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Huren und Buben
ОглавлениеIm Herbst 1563 wurde Hans Sebastian verhaftet und im «Wellenberg» in Untersuchungshaft gesetzt.4 Aus diesem Gefängnis konnte er nicht entrinnen. Der Turm stand mitten in der Limmat und war nur mit dem Boot zu erreichen – eine Art Alcatraz im Herzen von Zürich. Die Häftlinge mochten lange an den Türen aus Eichenholz rütteln, diese gaben nicht nach. Massive Schlösser und Schliesskolben verhinderten die Flucht, und versuchte ein Insasse dennoch zu fliehen, fesselte man ihn an die Pritsche. Es ist nicht überliefert, ob Hans Sebastian im obersten der drei Stockwerke in einer einigermassen komfortablen Zelle mit Bett, Licht und Heizung einsass oder zuunterst in einem kalten, niedrigen Verliess mit einem Liegeplatz aus Stroh.
Im Sommer war er, der «Stammvater» der Zürcher Familie Kitt, des «ärgerlichen Einzugs» angeklagt worden.5 Er besass im Seefeld, das ausserhalb der Stadtmauer lag, eine Liegenschaft: die Hölzin Kilch. Entgegen des klangvollen Namens ging es in der hölzernen Kirche gar nicht heilig zu und her. Nachbarn hatten vor dem Ehegericht ausgesagt, dass dort «allerhand Huren und Buben» ein- und ausgingen. Darauf ermahnte das Gericht Hans Sebastian, sich künftig um ehrbare Mieter zu bemühen.
Offensichtlich stiess die Schlichtungsbehörde auf taube Ohren, denn im Herbst liefen die Nachbarn erneut Sturm. Sie klagten, dass Hans Sebastian nach wie vor dasselbe «Hausgesindel» zur Miete habe. Die Hausbewohner würden von einer Mitternacht zur anderen ausgelassen lärmen und prassen und ein «schändliches Dasein» führen.
Am 6. Dezember 1563 begann das Ehegericht, die klagenden Nachbarn einzeln zu befragen. Als Erstes sagte Zimmermann, der Ältere, aus:
Im Haus wohne eine «Metze».6
Küng vom Berg gehe öfters zu ihr.
Gossauer sei mit ihr mehrmals in die Gemeinde Zurzach gegangen.
Auch Kitt sei mit ihr ausgeritten, danach habe er sie in seinem Haus aufgenommen.
Küng bringe jeweils viel Wein mit.
Auch Weber, Göldi und Stünzi verkehrten dort häufig.
Wenn die Obrigkeit nicht strikter gegen das «leichtfertige Volk» und gegen Kitt vorgehe, werde er sein Haus wegen dieses «Schwaben» verkaufen müssen.7
Zimmermann junior bestätigte im Wesentlichen die Aussagen seines Vaters:
Keller habe eine Tochter, die sich auf der Gasse herumtreibe.
Küng habe sie mehrmals nach Zurzach ausgeführt.
Auch Kitt sei mit ihr ausgeritten.
Dann trat Sutter vor die Untersuchungsrichter und bat sie inständig, ernsthaft gegen den «Schwaben» vorzugehen. Wegen der vielen Gerichtstermine verliere er jeweils seinen Taglohn, klagte er.
Auch Münch jammerte über Verluste:
Sein Geschäft leide unter dem Betrieb in der Hölzin Kilch. Es sei ein unerträgliches Kommen und Gehen. Und dann die Zecherei!
Der «Schwabe» nehme absichtlich solche Mieter auf. Aus ihnen könne er mehr Zins herauspressen als aus rechtschaffenen Leuten.
Er sage nun schon zum dritten Mal vor Gericht aus. Wer bezahle ihm die verlorene Zeit? Dürfe er auf Kitts Kosten im Wirtshaus essen gehen?
Schliesslich bezeugte eine ehemalige Bewohnerin der Hölzin Kilch die Aussage von Zimmermann, dem Älteren:
Küng, Weber und Göldi kämen häufig vorbei.
Sie wisse das, weil sie Kellers Tochter, die «kleine Kellerin», dort gepflegt habe. Als ihre Brüder jedoch von den Vorgängen im Haus hörten, hätten sie ihr verboten, dortzubleiben.
Das Ehegericht kam zum Schluss, dass Hans Sebastian sein Verhalten trotz freundlicher Ermahnung nicht geändert habe. Sein «Hurenvolk» belästige weiterhin die Nachbarn. Deshalb müssten er, aber auch Küng, der zugegeben habe, wiederholt bei der Metze gewesen zu sein, sowie die Metze selbst bestraft werden – so wie sie es verdient hätten. Mit dieser Empfehlung übergab die Schlichtungsbehörde den Fall dem Rat der Stadt Zürich.
Mitte Dezember nahm Hans Sebastian Stellung zu den Vorwürfen:
Er habe nicht gewusst, welch übel beleumdete Leute in seinem Haus wohnten.
Er habe auch nicht gewusst, was dort vor sich ging.
Zudem werde es sich als falsch herausstellen, dass er mit einer Metze Unrechtes getan habe.
Auch wolle er den Mann mit eigenen Augen sehen, der behaupte, er habe die Metze auf seinem Pferd von Zurzach in sein Haus geführt. Er kenne diese Frau nicht.
Nach der ersten Ermahnung durch das Ehegericht habe er seine bisherigen Mieter aus seinem Haus vertrieben und einen ande ren Bewohner aufgenommen. Er habe jedoch nicht gewusst, dass dieser ebenso berüchtigt sei wie die vorherigen Mieter.
Er bitte ergebenst, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen.
Und er gelobe, sein Haus künftig nur noch an Leute zu vermieten, die weder den gnädigen Herren noch den Nachbarn Anlass zur Klage gäben.
Bei der erneuten Befragung verliess die Zeugen ihr Gedächtnis, und sie konnten nur noch vage antworten. Insbesondere Zimmermann, der Ältere, und Zimmermann junior bekundeten Mühe, sich an Details zu erinnern. Mag sein, dass sie weder an Amnesie litten noch es ihnen an Kooperationswille mangelte, sondern sie ihre Rollen ausgespielt hatten. Gut möglich, dass sie gegen ihren unliebsamen Nachbarn weniger aus moralischen denn aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen klagten. Vielleicht störte Hans Sebastian ihre Geschäfte, vielleicht wurde er ihnen zu mächtig.
Da befand der Rat, dass Hans Sebastian – was den Ausritt mit der Metze betraf – unschuldig sei. Gleichzeitig auferlegte er ihm eine Busse und ermahnte ihn, fortan nur noch ehrbare Mieter aufzunehmen.
Ein Jahr später starb Hans Sebastian. Seiner Frau Katharina Schüchler und ihren beiden gemeinsamen Kindern Baschi und Ursula hinterliess er ein ansehnliches Vermögen.8 Die Tochter erbte auf den Heller genau 6,093 Pfund, 7 Schilling und 4 Heller, ein astronomisch hohes Vermögen aus der Sicht eines Gesellen. Auch aus der Perspektive eines Landvogts ein nicht zu verachtender Betrag; er entsprach achtzehn Jahreseinkommen eines Territorialverwalters.9 Der Sohn bekam 1,200 Pfund sowie zwei Häuser – worunter sich die Hölzin Kilch befunden haben dürfte.
Offenbar hatte Hans Sebastians Ruf wegen des Prozesses um das «Hausgesindel» keinen Schaden genommen, und das Erbe war nicht zu verachten. Beide Kinder verbanden sich später mit Abkömmlingen aus der angesehensten Familie Zürichs.10 Ursula heiratete den Fabrikanten Heinrich Werdmüller – bald darauf der reichste Mann der Stadt. Baschi vermählte sich mit Regula Werdmüller, einer Grosscousine von Heinrich. Während Regulas Grossvater als Säckelmeister und Ratsherr zu den bedeutenden Zeitgenossen zählte, war ihr Vater lediglich ein «bescheidener» Händler.11 – Wie sein Vater und sein Schwiegervater begann Baschi, als Kaufmann zu arbeiten.