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Ostende
ОглавлениеLangsam scrolle ich durch die Fotos, verschiebe auf dem Bildschirm die Fundstücke aus dem Familienarchiv. Da und dort bleibe ich an einem Wort hängen, hangele mich von Buchstaben zu Buchstaben. Einmal mehr versuche ich, im Handbuch zu entziffern, «was sich mit Hans Baschi Kitt zuo tragen hatt in 1602».31
Hoch verschuldet war Baschi nach Mähren geflohen, wo er Zuflucht bei einer der unzähligen Täufer-Gemeinschaften gefunden hatte, reime ich mir zusammen. Nach ein paar Wochen zog er nach Wien, wo ihn sein zweitältester Sohn Sebastian bei einer Frau aus St. Gallen fand. Gemeinsam kehrten Vater und Sohn nach Zürich zurück. Da Baschi nicht in der Stadt bleiben durfte, machte er sich erneut auf. Diesmal setzte er sich mit seinem ältesten Sohn Hans Jacob in die Niederlande ab. So weit kann ich dem Verfasser des Berichts und seiner Beschreibung von Baschis Fluchtroute folgen. Dann macht er eine Bemerkung zum Geld, das die beiden aus der Haushaltskasse mitlaufen liessen, und nimmt den Faden wieder auf: Vater und Sohn gingen im September 1602 nach Ostindien. Ostindien? Ich zoome das Wort heran. Tatsächlich. So steht es schwarz auf weiss. Ich bin elektrisiert. Baschi und Hans Jacob hielten sich also in einer der europäischen Kolonien auf. Da sie zuerst in die Niederlande fuhren, standen sie wahrscheinlich im Sold der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC).
Endlich ein weiterer Hinweis, dass die Kitts selbstverständlich in die globale Geschichte eingebunden waren: Baschi bezog von den Niederländern nicht nur Gewürze, er stellte sich auch in ihren kolonialen Dienst. Fiebrig suche ich nach mehr Hinweisen und erfahre beim Überfliegen des Berichts, Baschi habe sein Geld verloren und eineinhalb Jahre unter Graf Moritz gedient, bis er 1604 auf einem Schiff gestorben sei. Ich lese nochmals die Geschichte von den Schulden und dem geschlossenen Laden und stosse schliesslich auf eine Liste mit Namen und Daten. Darin zählt der Berichterstatter die Kinder auf, die Baschi mit seiner Frau Regula gezeugt hatte. Als Ersten erwähnt er Baschis ältesten Sohn: «Hans Jacob starb 1603 in Ostindien erschossen, ward 21 Jahr alt.»32 Nun sind alle Zweifel ausgeräumt: Hans Jacob diente als Söldner, obwohl Zwingli das verboten hatte. Und er war im Einsatz in einer niederländischen Kolonie. Kurz nach der Gründung der VOC muss er einer der ersten Schweizer gewesen sein, die für die Niederländer und ihren Gewürzhandel starben.
Atemlos beginne ich, andere Dokumente zu durchforsten. Als Erstes nehme ich mir das «Memoriebüchlein» vor, die von verschiedenen Familienmitgliedern geführte Chronik der Kitts. Sebastian erzählt darin nochmals, aber in anderen Worten als im Handbuch, wie man den Laden dichtgemacht hat, berichtet von der Flucht des Vaters nach Mähren und von der Heimkehr aus Wien. Dann fährt er fort, im September 1602 sei der Vater «mit dem eltisten son nach dem Underland in Ostende zogen».33 Ostende? Ich vergrössere die Schrift. Kein Zweifel. Hier steht, dass die beiden ins Unterland, die Niederlande, gereist seien, genauer nach Ostende, in die flämische Stadt am Meer. Sollte meine Hoffnung auf eine koloniale Verwicklung mit einer anderen Endung, mit dem Wortteil -ende so schnöde zerstört werden? Es bleibt noch eine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Als ich die Familiengeschichte konsultiere, die David Kitt im 18. Jahrhundert geschrieben hat, dämmert mir, dass ich Abschied nehmen muss von der Vorstellung, die beiden Kitts seien in Ostindien gewesen. Ich lese, Baschi habe im April 1604 einen Brief aus Gorcum geschrieben und im September desselben Jahres aus Sluis.34 Beide Städte liegen im Süden der Niederlande.
Ich schlucke die Enttäuschung herunter und recherchiere zum Grafen Moritz, in dessen Dienst sich Baschi offenbar befand. Es muss sich um Moritz von Oranien handeln, der bei der Belagerung von Ostende eine wichtige Rolle spielte. Um die Jahrhundertwende lag das von den calvinistischen Niederländern dominierte Ostende als Exklave im von den katholischen Spaniern beherrschten Flandern. 1601 wollten die Spanier und ihre Verbündeten die Stadt zurückerobern und begannen, sie zu belagern. Während der dreijährigen Kämpfe kamen unzählige Soldaten ums Leben, auch Hans Jacob starb auf dem Schlachtfeld. Man habe ihm sein linkes Bein und seine linke Hand weggeschossen, entziffere ich, und zwei Stunden später war er «ein lich».35 Als sich die Versorgungslage in Ostende zuspitzte, ging Moritz von Oranien – und mit ihm Baschi – nach Sluis, um die Spanier zu einer Feldschlacht zu bewegen und zur Beendigung der Belagerung. Der Schachzug misslang, und Baschi fand den Tod. Er sei auf einem Schiff «elendiglich gestorben», heisst es.36