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Die Gänge waren ein einiges Labyrinth. Orientierung war wie in so vielen älteren öffentlichen Gebäuden Amerikas ein Ding der Unmöglichkeit. Die Wege folgten keiner Logik. Es schien vielmehr, als habe sich ein Maulwurf beim Graben ständig neu entschieden.

Kiran irrte durch Korridore, suchte Steve und fand ihn schließlich in der Kaffeeküche beim Plausch mit einer Kollegin. Als Steve ihn sah, machte er ihm Zeichen. Zusammen besorgten sie drei Kaffee und begaben sich ins Gebäude der Behavioral Unit. Hier, so hoffte Kiran, würden sie ihren Täter aufspüren können: zwischen Profilen, Soziogrammen und Persönlichkeitsanalysen, unterstützt von einem allumfassendsten Informationsnetzwerk. Auch wenn Kiran die endgültige Aushebelung der elektronischen Privatsphäre seit den Ereignis sen des 11. September mit Widerwillen verfolgt hatte, so musste er eingestehen, dass für die Polizeiarbeit ein gewisser Vorteil aus dieser komplett verfügbaren Information erwuchs.

Zugegeben, eine teuer erkaufte Sicherheit, die von Notstandsgesetzen herrührte, mit denen sich die amerikanischen Dienste erfolgreich der Regierungskontrolle entzogen hatten. Daher hatten ihn die jüngsten Umtriebe der National Security Agency selbst ein Jahr zehnt nach dem Einsturz der Twin Towers nicht besonders überrascht. Das Problem war nach Kirans Ansicht nicht der mangelnde Datenschutz. Der hatte ohnehin nie existiert. Das entscheidende Problem war, dass Regierungen den Privatbürger von professionellen Diensten digital observieren ließen, anstatt, wie auch bei Durchsuchungsbeschlüssen, erst dann tätig zu werden, wenn Gefahr im Verzug war.

Es war eine traurige Tatsache, dass die deutschen Politiker des 21. Jahrhunderts nicht den leisesten Schimmer von digitaler Technik hatten und der paranoiden Überwachungspolitik ihrer amerikanischen Partner wie die Schafe folgten. Dort war der Bürger nicht nur gläsern, er war vollständiger erfasst als ein potenzieller Straftäter. Das Recht auf Privatsphäre existierte nicht mehr, ganz zu schweigen von der Unschuldsvermutung.

Mit dieser Meinung stand Kiran in Diskussionen über dieses Thema in den Fachkreisen der deutschen Dienste relativ allein. Selbst als die Verfechter umfassender Überwachung zähneknirschend zugeben mussten, dass all ihre Quellen zur Informationsbeschaffung nicht geholfen hatten, ein paar durchgeknallte rechtsradikale Terroristen im Osten Deutschlands zu fassen, bevor diese mordend durch die ausländische Gemeinde gezogen waren. Momentan also stellte die Naivität und Unfähigkeit deutscher Behörden den besten Datenschutz für den Bürger dar. Kein besonders beruhigender Gedanke ...

Als sie den Arbeitsraum erreichten, stand an einer übergroßen Pinwand Margie. Pferdeschwanz, Brille.

»Kiran.« Keine Begrüßung, eher eine Feststellung.

»Hi, Margie«, erwiderte Kiran.

Ihr Makeup war etwas in Mitleidenschaft geraten und die Bluse zerknittert, was zeigte, dass sie die Nacht über kaum geschlafen hatte.

»Gut siehst du aus«, sagte er und biss sich innerlich auf die Zunge.

Sie betrachtete ihn über die Brille hinweg. »Sicher. Vor allem nach der zweiten Nachtschicht diese Woche.«

Sie gab ihm die Hand, aber Kiran umarmte sie herzlich. Sie tat es ihm unbeholfen nach, lächelte aber dabei, und es schien natürlicher als vor all den Jahren. Dann runzelte sie die Stirn. »Wie war dein Flug? Diese Containerbomber der Army sind die reine Folter ...«

»Alles wunderbar, Margie«, unterbrach Steve das Geplänkel. »Schau mal, wir haben Kaffee.« Er schwenkte die riesigen Becher.

»Oh«, ihre Miene hellte sich auf. »Sehr gut. Setzt euch. Ich habe die Wand hinter euch vorbereitet.« Sie drehten sich um und Kiran blickte auf ein Panorama des Grauens.

In zwei Hälften geteilt, waren beide Fälle auf amerikanischem Boden durch Fotografien, Notizzettel und Computerausdrucke an der Wand vollständig dokumentiert. Davor hatte Margie eine zusätzliche rollbare Plexiglaswand aufgestellt und darauf verschiedene Stichwortlisten und Fakten aufgeschrieben, von denen sie Verbindungslinien zu einzelnen Fotografien oder Dokumenten gezogen hatte. Auf einer weiteren Stellwand rechter Hand hatte sie das bisher existierende Material des Mordes auf deutschem Boden angeheftet.

»Sieht gut aus, Margie«, sagte Steve in einschmeichelndem Ton.

»Natürlich sieht das gut aus. Andererseits auch wieder nicht. Wir haben da eine ziemliche Nuss zu knacken, fürchte ich.«

Ein weiterer Special Agent betrat den Raum. Er grüßte seine Kollegen mit einer Handbewegung und schüttelte Kiran die Hand.

»Hi, Kiran. Special Agent Erwyn Jones. Gut, dich hier zu haben. Ich bin wirklich froh, dass wir in dieser Sache weitermachen können. Ich hasse Sackgassen. Außerdem entkomme ich so diesem Radikalensumpf in Anacostia. Rechte Fanatiker. Nichts für mich.«

»Freut mich für dich, Erv«, sagte Steve. »Aber ich hätte gedacht, du würdest mit Freuden unter dem neuen Klan aufräumen.«

Jones zog sich in einer geschmeidigen Bewegung einen Stuhl herbei, legte sein Jackett ab und setzte sich. »Nein, lass mal. Euren Müll könnt ihr weißen Brüder selbst wegräumen. Ich bin hier bei den Psychos bestens aufgehoben.«

Kiran stellte fest, wie sehr er die ungezwungene Art der Amerikaner vermisst hatte und reichte Jones einen Kaffee. Der grunzte zufrieden. Er wandte sich an Margie. »Okay, ihr habt ja schon alles vorbereitet, wollen wir die Fakten durchgehen?«

Margie nickte. Sie sah in die kleine Runde.

»Ich schlage vor, wir schauen uns erst mal die beiden Morde hier in den Staaten an, dann machen wir eine erste kurze Analyse. Kiran kann dabei jeweils anfügen, was in Deutschland vorgefallen ist, bevor wir uns an ein grobes Profil wagen.«

Sie bat Jones, den Anfang zu machen, der inzwischen seine Notizen auf dem Laptop aufgerufen hatte.

»Okay, zum ersten Mord hier in Richmond, Tatzeit 10. Februar. Tatort war ein altes Lagergebäude in Mud brook, das ist das Ufer gegenüber des neuen Verladehafens. Der liegt am Rande des Industriegebiets. Gegen über ist mehr als eine Meile Wald und dort gibt es noch ein paar alte Lagergebäude aus den Zeiten des Zuckerhandels. Nur auf einem Feldweg zu erreichen, daher kaum Verkehr. Ein perfekter Tatort, völlig ungestört. Das Opfer war die siebzehnjährige Sharon Collins, Schülerin der Jefferson Highschool in Richmond, wie auch eure Tote in Deutschland. Über sie gab es nicht viel heraus zu finden, spielte als Center im Basketball-Team, Most Valuable Player, allseits beliebt und respektiert. Sie war wohl die Wortführerin in ihrer Clique. Auf jeden Fall keine Einzelgängerin. Deshalb konnte sich niemand er klären, wie Sharon an einem Freitagabend allein einem Mörder in die Arme laufen konnte. Sie war sonst ständig mit irgendwelchen Freunden unterwegs oder auf Sportveranstaltungen. Niemand weiß, wo sie sich an diesem Abend aufgehalten hat. Ein einziger Moment ohne ihre Entourage und exakt in diesem Moment hat es jemand geschafft, sie abzupassen.«

Er erhob sich, trat an die Pinwand und deutete auf die Luftaufnahmen des Waldstücks.

»Man fand sie erst am Mittwochmorgen in dieser alten Lagerhalle und das auch nur zufällig, weil der Besitzer die Halle verkaufen wollte. Die war seit der Kubakrise außer Betrieb und mit Stahlplatten vernagelt. Daher war sie, wie ihr hier sehen könnt, leer und alles komplett blickdicht. Das Vorhängeschloss wurde entfernt und durch ein anderes ersetzt, wahrscheinlich zur Vorbereitung. Tatzeit war laut Autopsie etwa vier bis fünf Tage vorher, also höchstwahrscheinlich Freitagnacht.«

Kiran betrachtete die Fotos und sah eine exakte Ko pie des Tatorts von Xanten vor sich. Die gleiche Aufstellung mit Kerzen, Plane, Stuhl und Spiegel. Unterdessen ging Margie die Details der Spurensicherung durch. Auch hier war nichts gefunden worden, was darauf hin wies, wie das Opfer und die Gerätschaften zum Tatort geschafft worden waren, zumal es zur Tatzeit auch noch die ganze Nacht geregnet hatte. Die Misshandlung des Opfers war exakt so abgelaufen wie in Xanten. Zuerst Betäubung durch Ketamin, und zwar durch Injektion in den Hals, dann Fesselung und Folter und zum Schluss der Schnitt durch die Kehle. Das Gesicht des toten Mädchens war zu einer grotesken Fratze verzerrt und blickte mit leeren Augen in die Kamera. In diesem Moment sah Kiran den Unterschied.

»Sie hat zwei Verletzungen am Gesicht, sieht aus wie ein Schlag auf den Kehlkopf und an die Schläfe.«

»Korrekt«, antwortete Jones. »Das ist die einzige Abweichung von eurem Autopsiebericht aus Deutschland und auch vom zweiten Opfer. Der Pathologe führt es auf einen Kampf zurück. Das Opfer hat sich zu wehren versucht. Am Tatort selbst gab es allerdings keinerlei Spuren, die auf einen Kampf hingedeutet hätten. Wir gehen daher davon aus, dass das Opfer woanders unschädlich gemacht wurde.«

»Das macht Sinn«, sagte Kiran. »Trotzdem sollten wir das vermerken, denn der Täter hat das Opfer nicht überrascht. Es muss also eine Konfrontation stattgefunden haben. Er kann sie zufällig ausgesucht oder sie gekannt haben, es kann zu einer geplanten Begegnung und ei nem Konflikt gekommen sein. Es ist sicher eine abruptere und gewalttätigere Form des Überwältigens als eine Spritze von hinten in den Hals.«

Margie machte eine Notiz auf ihrer Plexiglaswand, während Jones weitersprach.

»Was wir bislang nicht klären konnten, war, wie der Mörder all das Blut verschwinden lassen konnte.« Er sah Kiran an. »Eure Theorie mit der doppelten Plane klingt einleuchtend. Wir sind gerade dabei, das Beweismaterial daraufhin noch mal zu überprüfen. Es bleibt aber dabei, dass wir keinerlei Spuren vom Täter haben, absolut nichts.« Jones setzte er sich wieder, sah auf seinen Laptop, bevor er fortfuhr. »Befragungen der Familie und Freunde wiesen auf keinerlei Unregelmäßigkeiten im Le ben des Opfers hin. Keine Feinde, keine Probleme in der Familie, keine neuen, sonderbaren Bekanntschaften. Ich habe mir allerdings einen Vermerk zu ihrer Clique gemacht. Sharon war die Anführerin irgend so eines Mädchenbunds an der Schule. Wir haben alle überprüft und nichts Auffälliges entdecken können. Bei einer erneuten Befragung würde ich da aber gerne noch mal etwas intensiver nachforschen. Ansonsten gibt es zu dieser Tat bislang keine weiteren Erkenntnisse.«

Jones rief ein weiteres Dokument in seinem Computer auf.

»Zum zweiten Mord, in Raleigh, North Carolina. Tatzeit war der 15. April, ein Sonntag. Hier wird es spannend, denn das Opfer Lynn Farnsworth war ebenfalls Sportlerin, anders als Sharon Collins aber Leichtathletin. Auch sie war siebzehn und in der Senior Class der Highschool. Modus Operandi ist bis auf das kleinste Detail identisch: gleiche Art der Betäubung, Verletzungen und Todesart, hier aber wie gesagt keine Verletzungen durch einen Kampf. Ansonsten auch hier keine Spuren. Tatort war diesmal ein leerstehender Rohbau in einer gerade entstehenden Siedlung außerhalb der Stadt. Zur Tatzeit war das gesamte Areal menschenleer. Rund um das Haus gab es ebenfalls keinerlei Spuren, und selbst wenn, hätten wir bei all dem Baumaschinenverkehr am Montagmorgen wahrscheinlich auch keine mehr gefunden. Der Rohbau war von außen verschlossen, die Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt. Gefunden wurde die Leiche, weil an dem Morgen die ersten Verlegearbeiten im Haus beginnen sollten.«

Jones überflog seinen Text, während er weitersprach. »Lynn hatte als aktive Sportlerin einen großen Freundes kreis und keinerlei Feinde, sie war eine ganz normale Schülerin. Es gibt auch keinerlei Hinweise von Bekannten, Verwandten oder vom Schulpersonal, die irgendwas Verdächtiges bemerkt hätten. Ich will der Analyse nicht vorgreifen, aber unser Täter muss jemand sein, der entweder ganz plötzlich auftaucht und dabei völlig lautlos und unsichtbar agiert, oder aber er lebt mitten unter ihnen und fällt daher niemandem auf. Dann stellt sich aber sofort die Frage, wie und warum kommt er von Richmond nach Raleigh?«

Wieder scrollte Jones durch seinen Text. »Was das betrifft, haben wir nur eine einzige Verbindung herstellen können: Etwa einen Monat vorher gab es einen InterstateLeichtathletikwettkampf, an dem auch Teams aus Richmond teilgenommen ha ben, mit dabei war auch Lynn Farnsworth. Danach gab es eine größere Party, die zum Schluss alkohol- und drogentechnisch wohl ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Es ist zu Randale gekommen. Wir konnten aber nicht feststellen, ob Lynn irgendetwas damit zu tun hatte. »

Jones blickte von seinem Laptop auf und sah zweifelnd in die Runde. »Also wenn ihr mich fragt, irgend wen oder irgendwas haben wir oder unsere Zeugen übersehen. Kann natürlich auch sein, dass uns etwas verschwiegen wird. Aber ich habe noch nie erlebt, dass wir derart im Dunkeln tappen. Irgendeine Spur gab es immer. Aber hier – Fehlanzeige.«

»Und seither nichts Neues?«, fragte Steve.

Jones schüttelte frustriert den Kopf. »Die Ermittlungen wurden eingestellt. Für eine datentechnische Ana lyse hätten wir zumindest einen Verdächtigen haben müssen. Laptops gab es auch keine, beide Mordopfer haben ihre Computer und Telefone wahrscheinlich bei sich gehabt. Für weitere Ermittlungen gab es vorerst kein grünes Licht, denn dann kam diese rechtsradikalen Anschläge hier in DC. Wir wurden vom Fall abgezogen. Der Mord in Deutschland könnte uns jetzt aber endlich neue Hinweise liefern.«

Kiran schüttelte den Kopf. »Wir stehen in Deutschland erst ganz am Anfang der Untersuchung. Aber ich wäre nicht zu optimistisch. Patricia Masterson ist schließlich erst vor drei Wochen in Deutschland eingetroffen ...«

»Das könnte aber auch ein Vorteil sein«, fiel ihm Steve ins Wort. »Gerade in dieser kurzen Zeit werden deine Leute die Bewegungen des Opfers viel besser nachzeichnen können. Und wir können sie von hier aus briefen, worauf sie achten müssen.«

»Klingt vernünftig. Wir werden später eine Videokonferenz mit meinem Team abhalten, um uns abzustimmen.«

»Gut«, sagte Margie. »Dann wollen wir mal an die Kurzanalyse gehen, wenn ihr nichts dagegen habt.« Sie rollte die Plexiglaswand in die Mitte des Raums und nahm ihre bevorzugte Lehrposition ein.

»Beginnen wir mit Tat und Tatortanalyse. Ich führe euch durch meine Stichpunkte, ihr ergänzt das mit euren Ideen. Die erste Frage lautet: Hat der Mörder einen speziellen Opfertyp ausgewählt? Die Antwort ist eindeutig. Ja, Schülerinnen aus dem Abschlussjahr der Highschool, voll integriert und mit höherem Status in der Schülerhierarchie. Typische Mädchen mit normalem Freizeitverhalten. Wie wir jetzt feststellen können, war die Wahl derart bindend, dass er einem Opfer sogar hinterhergereist ist – immer vorausgesetzt, es handelt sich in allen drei Fällen um ein und denselben Täter, versteht sich.«

Steve machte sich eine Notiz und wandte sich an Kiran. »Wir müssen auch nachprüfen, ob sich die Opfer aus Richmond, also Sharon und Patricia, kannten. Da es sonst keine gemeinsamen Freunde oder andere Verbindungen zwischen den Opfern gibt, könnte das unsere erste richtige Spur werden.«

Kiran nickte und Margie fuhr fort. »Okay, das führt uns zu den begleitenden Tatumständen. Da gibt es, wie Erv bereits geschildert hat, leider nicht viel zu vermelden. Wir wissen nicht, wo der Täter seine Opfer getroffen hat, ob er vorher bereits in Beziehung zu ihnen stand. Bislang haben wir nur die Tat an sich, daher können wir vorerst allein diesen Punkt analysieren. Welche Tatorte und warum? Das gemeinsame Merkmal ist klar: Alle Tat orte sind leerstehende und abgeschiedene Räume, ideal zu präparieren und auch, um Spuren zu beseitigen. Wir können also mit Sicherheit sagen, dass sie gezielt aus gewählt wurden. Das trifft ganz offensichtlich auch auf Eure Jagdhütte in Deutschland zu.« Sie sah Kiran an.

»Ja, die Hütte wurde vom Pächter nur selten benutzt. Sie stand allerdings nicht leer, deswegen hat der Täter die Möbel vollständig entfernt. Auch das bestätigt die These gut organisierter Vorbereitung.«

»Gut. Dazu kommen die weiteren Tatortmerkmale: Der Raum wurde komplett abgedunkelt, vorher und nachher akribisch gesäubert. Dazu die Aufstellung. Kiran, du hast in eurem Bericht eine These formuliert, die ich sehr wichtig fand.«

Kiran nickte. »Ich denke, dass diese totale Verdunkelung und die Reduktion auf Stuhl und Spiegel ohne jegliches Beiwerk oder hinterlassene Symbole bedeutet, dass der Täter nichts anderes kommunizieren will als die Tat an sich. Das warum erschließt sich nur aus dem, was er tut und vor allem, wem er es antut. Das sollten wir nachher beim ersten Profil bedenken. Dazu passt auch dein nächster Punkt, Margie, Fundort gleich Tatort.«

Steve schnippte mit den Fingern, er sah in die Runde. »Also ist das unser erstes individuelles Merkmal des Täters: Keine Zurschaustellung anderswo, ob drapiert oder einfach entsorgt. Der Tatort wurde nach getaner Arbeit inklusive Opfer hinterlassen, und zwar mit Absicht.«

»Das ist ein entscheidender Aspekt«, bestätigte Kiran. »Er will, dass wir sehen, was er wo, weshalb und auf welche Weise getan hat, und zwar nur das, kein Beiwerk. Und dazu kommt ein ganz wichtiger Aspekt: Er legt keinen Wert darauf, dass die Leiche schnell oder auf dramatische Art und Weise gefunden wird. In Richmond, in Raleigh und in der deutschen Jagdhütte hätte es lange dauern können, bis das Opfer gefunden werden würde.«

»Interessant«, bemerkte Jones. »Du meinst, die Tat an sich ist die Botschaft an die Umwelt? Und er ist nicht in erster Linie auf sofortige Aufmerksamkeit aus? Das bedeutet, wir müssen den Tathergang noch genauer analysieren, jede einzelne Verwundung bis hin zum Exitus.«

»Genau«, antwortete Kiran. »Die akribische Vorbereitung basiert rein auf seinem persönlichen Qualitätsempfinden und ist natürlich ganz klar Absicherung. Aber von zentraler Bedeutung ist für ihn die Durchführung und das, was er uns hinterlässt.«

»Dann gehen wir gleich zu diesem Punkt«, sagte Margie. »Ich habe gestern alle drei Autopsieberichte an einen unserer psychologisch geschulten Gerichtsmediziner gegeben. Den Bericht habt ihr auf unserem Server, also fasse ich nur kurz die wesentlichen Punkte zusammen. Die prämortalen Verletzungen erscheinen nur auf den ersten Blick wie eine Folter. Das sind sie natürlich, aber das war seiner Meinung nach nicht der Grund für dieses Martyrium. Der Effekt auf das Opfer ist natürlich der gleiche, aber die Art der Verletzungen ist recht deutlich: Verbrennungen und Schnittwunden an ausnahmslos empfindlichen Stellen, interessanterweise in gleichem Maße an Geschlechtsteilen wie auch an anderen nervlich sensitiven Körperstellen. Unser Psychologe glaubt, dass die Ausführung daher keineswegs eine Art Verhör oder sadistische Unterwerfung war. Jeder Mensch würde bereits nach wenigen Minuten alles tun, damit das aufhört. In der Folge kommt es fast immer zu sexuellen Akten, hier jedoch nicht. Für gewöhnlich geraten sadistische Täter dabei in einen Rausch, der zu einer exzessiven Steigerung der Brutalität führt. Dies aber war eine perfide Quälerei, die bis zum Ende gleichmäßig präzise durchgeführt wurde. Scheinbar ohne jede Reaktion auf das Opfer und seinen sich verschlechternden Zustand. Wenn wir uns die Anzahl der Wunden ansehen, gibt es da noch nicht einmal eine Steigerung vom ersten bis zum dritten Opfer, wo es sogar drei Wunden weniger waren.«

»Seltsam. Das wirkt wie überkontrolliert. Solche Typen sind doch eher wissenschaftlich veranlagt und ha ben normalerweise ein Labor oder einen Folterkeller im Haus oder einem anderen Domizil. Wer begeht so eine Tat außerhalb seiner eigenen Komfortzone?«

»Guter Einwand, Erv. Notier dir das. Wir kommen später darauf zurück«, sagte Margie und blickte streng über ihre Brille. Jones nickte ergeben und tippte etwas in die Tastatur.

»Nächster Aspekt: Sexualität. Ideen?«

Es herrschte allgemeines Schweigen. Schließlich regte sich Steve. »Ich habe das Gefühl, auch hier gibt es diesen Widerspruch. Das Opfer ist nackt. Schutzlos. Und kein Verkehr, keinerlei Penetration. Dann aber ist die ganze Folter ein einziger unfassbar grausamer Akt an allen empfindsamen Stellen, vor allem in Bezug auf die primären Geschlechtsteile. Das heißt, Sexualität spielt hier doch eine Rolle. Aber es erscheint nicht wie ein sexueller Drang, eher das Gegenteil. Eine Art Ausbrennen der Sexualität. Könnte fast so was sein, wie ein inquisitorischer Akt.«

Jones legte den Kopf schief. »Ich hatte einen ähnlichen Gedanken. Es muss ja kein mittelalterliches Szenario sein, aber die Assoziation zur Kirche ist wohl unvermeidlich. Aber dann habe ich mich gefragt, wo ist der klerikale Hintergrund, wo die Botschaft?«

»Eben«, erwiderte Margie. »Es fehlen die Symbole. Bibelfanatiker hinterlassen mindestens ein Kreuz oder gleich mehrere, eine Art Reliquie oder irgendeinen prophetischen Spruch. Und dann kommunizieren sie oft mit den Ermittlern oder der Öffentlichkeit. Hier ist das anders, da ist nichts dieser Art zu finden. Wie auch immer, lassen wir uns die Möglichkeit offen. Letzter Punkt. Da wir keine postmortalen Verletzungen haben, bleibt nur der Exitus. Kiran, in deinem Bericht stand, der Schnitt durch den Hals hätte etwas von einem finalen Ritual. Wie bei Jägern oder Kriegern?«

»Richtig. Ich will mich noch nicht zu sehr festlegen, aber mein Eindruck ist, hier wurde jemand als wertlos oder einfach für nicht mehr lebensberechtigt befunden. Der Schnitt durch die Kehle ist eine sehr archaische Handlung, wie ein Jäger, der das Wild nach erfolgreicher Jagd tötet, oder ein Krieger, der den besiegten und am Boden liegenden Feind ausblutet.«

Margie betrachtete die vollgeschriebene Plexiglas wand, dann wandte sie sich um. »Okay. Kurze Pause. Alles sacken lassen, dann gehen wir ans Basisprofil.«

Die Unterbrechung nutzte jeder auf seine Weise. Steve ging auf eine Zigarette vor die Tür, Margie verschwand im Bad, um sich frisch zu machen, Jones telefonierte. Kiran saß immer noch vor der Plexiglaswand und versuchte, den Täter vor sich zu sehen.

Einiges war ihm deutlicher geworden, aber es fehlte jegliche geistige Kontur. Dieser Täter war nicht nur ermittlungstechnisch körperlos, er schien als Person nicht zu existieren. In diesem Moment ging in Kirans Kopf ein Licht an. Vielleicht war da ein Mensch auf irgendeine Art und Weise komplett seiner Menschlichkeit und Eigenheit beraubt worden. Da war nichts, nur eine Botschaft. Fragte sich nur welche und an wen.

Die anderen kehrten zurück und Margie eröffnete das Brainstorming.

»Bereit für einen ersten Versuch?« Sie nahm das Schweigen als Zustimmung und begann.

»Wir stehen vor der Tat eines sehr strukturierten Menschen. Planung, Durchführung und vor allem die Fehlerlosigkeit lassen darauf schließen, dass dieser Täter sehr intelligent, selbständig und selbstsicher ist. Die Perfektion zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Tat. Es liegt also eine extreme Fixierung auf die Art und Wei se des Mordes vor, und zwar unter Ausschluss jeglicher Emotion. Der Täter besitzt einen genau planenden und eiskalten Intellekt. Wir reden daher von einem gefühlskalten und unnahbaren Menschen im täglichen Umgang mit anderen. Das kann von Introvertiertheit bis zur extremer Kontaktscheue gehen, da die Tat mit Sicherheit auch Ausdruck eines psychischen Defekts bezüglich jeglicher Form der Nähe, Intimität und Sexualität ist. So weit in Ordnung?«

Alle stimmten nickend oder brummend zu.

»Gut, weiter. Die Wahl des Tatorts lässt darauf schließen, dass der Täter über keine eigenen passenden Räumlichkeiten verfügt oder aber sein Privatleben nicht durch diese Angelegenheit kompromittieren will oder kann. Er lebt daher entweder zur Miete oder in Verhältnissen, die ihm flexibles und vor allem ungestörtes Handeln unmöglich machen. Wegen seiner Intelligenz schließen wir nicht sofort auf geringes Einkommen, der Grund der Tatortwahl scheint ein sozialer zu sein, kein monetärer.«

»Nennen wir es ungeklärte Form der Abhängigkeit in seiner Lebenssituation«, schlug Jones vor.

Margie schrieb es an die Wand und fuhr fort. »Die Tatzeit liegt immer zwischen Freitag und Sonntag. Das ist nicht auf ein Charakteristikum der Opfer zurückzuführen, die sich am Wochenende nicht wesentlich anders verhielten als unter der Woche. Das bedeutet, der Täter selbst hat nur am Wochenende freie Bahn. Auch dies ein Hinweis darauf, dass seine Lebensumstände ein selbstbestimmtes Handeln während der Woche zumindest schwierig machen. Mögliche Ursachen dafür gibt es leider viel zu viele, aber der nächste Punkt klärt das vielleicht etwas näher.«

Margie wies auf die Porträtfotos der Mädchen. »Die Opfer sind alle Schülerinnen, sexuell voll entwickelt, starke Persönlichkeiten, sozial abgesichert. Das waren keine schwachen Mädchen, sondern Ikonen der Schulgemeinschaft. Das lässt darauf hindeuten, dass der Täter eine intensive Abneigung gegen diese Sorte Mädchen hat. Aber er hat die Aktion zu jeder Zeit absolut unter Kontrolle, zeigt keinerlei Unsicherheit. Wir haben es daher wahrscheinlich nicht mit einem Außenseiter im klassischen Sinne zu tun. Dafür spricht auch Kirans These, dass ihm die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zunächst einmal gleichgültig ist. Diesen Taten liegt also wahrscheinlich keine plötzliche Anwandlung, sondern ein langsamer Reiz zugrunde, der zu Entscheidung, Planung und dann zur Tat führt. Danach ist er mit sich und der Welt im Reinen. Kiran willst du mit der Personenbestimmung weitermachen?«

Kiran stand auf und begann umherzugehen. Jetzt kam der eigentliche geistige Kraftakt.

»Gut, wir wissen: selbständig, körperlich und geistig stark, gefühlskalt, organisiert, gleichzeitig aber auf irgendeine Art und Weise abhängig. Was heißt das bezogen auf sein soziales Umfeld? Kann das irgendein Mensch aus dem lokalen Gesellschaftskreis sein, oder ist er Teil der direkten schulischen Umgebung?«

»Ich glaube Letzteres«, warf Jones ein. »Mädchen dieses Alters gibt es überall in der Stadt. Der hier pickt sich seine Opfer direkt aus der Schulhierarchie. Entweder gehört er zum sozialen Kreis der Familien, zu einem im Erziehungsbereich aktiven Gremium oder er ist sogar Angestellter der Schule. Außerdem wählt er Sportlerinnen. Er muss daher selbst in diesem Bereich aktiv sein oder zumindest einen Kontakt dazu haben. Und dann schafft er es, durchtrainierte Mädchen zu überwältigen. Er kennt sich also im körperlichen Kampf aus.«

»Das heißt, wir reden von einem Erwachsenen, weil jüngere Twens wohl kaum in einer Highschool herum laufen«, stellte Steve fest.

»Ich würde die untere Altersgrenze auf Mitte zwanzig ansetzen«, antwortete Kiran. »Kein gewöhnlicher Berufstätiger Anfang zwanzig und schon gar kein Teenager zieht eine derart durchgeplante Tat so perfekt durch. Junge Erwachsene mit abgeschlossener Ausbildung kann man dagegen vielleicht schon mit einbeziehen. Der Grad der Tatorganisation setzt eine gewisse Reife und Intelligenz voraus. Und wir sollten nicht vergessen, dass er dem dritten Opfer nach Deutschland gefolgt ist. Das bedeutet, er hat die Mittel dazu und kann sich eine kurze Abwesenheit finanziell und beruflich leisten, auch wenn das der Abhängigkeitsthese von vorhin zu widersprechen scheint.«

»Okay«, sagte Margie. »Amerikanischer Staatsbürger, Alter Mitte zwanzig bis vorerst Ende vierzig, Angestellter auf unterer bis mittlerer Karrierestufe, zielstrebig und organisiert, ruhige äußere Haltung, dabei aber kontaktarm bis stark introvertiert, physisch gut beieinander, sportlich und bedingt kampferfahren. Männlich?«

»Auf jeden Fall«, sagte Steve, während die anderen zustimmende Geräusche machten. »Die für Frauen typische Stimulanz der Selbstverteidigung ist hier für mich nicht sichtbar. Dieser Tat liegt vielmehr eine massive Abneigung gegen Frauen oder Mädchen zugrunde. Dazu kommt die Grausamkeit und Konsequenz der Ausführung, die durch und durch maskulin ist, bis hin zum finalen Schnitt durch den Hals.«

Margie komplettierte diese erste Täterbeschreibung, fotografierte alle Plexiglaswände und verschickte die Bilder an die Mobiltelefone des Teams.

Jones betrachtete das Profil. »Irgendwas fehlt mir. Et was, das wir noch nicht sehen können, obwohl es da sein muss. Aber wir werden ja morgen und in Raleigh hoffentlich noch so einiges erfahren.« Er sah Kiran an. »Was meinst du, wo er jetzt ist? Noch bei euch in Europa oder auf dem Rückweg?«

Kiran wusste keine Antwort. Er hoffte, dass die Kollegen daheim verschont würden und sie dem Täter hier auf die Spur kommen konnten, bevor er noch einmal zuschlug.

Kalter Zorn

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