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Die Truhe
ОглавлениеDie Hüterin des Archivs hat mir den Weg wahrscheinlich so beschrieben, wie sie ihn seit Jahrzehnten im Kopf hat. Sie kann ihn bestimmt blind gehen, braucht weder die Namen der Strassen noch die Bezeichnung charakteristischer Stellen. Gehen Sie links hoch, dann rechts, dann gerade aus, dann wieder links, hat sie am Telefon erklärt. Selbstverständlich laufe ich in die falsche Richtung, und wenig überraschend finde ich niemanden, der mir den Weg weisen kann. Als ich sie von unterwegs anrufe, gibt sie mir erneut dieselben Anweisungen: links, rechts, geradeaus, dann wieder links. Aber dann schenkt sie mir noch einen weiteren Hinweis und ergänzt, kurz vor der Abzweigung nach links gebe es einen Laden voll unnötiger Dinge. Ich ahne, was in den Augen einer Frau aus der Zürcher Oberschicht entbehrlich ist: sogenannter Tand. Tatsächlich komme ich an einem Laden voller Nippes vorbei und weiss, es ist nicht mehr weit.
Von aussen sind die Ausmasse des Anwesens nicht zu erfassen. Erst wenn man drin ist, spürt man seine Dimension, entdeckt ein Nebengebäude hinter dem anderen und gewahrt die Aussicht auf die Berge und den See. Um die Beine der Hausherrin streicht eine schwarze Katze mit weissen Pfoten. Der Kater sei fast zwanzig Jahre alt, sagt sie und warnt mich, er würde ab und an plötzlich urtümliche Geräusche von sich geben. Effektiv ist es mehr ein Grollen als ein Miauen. Sie geleitet mich die Treppe hoch, die von einer geräumigen Halle aus in den oberen Stock führt, an den Wänden hängen Ahnenporträts; man vergewissert sich seiner Herkunft und seines Standes. Auf einem Spannteppich mit hohem Flor schweben wir einen langen Gang hinunter zu einem Zimmerchen, in dem drei Truhen stehen: zwei schwarze mit Beschlägen, wie sie für Überseekoffer üblich sind, und eine etwas kleinere aus braunem Holz. Auf dem runden Deckel eine Messingplakette mit der Prägung des Kitt’schen Wappens und der Inschrift «Archiv Kitt». Endlich.
Rasch sortiere ich die Dokumente aus, die mich nicht interessieren: maschinengeschriebene Vorträge aus jüngerer Zeit, gebundene Bücher und Fotos. Danach staple ich Papiere, von denen ich annehme, dass sie mir Aufschluss über die Anfänge der Familie Kitt in Zürich geben können. Und dann wähle ich mit Bedacht ein erstes Schriftstück, das älteste. Auf der Aussenseite eines mehrfach gefalteten Bogens hat jemand mit Bleistift das Jahr 1459 notiert. Mit spitzen Fingern versuche ich ihn zu öffnen, kämpfe mit der Faltung, die ihn in ein kleines Format zwängt, und ringe mit der über die Jahrhunderte eingerasteten Form. Die Entblätterung kommt mir wie ein gewaltsamer Akt vor. Schliesslich streiche ich ihn auseinander, platziere schwere Bücher auf allen vier Ecken und versuche, mich schlauzumachen, indem ich mich von einem grosszügig geschwungenen Buchstaben zum anderen hangle. Offensichtlich geht es um ein Fischereirecht in Greifensee. Ich nehme mir ein zweites Dokument vor, das auf 1512 datiert ist. Auch dieses handelt von einer Angelegenheit in Greifensee, es geht um ein Wegrecht, wie ich Wort für Wort entziffere. Der Name Kitt fehlt. Ich dechiffriere lediglich fremde Namen und entlegene Orte.
Zweifel an meinem Tun kriechen hoch. Was kümmert mich der alte Kram? Widerwillig klaube ich eine weitere Akte hervor und versuche, meinen Unmut zu ergründen. Bin ich frustriert, weil ich die alte Schrift kaum lesen kann? Weil niemand darauf wartet, etwas von der Familie Kitt, geschweige denn von ihrer globalen Verwicklung zu hören? Doch die Neugier überwiegt, und ich führe mein Vorhaben zu Ende, diesmal effizienter als zuvor. Indem ich die auseinandergezwängten Papiere kaum anschaue, sondern sie emotionslos glatt streiche und fotografiere, gelingt mir die Inspektion besser. Nur ab und an bleibt mein Blick an einem Dokument hängen. So animiert mich ein Buchstabe mit einem beeindruckenden Schweif zu lesen, dass «Caspar Kitt, Doctor der Artznei und Bürger der Stadt Zürich» 1667 sein Wohnhaus in der Trittligasse, das Haus zum Sitkust, verkauft habe.1
Ein über siebzigseitiges Büchlein von 1613 verspricht eine Fundgrube zu werden: Es beginnt mit den Worten «Im Namen Gottes Vaters Sohn und heiligen Geist Amen» und listet bis ins Jahr 1730 Mitglieder der Familie Kitt samt ihren Angetrauten, Kindern, Patenkindern, Patinnen und Paten auf. Und dann stosse ich auf ein kleines Heft, ein Büchlein so breit und so lang wie meine Hand. Braune Tinte auf gräulichem Papier. Auf dem ersten Blatt eine abstrakte Zeichnung. Ein ausladendes H, darauf ein kunstvolles K, am rechten Bein des H klebt ein bauchiges B. Wahrscheinlich ein Handelszeichen.
Der Satz oben auf der Seite ist eine Offenbarung: «Hier innen ist geschriben was sich mitt Hans Baschi Kitt und Rägulla Werdmüller, seini ee-gemahl, zuo dragen hatt in 1602.» Ich beginne zu blättern und entschlüssle einige Wörter. Laden, Täufer, Wien, Holland. Ein Fieber packt mich, schnell wende ich Blatt für Blatt. Eine Liste mit Namen und Daten. Ein Inventar eines Geschäfts. Und schliesslich das entscheidende Stichwort, das eine frühe globale Verwicklung verrät: Gewürze.