte, wo Proviant und ausgeruhte Träger zu besorgen waren, und zog, den Freistaat Tlaxcallan zur Linken und vor sich den Sternenberg – den höchsten Gipfel, den er kannte – weiter in östlicher Richtung. Die Ortschaften wurden rarer. Tlaxcallan wurde immer kleiner, vom Sternenberg sah er nur noch den weißen Kegel, der auf den Wolken zu schweben schien: Der Abstieg ins Tiefland begann. Tlacotls Zeitgefühl schwand, während die Landschaft ein unwirkliches Gepräge annahm. Hatte der Menschenwurm eben einen Bergkamm erklommen, auf einem Weg aus Sand und Geröll, vorbei an dornigen Büschen, grauen, staubigen Zypressen und riesigen Säulenkakteen, schob er sich bald schon, Glied für Glied, den meerwärts abfallenden Hang hinab, wo üppiger Nebelwald ihn aufnahm. Ohrenbetäubender Lärm, verursacht von Vögeln und Affen, drang aus dichtem Blattwerk und hinter fransigen Moosflechten hervor. Es wurde immer heißer, und die feuchte Luft legte sich auf die Lungen. Tlacotl wollte Rast einlegen lassen, als Opossum sein verschwitztes Haupt durch den Vorhang steckte.

„Wir sollten heute noch eine Stadt erreichen. Hier möchte ich nicht übernachten.“

Tlacotl musste die Leute antreiben, doch eine Stadt erreichten sie nicht. Immerhin wich der Nebelwald vor kultiviertem Land zurück. Kakaopflanzungen, Baumwollsträucher unter Kapokbäumen rückten ins Bild, an Palmen rankende Vanille-Orchideen mit Knospen, Blüten und Früchten in den Achseln fleischiger Blätter. Schwarze Blumen nannte man sie, obgleich die grünlich-gelbe Schönheit nicht einen dunklen Tupfen vorwies. Erst wenn sie welkte, wenn die einer Vulva ähnliche Blüte in sich zusammenfiel, färbte sie sich braun bis violett. Es blieb ein Auge, der Fruchtknoten, stehen, um eine zunächst grüne und dann schwarze Schote voll des köstlichsten Marks auszubilden.

Am nächsten Mittag erreichten sie ihr Ziel. Tlacotl führte den Zug durch eine ausladende Schleife zum Meer hinab, die gleißende Wasserfläche zur Rechten, um Opossum zu schonen. Schon kamen die Palmhütten der Fremden in Sicht, und Opossum ließ vorn den Vorhang aufschlagen. Schon kündigte sich auch der Tributeinnehmer an. Opossum stieg aus der Sänfte. Feierlich schritten der Herr-Des-Schwarzen-Hauses und der Tributeinnehmer, jeder mit einem Strauß bunter Blumen, ins Lager der Fremden. Hinter ihnen gingen die Priester. Tlacotl folgte mit der Trägerkarawane.

Vor der größten Palmhütte hielten sie an. Davor saß der Anführer der Fremden in einem hohen, runden Stuhl. Von ihm mochten gefährliche Kräfte ausgehen. Um sie zu bannen, steckten die Priester das Kopalharz in ihren Räucherlöffeln in Brand, und der Fremde versank mit seiner ganzen Umgebung in den weißen, süßlich duftenden Schwaden.

Sobald diese sich verzogen, tauchte zunächst ein runder Hut mit Feder und einer breiten Krempe auf, dann eine gerade Nase, ein bärtiges, huldvolles Antlitz, schließlich ein schwarzer Überwurf mit güldenen Schleifen, darüber eine Kette mit einem ovalen Goldanhänger, den Tlacotl von seinem Standort aus nicht gut erkennen konnte. Es mochte sich um ein Vogelei handeln, denn für ein Schlangenei erschien er ihm zu groß.

„Was hat er nur alles an?“, fragten sich die Priester, die sich von Tlacotl die Göttertrachten geben ließen. „Er ist gekleidet, als gelte es, sich vor den kalten Winden des Totenreichs zu schützen.“ Tlacotl musste lächeln. Unter dem Überwurf trug der Fremde ein dickes Wams mit langen Ärmeln bis an die Handgelenke. Leib und Schenkel waren von einer Haut aus Stoff umspannt, selbst seine Füße steckten in geschlossenen Schuhen mit kniehohen Röhren.

Die Priester, in luftigen Sandalen und Hemden, nahmen die Trachten entgegen, um den Fremden zu prüfen.

„Wartet noch“, sagte Tlacotl. „Der Herr-Des-Schwarzen-Hauses muss ihn zuerst begrüßen.“

„Ja, und?“, wunderte sich der Oberpriester des Tezcatlipoca. „Wir müssen da sein, wenn er fertig ist.“

„Das kann dauern, Yaopol-tzin. Der Gott nimmt seine Rede nicht direkt entgegen. Dafür hat er zwei Zungen – eine Frau und einen Mann.“

„Er braucht Dolmetscher?“

„So sieht es aus.“

Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich die Verständigung etwas gebessert. Damals hatte man nur mit Händen und Füßen geredet. Tlacotl brachte sich weiter nach vorn. Die Priester beorderte er je zwei und zwei an seine Flanken. Auch der Fremde hielt nun eine Rede. Der Dolmetscher – ein Mann mit seltsam blauen Augen in einem braungebrannten Gesicht und mit den langen, wirren Haaren eines fastenden Priesters – öffnete den Mund.

„Was sagt er?“, fragte der Oberpriester.

Tlacotl zuckte die Achseln. Es hörte sich nach einer Maya-Sprache an, die er nicht verstand.

Die Frau übernahm das Reden. Sie trug nach Landessitte eine ärmellose Bluse über ihrem Wickelrock.

„Mein Gebieter fühlt sich geehrt“, sagte sie in korrektem Nahuatl zum Herrn-Des-Schwarzen-Hauses. „Motecuzoma ist ein großzügiger Fürst, der einen Gast zu empfangen weiß.“

Opossum verneigte sich.

Tlacotl winkte den Dienern zu. Tücher wurden vor dem Fremden ausgebreitet. „Die Kalenderräder, schnell!“

Sofort erschienen die kreisrunden Scheiben, gefolgt von Tieren aus Silber und Gold. Die Augen des Gastes erstrahlten. Seinen Mund umspielte ein Lächeln; sein Antlitz wurde heller mit jedem neuen Stück, das die Diener platzierten.

Tlacotl gab das Zeichen für den Einsatz der Schneckentrompete. Ein dunkler, weittragender Ton erschallte. Vier Priester schritten in die Mitte und legten die Tanztrachten der Götter aus.

Der Fremde lächelte noch immer, doch er schien nicht zu begreifen. Unentschieden glitten seine Blicke von der Türkismaske des Feuergottes zu der regengrünen Federkrone, dann zu dem kegelförmigen, mit Sternen besetzten Nachthelm des Tezcatlipoca und wieder zurück, bis sie endlich an der Vogelmaske mit dem goldenen, bezahnten Schnabel haften blieben, die Quetzalcoatl gehörte.

Die Priester setzten sie ihm auf. Sie schälten ihn aus seiner dicken Kleidung und legten ihm das Hemd mit roter Borte und das goldene Wind-Emblem an. Zwischen den Schenkeln zogen sie ihm den göttlichen Prunkschurz hindurch und befestigten an seiner Hüfte den runden Spiegel aus Obsidian, in dem die Götter die Welt erkennen.

Da wurden die Priester von Ehrfurcht erfasst, erblickten sie doch ihren Herrn Quetzalcoatl. Ihm musste geopfert werden. Ohne zu zögern begannen sie, sich mit Agavendornen zu stechen und das Blut auf Papierstreifen tropfen zu lassen. Diese legten sie in eine Schale, die sie vor Quetzalcoatl auf den Boden stellten.

Sie waren im Begriff, sich demütig zurückzuziehen, als der Gott, der bislang keine Regung gezeigt hatte, ganz plötzlich ergrimmte. „Waren dies all eure Geschenke?“

Nur der Oberpriester des Tezcatlipoca besaß den Mut zu einer Antwort: „Erheischt unser Herr ein menschliches Herz?“

Der Gott gab keine Antwort. Der Oberpriester versprach ihm ein Herz.

Der Gott erhob die Hand. „Deines etwa?“ Der Mann zu seiner Rechten zog ein langes Schwert und setzte es dem Oberpriester an die Brust.

„Wie du es wünschst“, erwiderte dieser mit belegter Stimme.

Der Gott lachte verächtlich. „Diese Rolle spiele ich nicht!“ Dann riss er sich die Maske ab. „Deine Götter sind alle falsch. Sie betrügen dich. Du darfst für sie nicht töten!“

Der Oberpriester vereiste. „Wer bist du, dass du so redest?“

„Ein Freund, der euch wohlgesonnen ist. Ich wurde entsandt, um euren Großen Sprecher zu treffen.“

„Was willst du von ihm?“

„Ihm vom wahren Gott berichten.“

Neben den Oberpriester trat der Herr-Des-Schwarzen-Hauses. „Wen soll ich dem Großen Sprecher denn melden?“

„Den Abgesandten des Großen Sprechers des Landes Caxtillan.“

„Hast du auch einen Namen?“

„Don Fernando Cortés.“

„Ton Pelnanto“, sagte die Frau.

„Und du?“

„Marina.“

„Malina? Malin-tzin?“

„So nennt mich mein Herr. Eigentlich heiße ich Ce Malinalli.“

Das hieß Eins-Drehgras und bedeutete den Tag, an dem sie geboren war.

„Malin-tzin“, zischte der Oberpriester, dem der Zusammenhang entgangen war. Noch zu aufgewühlt von dem unerhörten Vorfall eben, war er ganz auf den Fremden fixiert. „Der Gesandte heißt also Malintzin: Der-Die-Dinge-Verdreht.“

„Wer ist der Mann zu seiner rechten Seite?“, fragte der Herr-Des-Schwarzen-Hauses weiter. „Mir ist, als hätte ich ihn schon einmal gesehen.“

Der Gesandte stellte vor: „Pedro de Alvarado.“

Er war ein ausnehmend schöner Mann mit gelben Haaren. Darum nannte Tlacotl ihn Tonatiu, „Sonne“. Er hatte im vergangenen Sommer mit den Totonaken getanzt. Während Tlacotl noch daran dachte, dankte der Gesandte für die Geschenke und lud den Herrn-Des-Schwarzen-Hauses in sein Wasserhaus ein.

„Ich werde deine Gegengabe an Land erwarten“, erklärte Opossum. Der Gesandte, damit nicht zufrieden, erhob sich von seinem Sitz. Lächelnd fasste er den Emissär am Arm. Sonne trat neben den Tributeinnehmer, auch Tlacotl und die Priester erhielten unverhoffte Begleiter.

„Ich fühle mich geehrt“, sagte Opossum notgedrungen und ließ sich von dem Fremden zu einem großen Boot am Ufer führen. Dieses war, anders als die Einbäume Mexikos, aus Planken zusammengefügt und viele Male breiter als diese. Opossum stieg ein, erhobenen Hauptes, aber mit gesenkten Lidern, um von den Wellen nicht geblendet zu werden. Das Boot legte ab in Richtung der Wasserhäuser, die ein Stück weit entfernt auf dem Meer zu sehen waren.

„Jenes ist es!“, rief der Gesandte. Stolz wies er auf das Schiff in der Mitte, es war das einzige mit einer wehenden Fahne am höchsten Mast. Tlacotl erkannte ein blaues Kreuz und etliche Punkte, welche beim Näherkommen zu gebogenen Linien wurden.

„Amicisequamurcrucem, etsinosfidem …“ deklamierte der Gesandte, ohne dass eine Übersetzung gefolgt wäre. Der Oberpriester hielt die Äußerung für einen Zauberspruch. „O schwarzer Gott“, stieß er zwischen den Zähnen hervor und meinte damit Tezcatlipoca, „mach, dass Malin-tzin das Blut in den Adern verklumpt!“

Das Ruderboot erreichte das Schiff mit der Fahne und wurde hochgezogen. Oben führte der Gesandte seine unfreiwilligen Gäste herum. Tlacotl sah ein großes hölzernes Rad mit Speichen, das man drehen konnte, und hohe Masten voller Seile, von denen gefaltete Planen hingen. Wenn diese Planen ausgespannt waren wie Vogelschwingen, wusste er, setzte der Wind das Schiff in Bewegung. Er sah auch lange Rohre, die über die Brüstung schauten. Doch über all dies staunte er weniger als über die enormen Ausmaße des Wasserhauses. Tlacotls gesamte Verwandtschaft – und die füllte leicht ein ganzes Dorf – hätte sich hier einrichten können.

Der Gesandte streckte den Arm aus. „Von dort sind wir gekommen!“ Opossum fühlte sich genötigt, mit ihm auf das gleißende Meer zu schauen. „Ich erkenne nichts“, erklärte er wahrheitsgemäß.

„Nichts als Wasser“, sagte der Gesandte. „Den größten Teil der Reise begleiten nicht einmal Vögel das Schiff, und dennoch liegt jenseits Caxtillans Küste.“

Dann sagte er, dass er unbesiegbar wäre. „Seht nur meine Macht!“ Er legte seine Hand auf eins der dicken Rohre auf der Brüstung und gab einen Befehl. Dann trat er ein Stück zur Seite. Der Mann, der schon die ganze Zeit dabeigestanden hatte, entzündete nun einen langen Span und schob ihn von hinten ins Rohr. Tlacotl hörte es zischen und puffen, das Rohr vibrierte, und dann schoss eine Kugel donnernd aus der Mündung. Unter Tlacotl erbebten die Planken. Er verlor das Gleichgewicht, er hatte Angst wie nie zuvor im Leben. Dazu noch der Gestank nach faulen Eiern! Das Rohr schien wie ein großes, wildes Tier gefurzt zu haben. Naserümpfend stand Tlacotl auf und klopfte sich den Umhang ab. Er sondierte die Umgebung: Wo waren die anderen?

Opossum klammerte sich an die Brüstung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er der Kugel nach, die gerade tosend ins Wasser fiel. Andere aus seinem Gefolge hielten sich die Ohren zu. Nur dem Oberpriester war keine Furcht anzusehen. Als sich der Qualm verzogen hatte, baute er sich vor dem Fremden auf:

„Malin-tzin! Du magst sehr viel Macht besitzen. Doch du bist gar nichts vor Tezcatlipoca. Wenn Unser Herr die Erde beben lässt, hört niemand mehr deine Feuertrompete.“

Der Gesandte lächelte nur. Er ließ Geschenke für den Großen Sprecher bringen: seltsame Kleidungsstücke aus Stoff, Schnüre blauer Perlen und einen wie Zahnschmelz schimmernden Kelch. Abermals bat er um Audienz bei Motecuzoma. Er könne anders nicht mehr vor seinen eigenen Herrscher treten. Dann entließ er seine Gäste.

Opossum wäre beim Einsteigen ins Boot beinahe fehlgetreten. Er konnte kaum noch etwas sehen. Das Meer bestand aus Licht – aus Licht, das in den Augen schmerzte.

Die Rückkehr der Gesandtschaft vollzog sich heimlich, in der Nacht, wie die eines Handelszuges – aber nicht, um sich vor Neid und Missgunst abzuschirmen, sondern weil der Herr-Des-Schwarzen-Hauses sich der dürftigen Gaben des Fremden schämte. Barfuß und in einem Überwurf aus rauem Agavenstoff trat er vor den Großen Sprecher – er, ein Kronratsmitglied! Er wirkte mitgenommen. Seine Augen waren entzündet, er blinzelte und schien zu frieren. Ihm blieben alle Worte in der Kehle stecken, so dass der Oberpriester ihm die Stimme leihen musste. Hätte Opossum nicht durch Gesten jedes Wort bezeugt, Motecuzoma hätte nicht ein einziges davon geglaubt. Der Fremde, dem er mit Ehrfurcht begegnet war, schmähte die Götter! Jener Fernando Cortés Malin-tzin war ein falscher Quetzalcoatl – zu schwach, die Maske des Gottes zu tragen, zu schwach, ein Opfer entgegenzunehmen.

„Er pflegt nur weißes, süßes Brot zu essen, das so leicht wie Maisstroh ist – auch gedörrtes Obst und Fleisch“, erklärte der Oberpriester. „O Totecuiyo, er ist nur ein Mensch. Wiewohl ein böser, eine üble Menscheneule. Ohne Grund hat er dem Herrn-Des-Schwarzen-Hauses eine Krankheit angehext. Und, Totecuiyo, er verachtet unsere Sitten. Er ist nicht würdig, dass du ihn empfängst.“

„Ist es denn üblich, den Gesandten eines fernen Landes abzuweisen?“

„Würdest du je einen Boten entsenden, der sich derart befremdlich benimmt? Jener Mann verursacht Lärm! Er hat schreckliche Feuertrompeten. Wenn er aus ihnen schießen lässt, dröhnt es wie Donner in den Bergen, und es blitzt dazu! Das schreckt die kleinen Leute auf. Sie werden noch die Flucht ergreifen, ihre Felder brachliegen lassen.“ „Übertreibst du nicht?“

„Es wäre besser, wenn er wieder dorthin führe, von wo er kam.“

„Nach … Caxtillan?“ Dem Großen Sprecher fiel Sternfinders Vermutung ein. „Glaubst auch du, Yaopol-tzin, an eine andere Küste, die nicht der Himmel ist?“

„Ich maße mir nicht an zu spekulieren. Eines aber weiß ich sicher, Totecuiyo: Jenem Malin-tzin kannst du nicht trauen. Hüte dich vor ihm!“

Motecuzoma folgte dem Rat des Oberpriesters und brach den Kontakt zu dem Fremden ab.

Die zerbrochenen Flöten

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