Читать книгу Kalter Zorn - Ilja Albrecht - Страница 8
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ОглавлениеIm Xantener Revier betrachtete Kiran die Fotos, die Enzo und Alenka vorbereitet hatten. Es waren gerade einmal vierundzwanzig Stunden vergangen, seit man die Leiche gefunden hatte, aber schon jetzt war die Hälfte der Wand des ihnen zugewiesenen Raums mit Aufnahmen, Notizen und Stichpunkten der kriminaltechnischen Untersuchung zugepflastert.
Die Polizei in Xanten war sehr zuvorkommend gewesen. Eine solche Tat im beschaulichen Landkreis Wesel stellte eine nie dagewesene Sensation dar, deshalb war man bei der hiesigen Polizei mehr als glücklich darüber, Experten bei sich zu haben, die die Ermittlungen leiteten. Dazu stammte Bolko vom Hamburger LKA und hatte daher einen guten Zugang zu den Kollegen der Landespolizei, der ihm schneller als üblich kollegiale Unterstützung und Respekt sicherte.
Das Polizeirevier war erst vor wenigen Jahren renoviert worden, zuvor hatten die Beamten während der Bauarbeiten in Containern arbeiten müssen. Jetzt war man mit modernen Büros ausgestattet, sodass Enzo und Alenka in kürzester Zeit eine Einsatzzentrale für das Team inklusive schnellem Internetzugang eingerichtet hatten.
Enzo trat in den Raum und legte ein Dokument auf den Tisch. »Der Vorbericht der Gerichtsmedizin. Noch nicht allzu viele Details, aber zumindest das, was man äußerlich feststellen konnte.«
»Dann wollen wir mal«, sagte Bolko. »Gleichen wir das mit den Fotos hier ab. Hat Alenka ihr Video fertig?«
Enzo nickte. Kiran sah von den Fotos auf.
»Wir müssen trotzdem noch mal zum Tatort. Ich muss mir das selbst ansehen. Gehen wir aber zuerst alles durch.«
Bolko stellte sich neben die Wand und fasste zusammen. Gestern um 14.38 Uhr war bei der Weseler Polizei wache ein Notruf eingegangen. Ein Jäger hatte in seiner Waldhütte eine Leiche gefunden. Die Zentrale hatte es nicht leicht gehabt, ihn ausfindig zu machen. Der Mann war derart verstört gewesen, dass er sein Telefon fallen lassen und dabei die Verbindung gekappt hatte. Schließlich hatte man ihn über seine Mobilnummer identifiziert und war einfach zu der Hütte gefahren, die beim Grundbuchamt auf ihn eingetragen war. Am Tatort angekommen, hatten die Beamte den Mann wie versteinert auf der Veranda sitzend vorgefunden.
Beim Eintreten in die Hütte begriffen sie sofort, was ihn so erschüttert hatte. Auf einer vor lauter Blut kaum auszumachenden Plane, umgeben von einem Quadrat aus abgebrannten schweren Kerzen, stand ein Stuhl, auf dem das Opfer festgebunden war. Sie trug keine Kleidung, der Körper war übersät mit Schnitt und Brandwunden, die Kehle war durchschnitten. Das Opfer hatte während der Tat auf einen Standspiegel starren müssen, der direkt vor ihr aufgestellt worden war.
Erste Untersuchungen hatten kaum nennenswerte Spuren erbracht. Nirgends Fingerabdrücke, keiner lei Fußspuren. Auf der Plane fand sich nur das Blut des Opfers, sonst nichts. Die Kleidung des Mädchens war verschwunden. Vor dem Haus gab es ebenfalls keiner lei Hinweise auf den Täter oder ein Transportmittel. Das Ganze wirkte, als wären Mörder und Opfer in die Hütte teleportiert worden, wie Enzo anmerkte.
Kiran betrachtete die Fotos des auf dem Stuhl drapierten Opfers. Danach schaltete er das Video an. »Ich nehme an, der Jäger hat keine Ahnung, wer da seine Hütte derart zweckentfremden konnte?«, fragte er, während sie Alenkas Tatortbegehung nachvollzogen.
Bolko schüttelte den Kopf. »Die Jagdsaison hat gerade erst wieder begonnen, und er war zum ersten Mal seit einem halben Jahr dort. Ist auch nicht mehr der Jüngste. Niemand im Umkreis von zwei Kilometern. Der Täter war völlig ungestört.«
Sie blickten Kiran gespannt an, der sich das Video sehr genau ansah. Schließlich drehte er sich um.
»Es ist natürlich noch zu früh für ein Profil, dazu muss ich mehr über die Tote und ihre Lebensumstände hier in Xanten wissen. Was die Tat betrifft, kann ich kaum mehr sagen als das, was am Tatort fotografiert worden ist ...«
»Soll mir fürs Erste reichen«, unterbrach ihn Bolko, »schieß los.«
»Gut. Was wir hier sehen, ist eine durchorganisierte Tat. Vorbereitung, Aufstellung des Szenarios und auch die wahrscheinliche Ausführung lassen klar darauf schließen. Ich würde jedoch noch nicht von Ritualmord sprechen. Ich denke, da haben die Kollegen wegen der Kerzen vorschnelle Schlüsse gezogen. Es steht außer Frage, dass die Kerzen einen Sinn haben, sonst hätte es jede andere Art von Beleuchtung auch getan. Dieser Mörder aber hat Dunkelheit und eine einfache Form des Lichts erzeugt. Auf die Verletzungen will ich zunächst noch nicht eingehen, dazu brauche ich die Ergebnisse der Obduktion. Aber es ist klar, dass hier gefoltert und gequält wurde. Wir wissen allerdings nicht, warum. Befragung oder Unterwerfung, sexuelle Komponenten ...«
»Der Gerichtsmediziner hat in seiner ersten Untersuchung keinerlei Penetration feststellen können«, warf Enzo ein.
Kiran blickte ihn an. »Das ist allerdings aufschlussreich. Das bedeutet, dass ihre Nacktheit vielleicht einen anderen Sinn hatte. Aber wie gesagt, es gibt die absurdesten Formen gestörter Sexualität. Wir sollten gerade deshalb nicht zu früh versuchen, auf die Psyche des Täters zu schließen. Bislang ist nur klar: Das Opfer war wehrlos, komplett ihrer Würde und jeglichen Schutzes beraubt. Sie wurde malträtiert und der Täter wollte, dass sie sich dabei selbst im Spiegel sieht. Das setzt definitiv eine Antipathie oder zumindest eine Art Missbilligung voraus. Das Opfer sollte sich als das sehen, was ihr der Täter vorführte.«
»Aber lässt das nicht schon darauf schließen, dass er sie gekannt hat?«, fragte Bolko.
»Möglich, aber nicht zwingend notwendig. Das hängt davon ab, was der Tatauslöser war. Kommt der Täter aus ihrem Umfeld, dann ganz sicher. Falls nicht, kann es ausreichen, dass sie diese Reaktion durch ihr Verhalten, Aussehen oder auf sonst irgendeine Weise hervor gerufen hat.«
»Kiran, du redest, als ob wir es hier mit einem Serientäter zu tun haben.«
»Der Meinung bin ich nicht unbedingt. Aber wir können derzeit nichts ausschließen. Diese Tat war genau geplant, soviel ist klar. Ich will es nicht bestreiten, dass gerade Serienmorde so ihren Anfang nehmen. Deshalb müssen wir alles über das Umfeld des Mädchen herausfinden.«
Enzo war skeptisch. »Sie ist erst seit wenigen Wochen im Land. Wie kann jemand in so kurzer Zeit etwas Derartiges eigens für sie geplant haben?«, fragte Enzo.
»Guter Einwand, das ist eher unwahrscheinlich. Es kann aber auch sein, dass der Mörder dieses Szenario früher entworfen und nur nach dem passenden Opfer gesucht hat. Eine Austauschschülerin, fernab von ihrem familiären Umfeld, ihren üblichen Freunden und Be kannten könnte da ein risikoloses Opfer gewesen sein. Wie auch immer, vorerst sollten wir uns alle Möglichkeiten offen halten.«
Bolko holte tief Luft. »Ich weiß nicht, Kiran. Ich habe ein sauschlechtes Gefühl bei dieser Sache. Glaubst du tatsächlich, dass das hier eine Einzeltat ist?«
Kiran hob abwehrend die Hände. »Warten wir’s ab. Ich will erst den Tatort sehen. Schauen wir uns an, was dieser Wahnsinnige da eigentlich getrieben hat.«
Die Hütte im Wald hätte eigentlich ein friedliches Bild abgeben können. Eingerahmt von Tannen und Laubbäumen überblickte sie eine kleine grasbewachsene Lichtung nach Osten. Der Sonnenaufgang musste von der Veranda aus herrlich zu beobachten sein. Jetzt war das Areal mit rotweißem Flatterband abgesperrt und die Beamten des Sicherungsteams waren damit beschäftigt, die inzwischen angekommenen Pressefotografen zu ermahnen, die Absperrung auch zu respektieren.
Bolko bedeutete Kiran, ihm nach Rechts in den Wald zu folgen.
»Lass uns die Meute umgehen. Dann können wir auch gleich mal schauen, ob wir nicht doch etwas auf der Rückseite finden.«
Bolko rief einen Beamten des Sicherungsteams an und informierte ihn über ihren Plan. Sie umliefen die Hütte weitläufig und mühten sich durch das dichte Gestrüpp. Bald konnten sie die Hütte ausmachen, deren Umriss durch die Bäume zu sehen war. Kiran stutzte. Auf der Rückseite waren fein säuberlich Möbel übereinander gestapelt.
»Hat der vorher alles ausgeräumt?«
»Wir gehen davon aus«, sagte Bolko. »Wenn der Besitzer seit Herbst nicht mehr hier war, wird er wohl kaum seine Regale und diesen schönen alten Schaukelstuhl draußen gelassen haben.«
Sie gingen durch die Hintertür und betraten den einzigen Raum der Hütte. Draußen war es spätsommerlich warm, hier im Innern war es unangenehm stickig. Es roch nach getrocknetem Blut und Angst. Bolko machte das Licht an. Der Täter hatte die Fenster verklebt, nicht der kleinste Sonnenstrahl drang nach innen. Sie zogen sich ihre Plastiküberschuhe an und sahen sich um. Der Raum wirkte wie eine Theaterbühne, mit dem Stuhl, dem Spie gel und den Kerzen rund um das Viereck als den einzigen Requisiten. Kiran verbannte die aufkommende Übelkeit in die hinterste Ecke seines Bewusstseins und untersuchte zunächst den Boden, dann trat er an die Plane heran. Er holte sein Mobiltelefon hervor, sah sich auf dem Display einige der Fotos an, blickte wieder zur Plane.
»Die Spuren hier stammen wohl vom Abtransport der Leiche. Vorher nicht ein einziger Fußabdruck. Wie um alles in der Welt ist das möglich?«
»Keine Ahnung«, antwortete Bolko. »Mag ja sein, dass man nach dem Schnitt durch die Kehle nach hin ten springen kann, aber was ist mit dem Blut von den anderen Verletzungen?«
»Das ist das Problem, selbst kleinste Schnitte hinter lassen Blutspuren.«
Dann kam ihm eine Idee. Er betrat vorsichtig die Plane, beugte sich nach unten und kippte den Stuhl. Zu nächst war nur getrocknetes Blut zu sehen, dann aber entdeckte er es: Ein minimaler Fetzen einer zweiten Plane klebte am hinteren rechten Stuhlbein. Er entfernte ihn mit einer Pinzette und hielt ihn gegen das Licht.
»Eine zweite Plane.« Er sah Bolko resigniert an. »Ich glaube nicht, dass wir viel finden werden.«
Bolko schaute ungläubig. »Wozu braucht der eine zweite Plane, wegen der Spuren?«
»Anzunehmen. Er hat zuerst die Hütte geleert und sie dann bis fast zur Sterilität gesäubert, wie du an den Resten von ätzendem Scheuermittel sehen kannst. Dann hat er zwei Planen ausgebreitet und den Stuhl aufgestellt. Das Opfer wurde zunächst gefoltert, dann muss er die erste Plane beseitigt haben. Da laut den Fotos auch keine Blutspuren an den anderen Wunden des Opfers waren, hat er wahrscheinlich sogar sie gereinigt. Dann war alles bereit für den finalen Akt.«
Bolko betrachtete das blutige Viereck. »Wie kann man das so präzise planen? Und das alles nur für den eigentlichen Todesstoß?«
»Nicht nur. Hauptsächlich hat er mit der ersten Plane alle Spuren beseitigt. Falls er jedoch für die endgültige Tötung ein gesäubertes Areal haben wollte, dann haben wir es mit einem weitaus gestörteren Menschen zu tun, als ich bislang angenommen hatte.«
Bolko atmete flach. »Was siehst du noch?«
»Der Raum ist perfekt abgedunkelt, als wäre er nicht mehr Teil der Umwelt, wie autark. Der eigentliche Tatort ist alles, was noch im Blickfeld ist.«
»Was hältst du von den Kerzen?«
Kiran dachte nach. Irgendetwas an diesem Tatort war widersprüchlich. Hier trafen Hinweise aufeinander, die einfach nicht zusammen passten.
»Das Ganze ergibt irgendwie keinen Sinn. Der Raum ist praktisch steril. Man könnte meinen, der Täter wäre ein Arzt oder Chirurg, der kühl und professionell vor geht. Dann aber die Aufstellung mit dem Spiegel und den Kerzen, die eher Emotionalität suggerieren. Auf den ersten Blick sieht es nach der Tat von jemandem aus, der einerseits kontrolliert ist, auf sich und seine Tat fokussiert ist. Zugleich scheint er mit dieser Tat etwas demonstrieren zu wollen. Aber dann fehlen die entsprechenden Symbole, Botschaften oder andere Hinweise, die solche Täter eigentlich immer zurücklassen. Hier ist die Botschaft allein das Opfer, der Stuhl und der Spiegel, nichts sonst.«
Sie sahen sich an.
»Das gefällt mir gar nicht, Kiran. Wir müssen uns organisieren, und das schnell. Ich glaube, das wird eine verdammt üble Sache werden.«