Читать книгу Der Zweck heiligt den Mord - Imre Szabo - Страница 5
Mitte Oktober 2010
ОглавлениеMan saß im „Arbeitskreis Meinungsfreiheit“ zusammen in gepflegter Runde. Man traf sich gelegentlich zum Meinungsaustausch. Die Besetzung wechselte. Es war immer nur ein informelles Treffen, nichts Offizielles. Früher, als Bonn noch Regierungssitz gewesen war, hatte sich hier mehr abgespielt. Jetzt war das Haus zu einer Art Nebenstelle herabgesunken. Die Musik spielte jetzt in Berlin. Aber man traf sich doch immer wieder gerne hier, alleine schon der alten Zeiten wegen. Die Regierungsferne hatte dem Kreis in Bonn nicht geschadet, wie einige anfangs befürchtet hatten, als die Regierung nach Berlin umgezogen war. Man pflegte nun mehr den Meinungsaustausch, die Meinungsbildung. Das war langfristig gesehen wesentlich fruchtbarer.
Die Regierungsnähe und die Medienwucht Berlins verleiteten doch so manches Mitglied, Politik machen zu wollen. Das führte besonders im Berliner Hauptsitz gelegentlich zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikten innerhalb dieses Kreises. Hier in Bonn war es ruhiger. Es gab weniger Schnellschüsse von Heißspornen, die sich noch ihre Sporen verdienen wollten. Hier trafen sich die Senatoren des Medienbetriebes und tauschten sich aus über die allgemeine Lage. Man diskutierte über Entwicklungen, die sich abzuzeichnen schienen. Und natürlich ging man dann auch der Frage nach, welchen Einfluss das auf die Geschäfte haben könnte. Konnten daraus politische oder wirtschaftliche Vorteile entstehen oder gar Nachteile? In beiden Fällen drehte sich dann natürlich die Diskussion um die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Besonnenes Handeln war Trumpf. Aber man schreckte auch nicht vor entschlossenem Handeln zurück, wenn erkennbar war, dass eigenen Interessen bedroht waren.
Hier war das Kraftzentrum des deutschen Medienbetriebs. Hier trafen sich die Besitzer und Lenker der Zeitungen und Fernsehsender, der Buch- und Zeitschriften-Verlage. Sie waren nicht nur die Besitzer der Medien, sondern auch die Meinungsmacher. Sie bestimmten darüber, welche Informationen man für wichtig hielt, um sie der Öffentlichkeit zukommen zu lassen und in welcher Form das geschehen sollte. Wenn diese Fragen auch meistens von den Leuten entschieden wurde, die in ihrem Interesse ihre Geschäfte führten, so hatten doch im Ernstfall die hier Versammelten das letzte Wort. Aber von solchen Diskussionen erfuhr die Öffentlichkeit nichts. Zwar betrieb man Öffentlichkeit als Geschäft, das bedeutete aber noch lange nicht, dass alles für die Öffentlichkeit bestimmt war. Worüber sie hier sprachen, kam nicht in ihre Zeitungen und Sendungen. Denn das war nicht für jedermanns Ohren bestimmt.
Dazu gehörten Absprachen über ihre Geschäfte. Man war sich einig, dass man sich nicht auseinanderdividieren lassen durfte, wenn es um gemeinsame Interessen ging. Wie die Stahlunternehmer, die Elektroindustrie, die chemische Industrie und alle anderen Wirtschaftszweige so hatten auch sie als Medienunternehmer ihren eigenen Verband gegründet, um ihre besonderen Interessen innerhalb der Gesellschaft und gegenüber dem Staat geltend zu machen. Dieses geschäftliche Interesse stand für sie im Vordergrund. Aber neben diesem gab es auch ein gemeinsames politisches Interesse. Dieses bestand im Schutz der bestehenden Gesellschaftsordnung, die die Grundlage ihrer Geschäftstätigkeit bildete. Diese Ordnung war die kapitalistische Ordnung des freien Unternehmertums. Sie als Medienunternehmer waren sich ihrer besonderen Verantwortung für diese Ordnung bewusst. Denn sie beeinflussten in ganz besonderem Maße über ihre Medien das Denken der Menschen. Sie lenkten die öffentliche Meinung, indem sie auswählten, worüber berichtet wurde und worüber nicht und in welchem Umfang über einzelne Vorgänge berichtet wurde. Aber nicht nur das. Sie nahmen auch Einfluss auf die Stimmungen, die mit ihrer Berichterstattung vermittelt werden sollten. Sie versuchten, das Weltbild der Medienkonsumenten im Interesse der bestehenden Ordnung zu beeinflussen. Denn sie wollten keine andere Ordnung als die bestehende. Das war ihr gemeinsamer Nenner.
In allen anderen politischen und wirtschaftlichen Tagesfragen konnte es mitunter erhebliche Differenzen geben. Da konnte es manchmal ordentlich stauben zwischen ihnen. Da fielen in der Hitze des Gefechtes auch schon einmal sehr harte Worte, die bis zu lautstarkem Streit eskalierten. Aber das dauerte meistens nicht lange und führte in der Regel auch nicht zu dauerhaften Zerwürfnissen. Man war nicht empfindlich. Man teilte aus und steckte aber auch ein. Das brachte das Geschäft so mit sich.
Eine dieser tagespolitischen Fragen, die das Zeug hatten, zu einigen lautstärkeren Auseinandersetzungen zu führen, war die letzte Rede des Bundespräsidenten Vogell. Nicht zuletzt deswegen waren an dem heutigen Abend mehr Teilnehmer in dieser Runde erschienen als gewöhnlich. Man wollte die Meinungen der anderen hören, ein Stimmungsbild erfassen. Was dachten die anderen? Wie schätzten sie die Auswirkungen dieser Aussagen des Bundespräsidenten ein auf ihre Interessen? Und wie sollte mit dem Thema weiter verfahren werden? Erste zurückhaltende Reaktionen hatte es schon gegeben in Presse und Fernsehen. Das aber waren eigentlich nur Testballons. Man wollte die öffentliche Befindlichkeit zu dem Thema ausloten. Nun aber stand die Frage im Raum, wie wollte man sich verhalten, wenn die Diskussion über das Thema, das der Bundespräsident angeschnitten hatte, sich ausweitete? Welchen Standpunkt hatte man selbst dazu?
„Wie konnte der so etwas sagen“, regte sich Bulthaupt von der Verlags- und Senderdynastie Henkelmanns auf. „Haben wir denn in der letzten Zeit nur noch politische Dilettanten im höchsten Amt unseres Landes. Der Köhler, dieser Märchenonkel, stellt sich hin und faselt da unüberlegt vor sich hin, dass Kriege auch aus wirtschaftlichen Erwägungen geführt werden. Und jetzt kommt dieser Vogell und behauptet, dass der Islam ein Teil von Deutschland sei oder wie er sich ausgedrückt hat. Ja, ist der denn von allen guten Geistern verlassen? Oder besser, die beiden? Sind das Schwachköpfe oder denken die sich was dabei? Wie sehen Sie das, Läufer?“
Läufer vom Läufer-Verlag war der Platzhirsch unter den Versammelten. Sein Vater hatte nach dem Kriege ein riesiges Zeitungsimperium aufgebaut. Er lehnte sich wichtig in dem edlen Ledersessel zurück. „Ich würde mal so sagen. Von dem Köhler konnten wir nicht unbedingt mehr erwarten. Der kam zu dem Posten wie die Jungfrau zum Kind. Der ist Ökonom. Für die ist es selbstverständlich, dass wirtschaftliche oder wirtschaftspolitische Überlegungen Grundlage fast jeder Entscheidung sind. Der denkt sich nichts dabei, wenn er so etwas sagt, und fällt dann aus allen Wolken, wenn es aus seiner Umgebung Proteste hagelt. Der Struck von der SPD war da schlauer gewesen. Der behauptete, dass die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt wird. Damit hat er den deutschen Angsthasen auf seiner Seite. Denn viele unserer Landsleute haben Schiss vor Taliban und Islamisten. Bei denen hat der Struck offene Türen eingetreten. Wir hier wissen, dass das Blödsinn war. Aber der deutsche Hosenscheißer lässt sich doch gerne einen Arm abhacken, wenn es zu seiner Sicherheit ist. Hauptsache Sicherheit…“.
„Ja, und dann kommt dieser Köhler daher und faselt was von den wirtschaftlichen Aspekten dieses Kriegs. Recht hat er ja, aber das kann man doch öffentlich so nicht sagen. Der Krieg ist ohnehin nicht populär. Und wenn der dann noch so etwas sagt, dann liefert er doch nur den Gegnern Munition. Wie sollen wir dann den Krieg schön schreiben, wenn der Bundespräsident daraus einen geschäftlichen Vorgang macht?“, meldete sich der Pohl vom Verlagshaus Brincks zu Wort.
„Klar, da macht sich der Bundespräsident zum Kronzeugen all dieser Friedensschwuchteln. Die Leute im Land sind ja bereit, die Opfer zu tragen, solange sie glauben, dass es um Menschenrechte, Frauenrechte und all das Zeug geht. Aber sie machen doch nicht mehr mit, wenn ihre Kinder für wirtschaftliche Interessen dort den Kopf hinhalten sollen.“ Das war Lehmann, Chefredakteur der KLAR-Zeitung. Er grinste in sich hinein bei dem Gedanken, dass sie als Meinungsmacher nicht unwesentlich dazu beigetragen hatten zu diesem Zeug, wie er die Kriegsziele genannt hatte.
„So sehe ich’s auch“, meinte ein anderer. „Und deshalb war es wichtig und gut, dass die Kanzlerin damals schnell den Onkel Horst aus dem Amt gedrängt hatte. Nicht auszudenken, wenn damals noch eine breite Diskussion über die wirtschaftlichen Hintergründe dieses Krieges ausgebrochen wäre. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Onkel Horst hat den Dienst quittiert und damit ist die Sache vom Tisch. Aber mit dem Vogell, das wird schwieriger. Der hat uns ein ganz schönes Kuckucksei ins Nest gelegt.“
„Aber meine Herrn, was ist denn schon passiert, außer dass das ausgesprochen wurde, was die meisten ohnehin akzeptiert haben, weil es seit Jahrzehnten schon Realität ist. Diese Ausländer leben nun schon zum Teil über fünfzig Jahre hier. Sie haben hier Familie, Kinder und zum Teil schon Enkel. Die sind alle hier geboren. Deutschland ist deren Heimat, nicht die Türkei oder sonst was. Das ist doch einfach Fakt. Die haben doch auch einen Großteil zu unserem Wohlstand beigetragen. Wer wollte denn damals, als die kamen, noch in den Bergwerken arbeiten oder bei VW am Band oder bei der Müllabfuhr. War uns Deutschen doch alles zu dreckig und anstrengend geworden“.
„Na, na, na, Senftl, nun werden Sie mal nicht so liberal und sozialromantisch wie ihr Südkurrier. Wir wissen ja, dass das ihre Marktlücke ist, Linksliberalismus“, ging der Läufer dazwischen. „Das geht bei den Intellektuellen, die Ihre Zeitung lesen. Die mögen so etwas oder all diese verzückten Christenmenschen. Aber mir ist das zu gutmenschlich, und den meisten der kleinen Leute auf der Straße ist das zu kompliziert. Die mögen es lieber knapp und klar, weshalb auch meine Zeitung ja nicht umsonst KLAR heißt.“
Der letzte Teil des Satzes war im allgemeinen Gelächter untergegangen, das schon beim ersten „klar“ ausgebrochen war. Man kannte den Läufer. Der war ein Schlitzohr, und er machte mit seinem witzigen Spott nicht einmal vor sich selbst und seinem Zeitungsimperium halt. Er liebte es, solche Sätze zu formulieren, in denen er Anspielungen auf eine seiner vielen Zeitungen machte. Man hatte ihm schon scherzhaft vorgeworfen, für seine Käseblätter hier in diesem Kreise Werbung zu machen, um seine Auflagen noch mehr zu steigern. Einer von ihnen hatte sogar vor aller Augen ein Abonnement für eine von Läufers Zeitungen abgeschlossen. Dabei machte er aber die Auflage, dass Läufer dann in Zukunft seine Eigenwerbung unter ihnen einstellte. Man hatte sich einen Riesenspaß aus der Sache gemacht. Läufer soll den Abo-Vertrag dann am nächsten Tag eigenhändig in seiner Vertriebsabteilung abgegeben haben. Er hatte sogar das Werbegeschenk dafür verlangt und auch erhalten. Der Mitarbeiter im Vertrieb hatte seinen Chef nicht erkannt. Der ganze Arbeitskreis hatte getobt, als Läufer diese Geschichte bei nächsten Treffen zum Besten gegeben hatte. Und das war nicht das letzte Mal, dass er sie hat erzählen müssen. Diese Geschichte wurde zu einem ähnlichen Muss wie Dinner for one am Silvesterabend.
Noch immer lachend, wandte einer von der Wochenzeitschrift „die Woche“ ein: „Herr Senftl hat ja nicht ganz unrecht. Viele dieser Ausländer leben doch schon länger hier als die meisten Deutschen selbst. Die können zum Teil sogar besser Deutsch als die meisten Hauptschüler, die unsere Schulen verlassen. Aber von denen verlangt niemand Integrationsnachweise oder ähnliches. Sie gelten als integriert, nur weil die Eltern Deutsche sind. Wenn ich dann aber das Verhalten von manchen dieser Früchtchen aus gutem Hause ansehe, dann frage ich mich, wer sich denn sozialverträglicher verhält, diese scheuen Türken oder die verwöhnten deutschen Klugscheißer?“ Man überging diesen Einwurf.
„Ich muss dem Läufer da beipflichten, Senftl“, mischte sich der alte Bolda ein. Er war der Herrscher über das gleichnamige Zeitschriften-Imperium, das die Lesezirkel der Arztpraxen und Kaffeetische der älteren Damen mit dem Neusten aus der Welt der Schönen, Reichen und Blaublütigen versorgte. „Mit dem Köhler war auch das Problem weg. Und zum Glück war das damals sehr schnell gegangen, sodass dessen unüberlegte Worte nicht zu einer Diskussions-Epidemie geführt hatten. Die Ansteckung der Gesellschaft mit dem Antikriegs-Virus hatte gerade noch rechtzeitig unterbunden werden können. Die Frau Doktor Merkel hatte die richtige Therapie angewendet.“ Manche schmunzelten bei diesem Wortspiel, auch Bolda selbst, während er weiter sprach. „Mit dem Vogell ist das aber nicht so einfach, gerade weil er genau das sagt, was viele denken. Viele halten es für richtig. Anderen ist es egal. Sie sehen da kein Problem drin, wenn der Islam auf einmal genau so zu Deutschland gehört wie alle anderen Religionen auch. Im Grunde ist den meisten die Religion ja schnuppe.“
„Und was spricht dagegen? Bolda und Sie, Läufer, was haben Sie für ein Problem mit dem Satz des Vogell?“, drängte der Senftl. „Wir sollten die Tatsachen anerkennen, die sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben.“
„Dann hätten wir auch die Mauer anerkennen müssen“, ging Läufer dazwischen. „Die war auch Realität und hat Jahrzehnte lang Deutschland geteilt, und nicht nur Deutschland, sondern auch Europa, ja die ganze Welt. Ich habe diese Realität nie anerkannt so wie wir alle hier. Sie, Senftl, haben ja auch nie vom Wiedervereinigungsgedanken abgelassen, oder? Ich habe immer mit meinen Zeitungen gegen diese Mauer und den Sozialismus dahinter angearbeitet. Nicht auszudenken, was aus uns geworden wäre, hätten die Kommunisten auch hier die Herzen der Leute erobern können wie in China oder Südostasien. Nach dem Krieg hatte ja nicht viel daran gefehlt und die sozialistische Epidemie hätte sich auch in ganz Europa ausgebreitet. Ich hatte die Mauer in Berlin jeden Tag vor Augen. Und was ist heute mit dem Ding? Es gibt sie nicht mehr. Hätte ich, hätten wir uns dieser Realität gebeugt, stünde sie immer noch. Manchmal muss man Realitäten anerkennen, auch wenn sie einem nicht passen. Man kann aber auch Realitäten, die einem nicht passen, versuchen zu verändern, wenn man die Macht hat und die Gelegenheit sich dazu bietet. Und wir haben die Macht. Wir müssen uns nicht dem beugen, das uns gegen die Strich geht. Wir haben die Mittel, die öffentliche Meinung in unserem Sinne zu beeinflussen.“ Läufers Gedanke beeindruckte. Einen kurzen Moment herrschte Stille.
„Daher also weht der Wind“, dachte Lehmann. Deshalb also war er von Läufer zu diesem Treffen eingeladen worden. Lehmann sollte hören, was der Läufer über eine bestimmte Sache dachte. Natürlich konnte ihm Läufer keine Anweisungen geben, denn als Chefredakteur der KLAR-Zeitung war Lehmann unabhängig von Weisungen aus dem Kreis der Aktionäre. Aber was der Läufer an Vorstellungen andeutete, war für Lehmann ein Hinweis auf das, was der Läufer gerne umgesetzt wünschte. So hieß es nun für Lehmann, genau aufpassen, in welche Richtung der Läufer politisch zielte und argumentierte. Und eines konnte Lehmann sicher sein, wenn er nicht das Richtige in den nächsten Tagen tat, würde er nicht mehr lange seinen Posten haben bei der KLAR-Zeitung. Zwar hatte Läufer in seinem ehemaligen Verlag auch nicht mehr zu sagen als jeder andere Aktionär. Aber so zu denken war blauäugig. Denn wenn Läufer wollte, dass Lehmann geht, dann würde Lehmann gehen. Das war dann nur noch eine Frage der Abfindung, nicht der Argumente. „Also, Spitz pass auf“, sagte sich der Lehmann innerlich. „Was will der alte Fuchs mir sagen. Was soll geschehen in der Sache Vogell?“
Nach einer kleinen Pause, die einer Schrecksekunde glich, nach den Worten des Zeitungszaren, war allen klar, dass es jetzt mit der unverbindlichen Diskutiererei vorbei war. Es wurde ernst. Läufer wollte etwas, das war allen klar. Ab jetzt ging es um mehr. Läufer wollte einen Vorschlag zu einer Vorgehensweise diskutieren. Politisches Handeln war jetzt auf die Tagesordnung gesetzt worden, politisch im Sinne ihrer Interessen. Wie sollte in den Medien, in ihren Medien, mit Vogell verfahren werden, wenn dieser so weiter machte, wie es sich in seiner letzten Rede angedeutet hatte? Diese Frage stand nun auf der Tagesordnung.
Der Senftl erholte sich als erster. „Wir sind nicht die Politik, Läufer, auch wenn wir manchmal Politik beeinflussen. Wir sollten uns auch davor hüten, zu tief einzugreifen in diese Vorgänge. Das kann sehr schnell gegen uns zurückschlagen. Das Ansehen der Medien hat gelitten in den letzten Jahren, wie das Ansehen fast aller staatstragenden Einrichtungen. Überall im Internet schießen Blogs wie Pilze aus dem Boden. Die Menschen informieren sich zunehmend aus anderen Quellen und diskutieren immer weniger in unseren Leserbriefecken, die wir als Reservate der freien Meinungsäußerung anbieten. Sei tun das, weil sie seit der Finanzkrise und den erlogenen Gründe für die Kriegseinsätze im Irak und Afghanistan auch den Medien nicht mehr so rückhaltlos glauben. Wir haben uns zu oft als Hauspostillen der Politiker erwischen lassen. Solche Treffen wie die unseren kommen sehr schnell in den Geruch von Verschwörung. Und wenn die Öffentlichkeit den Eindruck bekommt, dass wir hier Absprachen treffen über das, was veröffentlicht wird, dann ist die Scheune am Brennen.“
„Von Absprachen kann doch wohl keine Rede sein, Senftl, nun übertreiben Sie mal nicht. Wir sind doch hier nicht in China oder Russland, wo einige wenige darüber bestimmen, was gebracht wird und was nicht“, regte sich Pohl auf. „Bei uns herrscht doch Meinungsvielfalt. Es ist doch immer unsere Entscheidung, worüber wir berichten.“
„Und doch hat der Senftl nicht ganz Unrecht“, kam es wieder vom Vertreter der „Woche“.
„Ich stimme Ihnen, Senftl, da in gewisser Weise zu. Aber umso wichtiger ist es, sich nicht wegzuducken. Wir müssen das Thema offensiv angehen. Nicht umsonst haben wir von der KLAR-Zeitung über all die Jahre immer wieder gesellschaftliche Gruppen isoliert. Und nicht nur das. Wir haben sie sogar selbst geschaffen, wenn sie noch nicht vorhanden waren. Wir haben die Bezieher von Transferleistungen denen gegenüber gestellt, die hart schuften müssen und dafür kaum mehr bekommen. Wir haben die Deutschen und die Ausländer, wir hatten die Asylanten und die Einheimischen, die islamistische Bedrohung und die deutschen liberalen Kämpfer für Menschen- und Frauenrechte. Wir haben die geschaffen, die ein Herz für Kinder haben und eins für Tiere, die Nicht-Raucher gegen die Raucher aufgebracht, Frauen gegen Männer. Wir haben damit eine ständige gesellschaftliche Diskussion ins Leben gerufen zwischen all diesen Gruppen. Und!“, Läufer machte eine Pause, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu testen und gleichzeitig zu erhöhen.
„Wir haben damit Schuldige angeboten. Wir haben sie damit von den Leuten im Lande entfremdet, die sich als deutsche Leitkultur und deutsches Kernvolk betrachteten. Das war zwar mitunter plump und an der Grenze zur Hetzerei. Das wissen wir auch. Wir sind ja nicht blöde. Aber wir haben gemerkt, dass es ankommt bei der Leserschaft. Sonst hätten unsere Zeitungen nicht die Auflagen, die sie haben. Wir haben damit ein Klima des fortwährenden Misstrauens und Neids der einzelnen Gruppen untereinander geschaffen.“
„Genau, Läufer“, mischte sich Bolda ein. „Dieses Misstrauen hat einen ganz, ganz großen Nutzen für uns alle hier gehabt. Es ist uns damit gelungen, die Solidarisierung dieser Gruppen gegen uns, die Reichen und Mächtigen, zu verhindern. Dadurch dass sich alle diese Gruppen untereinander streiten und Vorwürfe machen, achten sie nicht auf das, was wir machen. Bestes Beispiel: Die Radfahrer werfen den Autofahrern vor, dass sie die Luft verpesten und die Autofahrer unterstellen den Radfahrern, dass sie auch noch mehr CO2 ausstoßen durch ihre Körperanstrengung. Aber niemand klagt mehr die Industrie der Umweltverschmutzung an, die ein Millionenfaches eines Rad- oder Autofahrers ausstößt. Und so haben es nicht nur die Zeitungen vom Läufer-Verlag gemacht. Auch meine Verlags-Gruppe hat dieses Denken unterstützt. Das haben die meisten privaten Sender gemacht, auch Ihre, Bulthaupt. Und ebenso die meisten Zeitungen. Selbst bei den Öffentlich-Rechtlichen hat sich teilweise diese Art der Berichterstattung und Manipulation der Öffentlichkeit durchgesetzt. Denn es schafft weniger Probleme, wenn die gesellschaftlichen Gruppen sich untereinander die Haare raufen, als wenn sie vereint uns an den Kragen gehen.“
„So sieht es aus“, sekundierte Läufer, „und einen Teil unserer Anstrengungen macht der Vogell nun zunichte, wenn er behauptet, dass der Islam ein Teil von Deutschland ist. Wie sollen wir da weiter von der islamistischen Bedrohung berichten, wenn doch die Moslems nun keine Islamisten sind und dazu gehören wie Du und ich. Wie sollen wir dem Leitkulturdeutschen die Beispiele für die islamistische Bedrohung neben die Kaffeetasse legen, wenn der Vogell die Islamisten heilig spricht? Der macht uns doch alles kaputt, was wir mühsam aufgebaut haben. Merkt der denn nicht, wie der Hase läuft? Erkennt der nicht, den Vorteil für diese Gesellschaft, wenn wir die Solidarisierung der gesellschaftlichen Gruppen verhindern? Dabei ist es uns doch auch immer wieder gelungen, diese Feindseligkeiten unter der Schwelle von handfesten Auseinandersetzungen halten zu können. Von diesem Vogell, der doch sein Leben lang nichts anderes als Politik gemacht hatte, musste doch anzunehmen sein, dass er weiß, was er zu sagen hat. Der war doch ein alter Hase im Politikgeschäft. Wie kann der denn so etwas machen? Da haben wir uns wohl offensichtlich sehr in ihm geirrt. Wir jedenfalls von der KLAR-Zeitung haben uns seine Amtsführung etwas anders vorgestellt.“
„Ich weiß nicht, wie die Mehrheitsverhältnisse zu dieser Frage hier sind“, ergriff Bolda das Wort. „Aber ich denke, wir sollten seine Politik und seine Reden in einem anderen Licht darstellen. Und auch in unseren Kommentaren sollten wir dem Herrn verständlich machen, dass wir anderes von ihm erwarten.“
Viele nickten zustimmend, andere schwiegen nachdenklich. Was Läufer und Bolda nicht gesagt hatten, Vogell soll zurück in die Spur kommen oder seinen Hut nehmen. Aber den meisten war das wohl klar, auch wenn so ausdrücklich nicht gesagt worden war. Lehmann, für seinen Teil, hatte verstanden, was Läufer wollte. Die anderen Teilnehmer der Diskussion mussten sich nun entscheiden, wie sie sich verhalten würden, wenn die KLAR-Zeitung gegebenenfalls auf den Sturz Vogells hinarbeitete. Sicherlich war dies noch nicht das letzte Gespräch, das in der Sache Vogell geführt worden war. Eine klare gemeinsame Vorgehensweise war auch noch nicht abgesprochen. Sollte es aber dazu kommen, dann wussten alle, dass die Minderheit der Mehrheit nicht in den Rücken fallen durfte. Denn das hätte das Ende für diesen Verband als Vertreterin des gemeinsamen Interesses aller Medienunternehmer.
Lehmann wusste, was von ihm erwartet wurde. Er würde zügig die Vorbereitungen für dieses Projekt treffen. Er würde etwas Zeit vergehen lassen müssen, um zu sehen, in welche Richtung sich die Sache entwickelte und die Diskussion im Lande beobachten. Es musste auch der nötige Druck aufgebaut werden, um den Vogell zur Umkehr zu bewegen. Denn diese Möglichkeit bestand weiterhin, und sie wäre mit Sicherheit allen hier Versammelten die liebste gewesen. Würde Vogell merken, wie die Stimmung im Lande war? Bei dieser Frage meinte Lehmann nicht die Stimmung in der Öffentlichkeit, sondern die Stimmung derer, die die Stimmung und Meinung der Öffentlichkeit formten.
Aber wenn klar war, dass Vogell an seiner Politik festhielt, dann sollte alles vorbereitet sein. Das bedeutete, dass die Geschütze gegen Vogell in Stellung gebracht werden mussten. Man durfte sie nicht zu früh abfeuern. Aber laden wollte Lehmann sie trotzdem schon. Unüberlegte Schnellschüsse durfte es nicht geben. Der erste Schuss musste sitzen, denn einen zweiten würde er vermutlich nicht haben. Lehmann arbeitete bereits innerlich an der Vorbereitung seiner Pläne. Aber sollte die Kampagne zu seinem Sturz in Gang gesetzt werden, so durfte kein offensichtlicher Zusammenhang erkennbar werden zwischen Vogells Islam-Rede und dem Wirken des Arbeitskreises oder gar der KLAR-Zeitung.