Читать книгу Der Zweck heiligt den Mord - Imre Szabo - Страница 3
Dienstag 16.11.2011 gegen 5:00
Оглавление„Wieso müssen diese Arschlöcher sich immer mitten in der Nacht das Leben nehmen?“ Hansen war stinksauer, dass er wieder aus seinem Tiefschlaf herausgerissen und zu einem Tatort gerufen worden war. Gegen fünf Uhr hatte sein Telefon geklingelt. „Ein Toter unter der Sauertalbrücke. Sieht nicht gut aus. Am besten du frühstückst nichts“, hatte der Kollege von der Rufbereitschaft ihn vorbereitet. Und so war es dann auch. Die Leiche sah übel aus. Kein Wunder, wenn man von da oben herunterspringt. Hansen wusste nicht genau, wie hoch die Brücke war. Aber um die hundert Meter werden es schon sein.
„Konnte der Blödmann nicht zwanzig Meter weiter drüben abspringen?“, maulte Hansen in sich hinein. „Dann wäre er bei den Luxemburgern aufgeschlagen. Hätten die sich halt drum kümmern müssen und ich hätte noch ein paar Stunden schlafen können. Hat Glück, der Kerl, dass er schon tot ist, sonst hätte ich ihm nachträglich noch den Hals rumgedreht, eigenhändig sogar. Als hätte unsereins nichts besseres zu tun, als sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, nur weil so einer keine Lust mehr am Leben hat. Ich hab noch Lust am Leben, mein Lieber, ich schon! Aber wenn mir noch mehr von deiner Sorte übern Weg laufen, dann wird sie mir auch bald vergehen. Wieso nehmen die keine Schlaftabletten? Die machen sich anscheinend keine Gedanken darüber, wie es uns dabei geht, die wir den ganzen Rest, der von ihnen übrig bleibt, zusammenkratzen müssen. Sieht doch zum Kotzen aus, so ne Leiche, wenn sie mit voller Wucht aufn Asphalt geklatscht ist. Da ist ja nichts mehr heil oder an der Stelle, wo es zu sein hat. Papiere hat er auch keine dabei. Na, super, jetzt können wir aus dem Hackfleisch auch noch versuchen herauszufinden, wer das mal früher war. Meine Güte, bin ich froh, wenn ich in Rente bin. Die denken wohl, dass wir nichts anderes zu tun haben, als ihre Identität zu ermitteln, als ob wir nicht schon genug zu tun haben mit dem Anblick, den sie uns bieten. Die von der Streckenkontrolle sollen mal Schilder oben auf der Brücke anbringen mit Hinweisen an Selbstmörder, dass sie aus Rücksicht auf uns Ermittler doch lieber Schlaftabletten nehmen sollen. Ist doch ne schöne und saubere Sache. Nimmst ne Überdosis, legst dich hin, dämmerst weg und wenn du morgens wach wirst, biste tot und hast nix gemerkt. Und wenn du es dir zwischendurch anders überlegst, kannste immer nochn Rettungswagen rufen. Damit erspart uns der Herr Selbstmörder viel Arbeit und kann vielleicht noch seine Rente verfrühstücken, die er sonst dem Staat schenkt. Aber wenn du erst mal in der Luft bist, gibt’s kein Zurück mehr.“
Schlecht gelaunt und verschlafen haderte Hansen mit seinem Job an solchen Tagen wie dem heutigen und vor allem mit solchen Leuten, die keinen Sinn mehr sahen in ihrem Leben. Er war nicht gerade zum Zyniker geworden im Laufe seiner Dienstjahre, aber seine eigentlich zarte Seele, die hinter diesem scheinbar gefühllosen Geschimpfe Schutz suchte, schrie immer lauter um Hilfe, wenn er zu solchen Einsätzen gerufen wurde, wo ein Mensch, aus welchen Gründen auch immer, seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.
„Die sind ja nicht vor lauter Glück da runter gesprungen. Die sind verzweifelt.“ Aber manchmal sagte sich Hansen nach Abschluss der Ermittlungen, wenn sie die Motive herausgefunden hatten. „Dafür bringt man sich doch nicht um, meine Güte. Das hätte mit etwas Vernunft und Besonnenheit, mit der Bereitschaft zum Dialog und weniger Rechthaberei auch anders gelöst werden können. Aber so sind die Leute heute. Früher haben sie sich aus Not das Leben genommen. Heute, weil sie total plemplem sind und vernagelt im Kopf. Alles muss nach ihren verquasten Vorstellungen gehen. Und wenn es anders läuft, als sie glauben, dass es laufen muss, dann bringen sie sich gegenseitig um oder die eigene Familie und dann sich selbst oder manchmal auch alle zusammen. Und das alles nur, weil sie sich nicht von den eigenen Vorstellungen und Hirnfürzen lösen können. Die meisten haben ja keine materielle Not, höchstens seelische. Komische Zeiten heute. Jeder hält sich für das Zentrum des Universums und glaubt, dass es nur die eigene Weltsicht gibt und die eigenen Interessen und Gefühle und Wünsche. Dass auch andere Menschen das haben und wünschen, dass es respektiert wird, kommt ihnen nicht in den Sinn, und schon gar nicht, dass man Vieles durch Gespräch und gegenseitige Bereitschaft lösen könnte. Da springen die Idioten lieber hier über das Brückengeländer in den Tod als über den eigenen Schatten.“
„Melchi, komm mal her! Was kannst du mir sagen über unsere Portion Hackfleisch hier?“ Melchi, eigentlich Melchisedech, zuckte nur mit den Schultern. „Was ich dir mit Sicherheit sagen kann, Hansen, ist, dass es sich bei der Leiche um einen Mann handelt und dass er Schuhgröße 44 hatte. Alles andere ist unklar. Todeszeitpunkt zwischen 22 und 1.30 Uhr nach dem Auskühlungsgrad der Leiche zu urteilen. Aber bei den ungewöhnlich lauen Temperaturen schließe ich eher auf 22 Uhr als später. Aber Genaueres erst nach… Du kennst ja meine Standardantwort. Und frag mich nicht, ob es Hinweise auf einen Kampf gibt. Bei dem Zustand der Leiche wäre es ein Glücksfall, wenn ich etwas Eindeutiges finden könnte. In dem Falle sollten wir beide die Glückssträhne ausnutzen und Lotto spielen.“
„Mach mal weiter, Melchi. Ich brauch so schnell wie möglich Handfestes, damit wir rauskriegen können, wer der Kerl war. Wo ist der Mann, der die Leiche gefunden hat? Glaub’ ich gerne, dass der nen Schock hat. Wo ist er, im Krankenhaus? Na wunderbar, auch das noch. Welches Krankenhaus? Hatte ihn jemand vernommen? Hatte er irgendetwas Sachdienliches sagen können? Dachte ich mir, Scheiße! So ein Mist, das ganze sieht wieder nach nem Haufen Arbeit aus, wobei nichts weiter herauskommt als das, was offensichtlich ist, dass der Kerl sich vor lauter Übermut das Leben genommen hat. Habt Ihr schon oben die Brücke abgesucht? Was? Noch keiner? Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen? Der Kerl muss doch irgendwie hierher gekommen sein. Vielleicht steht da oben sein Auto mit laufendem Motor, Ausweispapiere und fertig geschriebener Abschiedsbrief hinter der Windschutzscheibe und wir Deppen suchen hier unten nach jeder kleinsten Spur eines Hinweises. Los zwei von Euch nach oben. Wie Ihr da hinkommen sollt? Versucht es doch mal auf demselben Wege wie der hier, fliegen. Was weiß ich, wie ihr da oben hinkommen sollt, Macht Euch selbst Gedanken. Wie wärs, wenn ihr es in Euer Navi eingebt, ihr Vollpfosten?“ Hansens Laune verschlechterte sich zusehends. Soviel Stümperei bei solch alten Hasen, wie er sie in seinem Team hatte, brachte seine Galle regelmäßig zum Überlaufen. Nach so vielen Berufsjahren müsste doch jeder von denen wissen, was zu tun ist, auch wenn sie nicht jedes Mal Anweisungen von ihm bekamen. Durfte doch nicht wahr sein, dass die immer noch nicht die Brücke abgesucht haben!
„Ist die Prinzessin schon eingetroffen? Hat die jemand verständigt?“ rief er über die Schar seiner Mitarbeiterin hinweg. So nannte Hansen die Praktikantin, die ihm zugeteilt worden war und die er lieber heute als morgen wieder dahin zurückschicken würde, wo sie hergekommen war. Sie war eine dieser Neumalklugen aus guten Hause, die aufgrund von Abitur und zwei Semestern BWL, Jura oder Psychologie glaubte, es immer besser zu wissen, wie alles läuft. Zudem war sie fest überzeugt und frei von jedem Zweifel, dass dieses Wissen die bestens abgesicherte Grundlage dafür war, zu allem seinen Senf dazugeben zu können.
„Ruft die noch mal an. Die soll gleich zur Brücke kommen und nicht erst hier ins Tal fahren. Warum ich die nicht selbst anrufe? Geht dich gar nichts an, Thömmes? Wenn ich die jetzt noch an der Strippe habe, dann ist der Tag für mich für heute gelaufen. Hab keine Lust, mich mit dem Naseweis in endlose Diskussionen zu verstricken. Ruf sie an, Thömmes! Die soll ihren hübschen Hintern, dem du immer so gierig hinterherschaust, hierher bewegen. Aber dalli.“
Hansen konnte diese Frau nicht ausstehen. Ihre altkluge Art und ihre ständige, aufgeregt und moralisch vorgetragene Empörung ließen eine Wut in ihm aufsteigen, die er an sich sonst eigentlich gar nicht kannte. Moralisches Empörtsein war ihre Qualifikation und damit glaubte sie, überall die Regeln bestimmen und missionieren zu können. Hatte sie von Zuhause: Vater Lehrer, Mutter Lehrerin. Eine Kombination, die Hansen im schulischen Umfeld seiner Kinder kennengelernt hatte und die in ihm schlagartig ein bisher nie gekanntes Verständnis für Amokläufer hatte entstehen lassen. Das hieß nicht, dass er die Gewaltexzesse solcher Schüler rechtfertigte, ganz und gar nicht. Aber er glaubte zum ersten Mal nachempfinden zu können, was in solchen jungen Menschen vor sich gehen musste, wenn sie ständig konfrontiert waren mit diesem Moralgetue, das nur einen Sinn hatte: Konflikte unterdrücken und Fragen abwimmeln, auf die das akademische Personal selbst keine befriedigenden Antworten hatte.
„Nein, die ist noch nicht da. Wir haben sie zur gleichen Zeit angerufen wie Sie, Chef. Müsste eigentlich schon längst da sein“, kam es zurück auf seine Frage. Seine Kollegen wussten um seine Abneigung ihr gegenüber. Und da sie bei allen anderen auch nicht gerade sehr beliebt war, genossen sie es, ihren Chef mit nachlässig hingeworfenen Bemerkungen gegen die Praktikantin aufzubringen. Sie mochten es, wenn er sie in den Senkel stellte. Und wäre sie nicht eine solche Schönheit gewesen, von der nicht zuletzt sie selbst so sehr begeistert war, hätte sie sicherlich das Dasein einer grauen Maus im Behördenapparat der Kripo gefristet. Aber so sprach dann doch einiges für sie, wenn es auch nicht gerade ihr Charakter war. Sympathisch war sie nicht, aber hübsch, was ja in Männeraugen viel aufwiegt.
„Ruf sie an, Thömmes! Ich geh auch nach oben. Hier unten kann ich sowieso jetzt nichts ausrichten. Die soll zur Brücke kommen, Thömmes. Hast Du mich verstanden?“ Hansen keuchte die Böschung hinauf zu seinem Auto, nahm noch einen Kollegen von der Spurensicherung mit und fuhr hinauf zur Brücke.
Gleichzeitig mit ihm kam auch die Praktikantin an. „Auch schon da?“, fuhr Hansen sie an. „Wollen Sie in die Disco oder uns hier bei der Ermittlungsarbeit helfen? So wie Sie rumlaufen, gehe ich zum Abschlussball meiner Tochter. Hier ist Arbeit angesagt, nicht Modenschau. Und das nächste Mal, wenn Sie zu einem Tatort gerufen werden, kommen Sie wie alle andern sofort und nicht erst ne halbe Stunde später. Schminken und aufbrezeln können Sie sich, wenn Sie abends auf die Piste gehen. Hier können Sie gerne ungeschminkt rumlaufen. Und wenn Ihnen das nicht passt, dann machen Sie Ihr Praktikum in der Wellness-Oase. Ihre Kollegen machen zum Teil schon seit einer Stunde da unten ihre Arbeit. Die wären froh um jede Hilfe, auch wenn sie nicht gerade ausm Modekatalog gesprungen ist.“ Hansen war erleichtert. Das hatte ihm den ganzen Morgen schon im Magen gelegen. Und trotzdem brodelte es weiter in ihm.
„Guten Morgen, erst einmal“, antwortete sie schnippisch und beleidigt. „Wollen Sie nicht zuerst einmal fragen, weshalb ich zu spät komme. Vielleicht habe ich ja gute Gründe? Und außerdem finde ich Ihren Ton total daneben.“ „Das interessiert mich überhaupt nicht. Können Sie später auf facebook posten. Wir sind hier bei der Kripo und nicht bei der Telefonseelsorge oder in einem Psychologieseminar. Machen Sie Ihre Arbeit. Das ist das einzige, was mich interessiert und was von Ihnen erwartet wird. Und das bedeutet, dass Sie von hier aus die Straße absuchen, ob sie Hinweise finden, die dazu beitragen können, den Tod dieses Mannes da unten aufzuklären. Denn irgendwie muss er ja hierher gekommen sein, um runter zu springen. Sein Auto hat er ja offensichtlich nicht gerade dort geparkt, wo er den großen Sprung gemacht hat.“ Hansen wandte sich zu seinem Kollegen. „Und du untersuchst das Geländer auf Spuren. Ich werde mal sehen, ob der Kerl vernehmungsfähig ist, der den Toten gefunden hat. Anschließend treffen wir uns im Präsidium zur Auswertung der Erkenntnisse.“
Alle gingen auseinander und ihren Aufgaben nach. „Mann, geht die mir aufn Sack. Hoffentlich geht die, noch bevor ich in Rente gehe. Sonst werde ich zum noch kurz vor meiner Rente zum Frührentner“, grummelte Hansen noch vor sich hin, als er sein Auto bestieg. Die Befragung des Zeugen ergab nichts. Er war Rentner, der sich mit der Zustellung der Zeitung etwas dazuverdiente. Deshalb war er so früh auf den Beinen gewesen. Er nahm immer seinen Hund mit, damit er Gesellschaft hatte und auch Schutz im Dunkeln. Man höre ja oft genug von Überfällen und Ähnlichem. Der Hund hatte die Leiche gefunden, und er selbst hatte dann sofort die Polizei verständigt. Aber sonst hatte er nichts gesehen, was Bedeutung gehabt hätte.