Читать книгу Der Zweck heiligt den Mord - Imre Szabo - Страница 7
Ende Oktober 2010
ОглавлениеLehmann traf seine Vorbereitungen in der Sache Vogell. Dazu gehörte unter anderem, dass er sich auch gegenüber Läufer absicherte Er wollte sich vergewissern, dass er den alten Medienzar richtig verstanden hatte. Nicht dass Lehmann erwartet hätte, dass Läufer ihn auffangen würde, wenn er, Lehmann, zu Fall käme über die Sache Vogell. Ihm war klar, dass sein hohes Gehalt nicht zuletzt auch ein Schmerzensgeld beinhaltete für den Fall, dass er schnell die Bildfläche verlassen musste. Er war zu lange in dem Geschäft, um noch naiv zu sein. Nein, er hatte sich mit Läufer wenige Tage nach dem Bonner Treffen in Verbindung gesetzt unter dem Vorwand, ihn als alten Verleger um Rat zu fragen. Lehmann wusste, dass es Läufer schmeichelte, wenn man seinen Rat suchte. Er mochte diese Senatoren- und Mentorenrolle.
Läufer andererseits wusste, dass Lehmann seinen Rat eigentlich nicht brauchte. Wäre das der Fall, dann wäre Lehmann nicht der richtige Mann, um ein Unternehmen wie die KLAR-Zeitung zu leiten. Für beide war diese Kontaktaufnahme zur Beratung nur eine Umschreibung für eine Unterredung, die einen anderen Charakter trug. Es ging darum, inoffizielle Absprachen zu treffen und sich über Vorgehensweisen zu verständigen. Aber das musste nicht jeder wissen. Zwar war Läufer immer noch Herr im Hause, auch wenn das Haus inzwischen eine Aktiengesellschaft geworden war und von einer Geschäftsleitung geführt wurde. Aber auf diesem Weg der informellen Absprachen bei inoffiziellen Treffen konnte Läufer sich auf einfache Art und Weise unnötigen Ärger ersparen. Er hatte auch zu Zeiten, als er noch der Alleinherrscher im eigenen Hause war, nicht anders gehandelt. Was andere nicht wissen sollten, behielt man am besten für sich oder im möglichst kleinen Kreis. Das war seine Devise gewesen. Und mit der hatte er die vielen Jahre seines Geschäftslebens relativ unbeschadet überstanden. Läufer hatte kein Profil bei facebook.
Man hatte sich in Läufers Villa am Wannsee verabredet. Sie hatte früher einmal einer dieser Nazigrößen gehört. Man konnte über der Tür noch die Stelle erkennen, wo sich das Emblem mit dem Adler und dem Hakenkreuz befunden hatte. Es war schwer zu deuten, was Läufer davon hielt. Er selbst hatte nur wenige Restjahre des Tausendjährigen Reiches kennengelernt. Einerseits war das Zeichen dieser Zeit an seinem Hause entfernt worden, was für ihn sprach. Aber das war auch normal gewesen nach dem Krieg. Andererseits war es immer noch in seinen Umrissen zu erkennen, gerade dadurch dass man das Emblem entfernt hatte.
Damit war das Gebäude irgendwie ein Symbol für die ganze Republik. Offiziell war der Faschismus ausgemerzt mit Stumpf und Stiel, natürlich nicht zuletzt auf Aufforderung der Siegermächte und all derer, die nach dem Kriege über Nacht geläutert waren zu guten Demokraten, nachdem sie jahrelang sich in den inneren Widerstand zurückgezogen zu haben vorgaben. Andererseits konnte man die Reste und Umrisse dieser Zeit immer noch im Denken, Bewusstsein und vor allem im Verhalten vieler Leute erkennen. Der Schoß war fruchtbar noch, der dies gebar, hatte Brecht gesagt. Und hier an diesem Hause konnte man erkennen, wie viel sich doch auch in die neue Demokratie hinüber gerettet hatte, nicht ins Auge springend, aber doch auch nicht zu übersehen.
Lehmann hatte nicht lange warten müssen. Er war ja angekündigt. Läufers Dackel kläfften aufgeregt hinter dem Portal und kratzten daran, als wollten sie ein Karnickel aus dem Bau treiben. Läufers herrische Stimme stauchte die beiden Köter zusammen, dass sie schlagartig still waren und sich nicht mehr zu mucksen trauten. Das hatte er in seinem Zeitungs-Imperium gelernt. Wenn Läufer sauer war und ihm etwas gegen den Strich gegangen war, dann war sein näheres Umfeld in Deckung gegangen. Unter seiner Stimme hatten die Wände gewackelt und zu widersprechen hatte sich dann erst einmal niemand getraut. Wenn er sich dann beruhigt hatte, was immer sehr schnell geschah, war er auch sehr bald wieder den Standpunkten seiner engsten Mitarbeiter zugänglich gewesen. Aufgrund ihrer Stellung hatten diese keinen Grund gehabt, sich vor ihm zu ducken. Das waren keine Leisetreter. Aber sie wussten, dass es in solchen Momenten keinen Sinn hatte, Läufer Paroli bieten zu wollen. Das führte zu nichts.
Läufer öffnete selbst, donnerte die Hunde an, sich still zu verhalten, reichte Lehmann die Hand, begrüßte ihn polternd, aber herzlich. Die Hunde schlichen sich davon mit eingezogenen Schwänzen und unterwürfigen Blicken zu Läufer und rachsüchtigen, knurrenden Blicken zu Lehmann. Er sah ihnen an, dass sie nur auf eine Gelegenheit warteten, ihm in einem unbeobachteten Moment in die Wade zu beißen.
Läufer half Lehmann aus der Garderobe und wies ihm den Weg zu seinem Arbeitszimmer, was aber überflüssig war, da Lehmann ja nicht zum ersten Male hier zu Besuch war. Läufer ging voran. „Haben Sie Hunde, Lehmann? Nein? Seien Sie froh. Die beiden Tölen gehören meiner Frau. Ich selbst mag keine Hunde oder, sagen wir mal so, sie sind mir egal, solange sie mir nicht auf die Nerven gehen mit ihrem Kläffen. Aber manchmal gehe ich ganz gerne mit ihnen am Wannsee spazieren. Das betrachte ich als die angenehmen Seiten des Hundebesitzes. Ich vertrete mir dann die Beine an der frischen Luft, die Hunde laufen herum, aber ich kümmere mich nicht weiter um sie. Und dabei gehe ich meinen Gedanken nach. Das ist entspannend. Wer weiß, ob ich das machen würde, wenn es die beiden Kläffer nicht gäbe? Das mache ich aber nur, wenn das Wetter gut ist und ich Lust auf einen Spaziergang habe oder über etwas nachdenken muss. Ansonsten überlasse ich das meiner Frau. Die hat die Viecher ja schließlich auch angeschleppt. Aber wenn das Wetter schlecht ist, hat auch meine Frau keine Lust. Dann muss das Personal das machen. Die haben zwar auch keine Lust, aber dafür werden sie ja bezahlt. Wozu hat man denn Personal?“
Sie waren unter diesen Sätzen Läufers in dessen Bibliothek eingetreten, die auch als sein Arbeitszimmer diente. Alles war herrschaftlich. Dunkles Holz, schweres Lederzeug, aber auch freundliche Bilder an den Wänden, viele Pflanzen und Blumen und eine reichhaltige Bibliothek, die eine ganze Wand einnahm. Ihre Regale reichten bis unter die Decke. Die Bücher der oberen Reihen konnte man nur auf einer kleinen Etagere stehend erreichen. Es war gemütlich in dem Raum, ein behagliches Biotop für angenehme Gespräche. Durch die riesigen Fenster, die bis zum Boden reichten, hatte man einen herrlichen Blick über das zum Wannsee hin abfallende Grundstück und über den See selbst. Läufer bot Lehmann einen Platz und etwas zu trinken an. Das Hundethema war noch nicht zu Ende. Lehmann hatte es für ein Entrée gehalten, womit man die Zeit und die Sprachlosigkeit überbrückt. Aber Läufer schien es doch mehr zu bedeuten.
„Aber noch weniger als die Hunde mag ich ja diese Hundebesitzer. Die sind ja fürchterlich. Die spielen sich immer auf wie Gottvater und Mutter Teresa zusammen. Da kommt dann so ein Kalb von einer Dogge auf dich zu mit ihren ungelenken Bewegungen, dass du alleine schon davor Angst hast, dass dieser Riesentolpatsch nicht richtig abschätzen kann, wann er bremsen muss. Aber statt seinen Köter bei Fuß und an die Leine zu holen, ruft dir so ein überstolzer Hundepsychologe mit einem milden Gottvaterlächeln zu, dass der nur spielen will. Das ist mir doch scheißegal. Bin ich das Spielzeug von deinem Köter, hab ich dem zugerufen. Dann tun die Heinis so, als hätten sie dieses Riesenviech allein durch die Macht ihrer Worte im Griff und fühlen sich unheimlich wichtig. Aber sie schaffen es nicht, das Ungetüm bei Fuß zu bekommen. Der Rieseneumel macht, was er will. Der vermeintliche Beherrscher der wilden Bestie aber rennt wie ein Depp hinter seinem Viech daher und schreit immer, dass er sofort bei Fuß zu Herrchen kommen soll. Dabei kommt Herrchen bei Fuß zu Hasso, und die gewieften Hundepsychologen merken das noch nicht einmal. Meine Güte, die Welt ist ein Tollhaus. Noch schlimmer sind ja die Frauen, die ihre Köter mit Mäntelchen aufm Arm tragen. Und wie die reden über die kleinen Scheißer! Du meinst, die reden über ihre Kinder oder Enkel. Ich hab mal eine gefragt, ob das eine spontane Geburt war oder ob sie den Hund per Kaiserschnitt entbunden hat. Die hat gar nicht verstanden, worum es geht. Aber wissen Sie, Lehmann, Sie kennen mich ja schon einige Zeit und Sie wissen auch, dass ich nicht gerade einer von den Sanftmütigen bin, von denen unser Herr sagt, dass sie ins Himmelreich kommen. Auch wenn viele mich für einen harten Knochen halten, so bin ich unter dieser rauen Schale im Grunde doch ein Menschenfreund. Sie und ich wissen, dass wir mit unseren Blättern immer den Zustrom von Asylanten versucht haben einzudämmen. Das hatte nichts mit den Menschen da unten in Afrika zu tun. Ich habe nichts gegen die. Ich kann diese Leute sehr gut verstehen. Wenn die dort unten in ihrem Afrika gelegentlich mal unser Werbefernsehen sehen – und die sehen das, weil wir ja selbst unsere Produktionen zum Teil dahin verkaufen - und dann mitbekommen, dass hier unsere Katzen und Köter mit Sachen gefüttert werden, wonach die sich da unten die Finger ablecken, da kann man denen doch nicht verübeln, dass die hierher kommen wollen. Denen verrecken die Kinder da unten am Kohldampf und hier verrecken die Köter an der Fettsucht. Das ist doch nicht mehr normal. Ich denke, wenn ich Neger wäre, würde ich auch mich auf die Socken nach Europa machen. Aber, es ist das eine, das zu verstehen, und das andere, die eigenen Interessen dabei zu sehen und zu verfolgen. War doch eine geschickte Überleitung zum Grund unseres Zusammentreffens, oder etwa nicht, Lehmann?“
„Doch, doch, keine Frage, Herr Läufer, meine Anerkennung für diese Überleitung. Das war ganz große Schule.“ Beide lachten und prosteten sich zu. Trotz eines gewissen hierarchischen Gefälles, das aber auf ihrer Ebene kaum noch eine Rolle spielte, verstand man sich gut, ja war fast freundschaftlich verbunden. „Mein Anliegen, Herr Läufer, ist die Sache Vogell. Wir haben seit seiner Rede zum Jahrestag der Wiedervereinigung immer wieder unseren Standpunkt in unseren Publikationen geäußert wie die anderen Zeitungen auch. Anders als für Vogell ist für uns der Islam kein Teil von Deutschland. Hier teilen wir nicht seine Meinung auch wenn wir ihn ja sonst doch immer sehr geschätzt haben.“
Dass Lehmann die Vergangenheitsform gewählt hatte, war kein Zufall. Läufer sollte sehen, dass er, Lehmann, der Meinung ist, dass diese publizistische Unterstützung für Vogell beendet werden sollte. Vogell war nicht mehr förderungswürdig, im Gegenteil, er hatte die Gunst verspielt, die ihm vonseiten ihrer Zeitung vorgeschossen worden war. Er vertrat die falschen Standpunkte. Für diese Standpunkte hatte man ihn nicht groß gemacht. Vogell war nicht mehr nützlich für ihre Interessen. Das dachte Lehmann, und so dachte auch Läufer.
Und beiden war auch klar, dass sie mit ihren Zeitungen, Sendern und sonstige Medien die Macht hatten, Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung. Nur musste Einvernehmen darüber hergestellt werden, was unternommen werden sollte. Es galt nun hier, trotz der Exklusivität dieses Treffens, das Ganze so zu formulieren, dass beide wussten, was gemeint war, ohne dass es ausgesprochen wurde. Man war vorsichtig trotz der freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen ihnen herrschte. Auch zu Vogell hatten einmal solche freundschaftlichen Beziehungen bestanden. Sie alle bewegten sich auf einem gesellschaftlichen Niveau, auf dem Freundschaften wohl wichtig waren, wo aber auch alle wussten, dass sie den Interessen unterzuordnen waren. Interessen, besonders die gesellschaftspolitischen, wogen schwerer als persönliche Beziehungen. Persönliche Beziehungen waren in der Regel nur ein Mittel zur Durchsetzung der politischen oder wirtschaftlichen Interessen. Sie waren selten eine Herzenssache.
Wenn man sich hier auch unter vier Augen befand, war ihnen beiden dennoch klar, dass nicht ausgesprochen werden durfte, worum es bei diesem Gespräch in Wirklichkeit ging. Es ging um nichts Geringeres als eine Verschwörung zum Sturz des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, des höchsten Repräsentanten dieses Staates. Diesen Staat hatten sie eigentlich immer als ihren Staat betrachtet. Ihm fühlten sie sich aus Überzeugung verbunden. Immer hatten sie sich größte Mühe gaben, jeden Schaden von diesem Staat fern zu halten. Was sei jetzt vorbereiteten, taten sie nicht ohne Not. Aber gerade weil sie so Unvorstellbares vorbereiteten, durfte es nicht offen ausgesprochen werden, damit später alles als Missverständnis dargestellt werden könnte, wenn der Plan schief gehen sollte.
Für diesen Fall wussten beide nur allzu gut und besonders er, Lehmann, dass nichts Konkretes gesagt worden war. Läufer hatte dann im Falle des Misserfolges niemals eine Anweisung gegeben, auf die sich Lehmann hätte berufen können. Das wusste Lehmann, und das wusste auch Läufer. Und weil es niemals eine konkrete Aussage oder Anweisung Läufers gegeben hatte, würde Lehmann auch niemals in die Versuchung kommen, Läufer auf diese Anweisung festnageln zu wollen. Läufer würde natürlich jede Beteiligung an dem Komplott abstreiten. Lehmann würde stürzen, aber den Läufer nicht mit in den Abgrund reißen können. Sollte Lehmann jedoch sich dessen nicht bewusst gewesen sein, so würde es nichts ändern, weil er nichts in der Hand haben würde gegen den Läufer. Aber noch war fraglich, ob es überhaupt dazu kommen musste, dass man dem Vogell am Zeug flickte. Noch hatte er Bewährung.
„Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört“, fuhr Lehmann fort, „wird überall sehr kontrovers diskutiert und beherrscht seit einiger Zeit die Medien und die öffentlichen Diskussionen, wie Sie sicherlich ja wissen. Ich befürchte, dass diese Diskussionen aus dem Ruder zu laufen beginnen. Das Thema hat das Potential, zu erheblichen politischen Spannungen in unserem Lande zu führen, nicht nur zwischen den Konfessionen und Religionen. Es besteht auch die Gefahr von gesellschaftlichen Verwerfungen über die Grenzen der Religion hinaus. Es gibt immer mehr Menschen und nicht nur bei den Migranten, die die deutsche Leitkultur als Maßstab für unser Land in Zweifel ziehen. Man fragt sich, was überhaupt deutsche Leitkultur sein soll. Und je weniger sie klar definiert werden kann, umso weniger kann als Leitlinie oder gar zur Ausgrenzung dienen. Wenn keiner weiß, worin sie besteht, bietet sie immer weniger die Orientierung, die sich die Designer dieses Begriffes erhofft hatten. Sie verkommt immer mehr von der Leitkultur zur Scheinkultur. Das aber richtet mehr politischen Schaden an, als wenn der Begriff nie geschaffen worden wäre. Denn er erweist sich zunehmend als Phrase. Hatten sich bisher die meisten Menschen darum keine Gedanken gemacht, so fragen sie sich durch diese vom Zaun gebrochene Diskussion, was denn eigentlich unsere Demokratie wirklich ausmacht. Ist denn unsere Kultur und unser gesellschaftliches System wirklich den anderen so überlegen, wie man ihnen weismachen will? Und dann beginnen sie sich zu fragen, ob es denn überhaupt etwas so Besonderes ist, Deutscher zu sein. Der sehr verehrte Bundespräsident hat seinem Land und seinem Amt einen Bärendienst erwiesen mit seiner Rede, obwohl er es sicherlich gut gemeint hatte. Das steht außer Frage. Sicherlich wollte er die Integration fördern. Das befürworten ja auch wir seit Jahren. Deshalb sollten wir ihn in seinen guten Absichten unterstützen.“
Lehmann hatte nach seinem langen Vortrag nun erst einmal eine Pause gemacht. Er nippte an seinem Glas. Er tat es in erster Linie, um Läufer die Gelegenheit einer Reaktion auf seine Ansichten zu geben. „Eine interessante Einschätzung der Lage, die Sie da ausbreiten, Lehmann. Interessant! Bemerkenswert! Wie sollte denn nach Ihrer Meinung diese Unterstützung unseres geschätzten Bundespräsidenten aussehen?“ Läufer lehnte sich interessiert zurück und überließ wieder Lehmann das Feld.
„Mein Vorschlag ist, dass wir eine ausführliche Dokumentation über den Bundespräsidenten herausbringen, damit die Leute ihn besser verstehen und sich ein Bild davon machen können, was er mit seiner Aussage ursprünglich bezweckt haben dürfte. Sie sollte umfassend sein und alle Facetten seines Lebens, seines politischen Werdeganges und vor allem seines Wirkens durchleuchten. Aber sie sollte auch kritisch sein. Wir leben ja nicht in Russland oder China, wo die Presse nur einseitig berichten darf. Nein, wir werden umfassend und auch kritisch das Werk des Bundespräsidenten würdigen und zu seinen Ansichten über die Integration Stellung beziehen, kritisch, in jedem Sinne kritisch. Dazu wollte ich Ihre Meinung hören, Herr Läufer. Denn nicht zuletzt Ihre Äußerungen im Arbeitskreis Meinungsfreiheit haben diesen Entschluss in mir reifen lassen. Vielleicht können Sie selbst ja auch einige Anregungen oder einen Beitrag dazu leisten?“
Läufer hatte aufmerksam zugehört und die wohlklingenden Worte Lehmanns innerlich übersetzt in Klartext. Was Lehmann ihm hatte in scheinbar nichtssagenden Worten mitteilen wollen war Folgendes: Der Vogell hat mit seiner Islam-Äußerung eine gesellschaftliche Diskussion losgetreten, die aus dem Ruder zu laufen beginnt. Jetzt fangen auch die Deutschen an, die bisher unsere zweifelresistente Kerntruppe waren, auf diese Leitkulturdiskussion einzusteigen. Sie werden auf einmal mit Fragen konfrontiert, über die sie sich bisher keine Gedanken gemacht hatten. Und je tiefer sie in diese Diskussionen hineingezogen werden, umso deutlicher erkennen sie, was das für ein Blödsinn ist mit dieser Leitkultur. Alles daran ist fragwürdig und zweifelhaft. Aber gerade diese Zweifel an dem, was bisher als selbstverständlich galt, zersetzt den Boden, auf dem der bisherige gesellschaftliche Konsens geruht hat. Ihnen beiden war klar, dass sie die Diskussion nicht abwürgen können. Denn bringen sie nichts mehr darüber in den eigenen Zeitungen, besteht die Gefahr, dass die anderen Medien weiter machen und ihnen die Leser wegschnappen mit den dazugehörigen Umsätzen und Werbeeinnahmen. Das geht natürlich nicht. Die einzige Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu machen, ist, den Vogell in der Öffentlichkeit bloß zu stellen und damit seine Autorität in solchen Fragen zu untergraben. Die von Lehmann geforderte ausführliche und kritische Dokumentation bedeutet nichts anderes, als Material gegen Vogell zu sammeln, womit man dessen Leumund beschädigen kann. Also Sexgeschichten oder sonstige Sachen, worüber sich der deutsche Wutbürger aufregt.
Läufer lehnte sich tief zurück in seinem mächtigen Ledersessel, streckte die Beine lang aus und schaute an sich hinab, ein Bild starker Anspannung. Auch er schien nun erst einmal seinen Klartext innerlich übersetzen zu wollen in unverfängliche Worte, aus denen aber hervorscheinen sollte, was von seiner Seite gewünscht war.
„Zu allererst, Lehmann, werde ich Ihnen natürlich keine Anregungen geben. Wir sind doch nicht in Russland oder China, wo ein Chefredakteur Anweisungen von oben erhält. Bei uns herrscht Meinungsfreiheit, ein freies Land mit freier Presse, Gott sei Dank. Hier kann jeder denken, sagen und schreiben, was er will. Das ist ganz alleine Ihre Entscheidung als Chefredakteur. Aber ich finde diese Idee sehr, sehr gut. So gut, dass sie hätte von mir sein können.“
Was Läufer sagen wollte, war: Jawoll, machen Sie die Kampagne gegen den Vogell! Sägen Sie ihn ab, wenn es nötig erscheint! Aber ich werde nicht hinter Ihnen stehen, wenn es schief geht. Das ist ganz allein Ihre Sache. Sie halten den Kopf dafür hin. Ich wasche meine Hände in Unschuld und werde sie nicht schützend über Sie halten können. Sie haben dann meine Worte vollkommen falsch interpretiert.
„Sie sind ein fähiger Mann, Lehmann. Nicht umsonst habe ich Ihnen die Leitung meines Flaggschiffes übergeben. Ich denke, dass Sie das Richtige machen werden auch ohne meine Mithilfe. Sie werden Ihren Weg gehen. Ich sehe eine große Zukunft für Sie, wenn Sie sich auch weiterhin so engagiert unserem Hause widmen.“
Das war die verschlüsselte Nachricht für den Fall, dass es mit der Kampagne gegen den Vogell schief gehen sollte: Heizen Sie dem Vogell ein! Mein OK haben Sie. Und wenn es schief geht, werden wir schon etwas für Sie finden. Machen Sie sich also keine Gedanken um Ihre Zukunft, dafür ist gesorgt. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie sich loyal verhalten und nicht versuchen, mich mit in den Abgrund zu ziehen, wenn Sie stürzen.
Lehmann hatte verstanden. Er wusste nun, dass er freie Hand hatte, solange alles gut ging. Er wusste, dass er alleine dafür würde gerade stehen müssen. Aber er würde die Treppe hinauffallen, wenn er fallen sollte, vorausgesetzt, dass er sich loyal verhielt. Das war es, was Lehmann hatte erfahren wollen. Mehr konnte er nicht erwarten. Was also wollte er mehr? Der Weg war frei; er konnte zum Sturm blasen auf die Festung namens Vogell.
Nach einigem Smalltalk, der das Gespräch langsam und nicht zu abrupt beenden sollte, erhob sich Lehmann, reichte Läufer die Hand zum Abschied und wandte sich zum Gehen. Aber einen Seitenhieb musste er dem Läufer doch noch verpassen, damit auch der sehen sollte, dass er, Lehmann, auch eine gewisse Loyalität von ihm, Läufer, erwartete. „Ihre Ansichten zu den Hundebesitzern fand ich sehr interessant und treffend. Ich überlege, ob wir nicht mal etwas zu dem Thema machen sollten? Was meinen Sie dazu?“
Läufer schluckte und sah im ersten Moment etwas verdattert drein. Lehmann genoss diesen Ausdruck in Läufers Gesicht, der schwankte zwischen Erschrockensein und dem Zweifel, ob der Lehmann das nun ernsthaft vorhabe oder nicht. Denn eine solche Kampagne gegen die Hunde- und Tierneurotiker würde gerade die Kernleserschaft ihrer KLAR-Zeitung mitten ins Mark und in ihr vor Tierliebe triefendes Herz treffen. Aber Läufer hielt sich zurück. Er ahnte, dass der Lehmann ihm nur einen Schuss vor den Bug hatte versetzen wollen. Er gewann seine professionelle Souveränität wieder zurück, wohl auch wissend, dass auch der Lehmann keine Interesse daran haben konnte, ihre Kerngruppe zu verprellen. Läufer hatte sich wieder gefangen und lächelte etwas gezwungen: „Sie sind der Chefredakteur. Ich rede Ihnen da nicht rein. Ich bin nur ein kleiner Aktionär. Sie werden schon wissen, was Sie zu tun haben. Schließlich haben wir hier ja keine russischen oder chinesischen Verhältnisse.“ Dann verabschiedete man sich.
Lehmann trat hinaus in die Auffahrt. Der Kies knirschte unter seinen Füßen als er zu seinem Wagen ging. Hinter der Tür wüteten die Dackel darüber, dass ihnen die Gelegenheit genommen worden war, dem Gast die Hose zu zerfetzen. Lehmann atmetet tief durch. Die Luft war angenehm hier draußen am Wannsee. Es war ruhig hier. Frische, herzhafte Kühle kam vom See, eine belebende Frische. „Na, denn“, dachte Lehmann bei sich, „gehen wir die Sache beherzt an. Ich glaube, Vogell, du kannst langsam ans Packen denken in Bellevue. Aber von den Wolken, die sich über dir zusammenziehen weißt du noch nichts, mein lieber Bundespräsident. Obwohl die Öffentlichkeit unser Geschäft ist, bekommt man von dem nichts mit, was wir an Veröffentlichung vorbereiten. Da sind wir sehr diskret, mein Lieber. Das schlägt ein wie der Blitz aus heiterem Himmel, unerwartet und vernichtend.“
Schon auf dem Weg zu seinem Wagen beschäftigte sich Lehmann mit der Auswahl des richtigen Mannes oder der richtigen Frau für diese Aufgabe. In solchen Fragen spielte das Geschlecht keine Rolle, da war man ganz liberal und der Emanzipation der Frau zugeneigt. Wenn es um den eigenen Vorteil ging, die Umsetzung eigener Interessen, da kannte man keine Tabus. Da stand Gleichberechtigung ganz oben auf der Werteliste. In Fragen der Bezahlung sah man das anders. Da fand man auch immer wieder gute Gründe, weshalb Frauen weniger Lohn zustehen sollte als Männern.
Seine Wahl war auf Bentlin gefallen. Ihn hatte er sich schon vor dem Gespräch mit dem alten Läufer als den richtigen Mann ausgedacht. Das Gespräch nun hatte ihn in seiner Wahl bestätigt. Bentlin sollte maßgeblich verantwortlich sein für die Kampagne. Er sollte das Material beschaffen, sichten und in Absprache mit ihm, Lehmann, die Kampagne durchführen. Denn dieser Bentlin hatte einen großen Vorzug gegenüber allen anderen Mitarbeitern, die für die Aufgabe in Frage gekommen wären. Er war mit einer Türkin verheiratet. Wenn Lehmann den Mann einer Türkin beauftragte, Material zusammenzutragen für eine Kampagne gegen den Vogell wegen dessen Islam-Äußerung, dann konnte man ihm und der KLAR-Zeitung schwerlich ausländerfeindliche und anti-islamische Hetze vorwerfen.
Das würde sich gut machen in der Öffentlichkeit, wenn die türkische Frau eines deutschen Redakteurs sich für die Arbeit ihres Mannes einsetzte. Und er, Lehmann, würde im Ernstfall den Bentlin schon damit konfrontieren, dass er als Mitarbeiter der KLAR-Zeitung auch loyal zu seinem Arbeitgeber zu stehen hatte. Denn schließlich lebten Bentlin und seine türkische Frau nicht schlecht von dem Gehalt, dass ihnen die KLAR-Zeitung jeden Monat überwies. Da wird man schon etwas Loyalität erwarten können als Brötchengeber, dachte sich Lehmann. Und er würde den Bentlin nicht aus diesem Würgegriff lassen, wenn es hart auf hart kommen sollte.
Ob die Frau Mohammedanerin war, wusste Lehmann nicht. Aber es war ihm auch egal. Wichtig war nur, dass sie Türkin war. Aber auch das war ihm eigentlich schnuppe. Richtig wichtig war in Wirklichkeit, dass sie ein Kopftuch trug, wenn sie in der Öffentlichkeit sich hinter ihren Mann und dessen Arbeitgeber stellen musste. Das würde einigen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. So waren seine Überlegungen bezüglich der Auswahl dessen, der die Drecksarbeit machen, seinen Namen dafür geben und notfalls den Kopf hinhalten sollte. Ging die Sache schief, war es Bentlin, der kippte. Ging sie gut aus, würde Lehmann mit Bentlin zusammen auf dem Siegerpodest stehen. Denn der Erfolg hat viele Väter und die Niederlage nur einen einzigen Schuldigen.
Die Autotür schlug zu, der Motor sprang ruhig an. Die Reifen knirschten im Kies. Das Tor öffnete sich. Unauffällig und diskret verschwand er im lauten Treiben der großen Stadt. Er schwamm dahin wie der Fisch im Wasser, leise und tauchte ein in sein Element, die Anonymität.