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VIER

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Meteo hatte angekündigt, es habe auch am heutigen ersten Advent im Mittelland keine Chance auf Sonnenschein. Leider hatten sie recht behalten. Es war wie die vorangegangenen Tage neblig und grau. Die Nebeluntergrenze musste tief sein, da es dunstig war. Radio Argovia hatte am Morgen verlauten lassen, die Obergrenze dieser Suppe liege bei eintausend Metern, wenn nicht sogar höher. Andrina schätzte Schönenwerd auf ungefähr vierhundert Meter über dem Meeresspiegel. Das hiess, über ihr lagen sechshundert Meter Nebel. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Keine Chance zum Auflösen. Seit drei Wochen hatte sich die Sonne nicht in Aarau blicken lassen. Andrina hatte keine Lust, bei diesem Nieselwetter draussen unterwegs zu sein. Ihre Gedanken kehrten zu gestern vor einer Woche zurück. Gleiches Wetter, aber immerhin nicht gleicher Ort und nicht gleicher Wochentag. Trotzdem widerstand es ihr, einen Spaziergang zu machen. Gleich darauf musste sie über sich selber lächeln. Es hiess nicht, dass man auf jedem Spaziergang über einen Toten stolpern musste. Trotzdem hatte sie keine Lust verspürt und hätte sich lieber mit einem Buch auf das Sofa zurückgezogen. Aber Enrico hatte nicht nachgegeben. Einmal am Tag müsse man frische Luft haben. Seit sie zusammengezogen waren, hatten sie sich angewöhnt, am Wochenende einen kleinen Ausflug in die Umgebung verbunden mit einem kurzen Spaziergang zu machen. Enrico hatte erklärt, so gut vom Stress unter der Woche abschalten zu können. Ausserdem kam er unter der Woche selten ins Freie, was er vermisste.

An diesem Tag war er zum Ballyareal nach Schönenwerd gefahren. Früher wurden hier Schuhe hergestellt, heute war auf dem Gelände eine Mischung aus verschiedenen Gewerben, Büros, Ateliers und Wohnungen. Am Ende des Areals befand sich ein Park, in dem man gut ein wenig spazieren konnte. Die Kieswege waren eben genug und stellten für Andrina kein Problem dar, sich dort ohne Walkingstöcke fortbewegen zu können. Sie kämpfte weiterhin mit den Spätfolgen ihrer schweren Rückenverletzung, die sie sich vor über zwei Jahren zugezogen hatte. Seit über einem halben Jahr stagnierten die Fortschritte. Andrina befürchtete, sich damit abfinden zu müssen, nie wieder ganz hergestellt zu sein. Die Schwangerschaft stellte eine zusätzliche Herausforderung dar. Der Arzt hatte zwar gesagt, eine Schwangerschaft sei kein Problem, hatte ihr aber nahegelegt, die Rückenübungen nicht zu vernachlässigen. Enrico mahnte zu Geduld. «Unterschätze es nicht», sagte er regelmässig. «Für deinen Körper ist die Belastung grösser, und er leistet mehr als ein anderer, der solche einschneidenden Verletzungen nicht durchmachen musste. Wenn das Baby da ist, wird es wieder vorwärtsgehen», versuchte er sie dann aufzubauen.

Enrico stellte den Wagen ab, und sie stiegen aus. Andrina fröstelte, als sie der kalte Wind traf. Er nahm ihre Hand, und sie schlenderten Richtung Park, der fast menschenleer war. Eine Familie befand sich auf der kleinen Spielanlage, zwei Jogger trabten an ihnen vorbei, und ein älterer Mann mit einem Dackel kreuzte ihren Weg.

Andrina verkrampfte sich, als sie den Teich mit den Pfahlbauten erblickte. Sie schielte zu Enrico. Hatte er bewusst den Park ausgesucht, oder war es Zufall?

«Hat es ein Update gegeben?», fragte er.

«Was für ein Update?»

«Von dem Toten, den wir gestern vor einer Woche am Hallwilersee gefunden haben?»

«Nein. Seit ich mit Susanna am Donnerstag essen war, habe ich nichts mehr gehört. Wie ist es mit dir? Weisst du etwas Neues?» Andrina warf ihm einen neuen Seitenblick zu. Seit ihrem Gespräch über Insulin und Unterzuckerung hatten sie das Thema gemieden.

«Nein.»

«Ich habe darüber nachgedacht», sagte Andrina. «Es könnte eine einfache Erklärung geben, und es war weder Mord noch Selbstmord. Ihm wurde schlecht aufgrund der Unterzuckerung, und er bekam einen Herzanfall.»

Die Skepsis in Enricos Gesicht war deutlich. «Dazu kriecht er in das Haus? Mich wundert, dass ihn anscheinend keiner vermisst. Immerhin weiss die Polizei gemäss Medien weiterhin nicht, um wen es sich handelt.»

«Er könnte allein leben.»

«Aber an seinem Arbeitsplatz wird man ihn doch vermisst haben.»

«Er könnte Ferien genommen haben oder war arbeitslos oder selbstständig.»

Enrico blieb stehen. «Er wird Familie haben, die sich wundern sollte, wenn er nicht erreichbar ist.»

«Woher weisst du überhaupt, ob sie mit der Identifizierung weiter sind oder nicht?», fragte Andrina.

«Heute Morgen habe ich in der Zeitung ein Bild von ihm gesehen, mit dem Aufruf, sich bei der Polizei zu melden, wenn man ihn kennt.»

Andrina hatte die Zeitung nicht gelesen und beschloss, das auch nicht zu tun.

Enrico drehte sich um, und Andrina realisierte, wo sie stehen geblieben waren. Sie musterte die vier oder fünf nachgebauten Pfahlbauten, die sich in der Mitte des kleinen Teiches befanden und nicht mehr als fünfzehn Meter von ihrem Ufer entfernt waren. Andrina empfand Unbehagen und hätte am liebsten den Pfahlbauten den Rücken gekehrt, aber Enrico bog rechts ab und ging zum Ufer des Teichs. Andrina fragte sich, was er damit bezwecken wollte.

«Lass uns gehen», drängte sie.

«Warum?», fragte er. «Du hast Angst, es könnte hier eine weitere Leiche versteckt sein?»

«Na ja.»

«Das wäre ein ziemlicher Zufall.» Er hielt Andrina die Hand hin. Zögernd trat sie näher und vermied es dabei, zu den Lehmgebäuden mit den Strohdächern zu schauen.

«Wieso hast du das Gefühl, es könnte hier ebenfalls ein Toter liegen?»

«Hast du das nicht?»

«Nein. Wie gesagt, es wäre ein grosser Zufall. Komm, schauen wir uns die Bauten näher an.»

«Warum?»

«Ich wollte nach dem letzten Wochenende ein wenig über die Pfahlbauer googeln, habe es aber zeitlich nicht geschafft.»

«Wieso das?»

«Grosse Beachtung habe ich Pfahlbauten bisher nicht geschenkt und wollte Näheres erfahren. Worum es sich bei den Pfahlbauten handelt und so. Ich finde es interessant, und es wäre eine gute Gelegenheit, sie sich näher anzusehen.»

«Zum Glück stehen sie im Teich», brummte Andrina.

«Da vorne hat es ein Boot.»

«Willst du allen Ernstes da übersetzen?»

Enrico grinste.

«Das ist bestimmt verboten.»

«Es war nur ein Scherz.» Er legte den Arm um Andrinas Schultern und führte sie ein Stück des Weges am Ufer entlang. Andrina vermied es weiterhin, zu den Bauten zu schauen. Nach einigen Schritten blieb Enrico stehen. Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. «Signore e signori, darf ich Ihnen hier eine erstklassig nachgebaute historische Stätte zeigen?» Er machte eine weitere ausladende Bewegung. «Weisst du, was es mit den Pfahlbauern auf sich hat?»

«So genau weiss ich das selber nicht. Ich meine, mich zu erinnern, es handle sich hierbei um keine einheitliche Kultur. Die Leute haben in der Steinzeit, Bronze- und beginnenden Eisenzeit gelebt. Wenn du es genauer wissen möchtest, müsste ich Lukas fragen.»

«Wieso ausgerechnet Lukas?»

«Er macht gerade das Korrektorat zu einem Krimi über ein Archäologenteam, das die Pfahlbauer erforscht.»

«Das heisst, ich müsste mich eher an den Autor oder die Autorin wenden.»

«Ich denke, wir fragen lieber das Internet.» Der Wind blies hier stärker als beim Auto, und Andrina war inzwischen richtig kalt.

«Du zitterst. Lass uns zum Auto zurückkehren.» Enrico wandte sich ab, hielt aber mitten in der Bewegung inne und schaute zu den Gebäuden im Teich.

«Was ist?», fragte Andrina.

Enrico trat einen Schritt nach links und beugte sich vor.

«Pass auf, sonst fällst du da rein. Erstens finde ich diesen Tümpel alles andere als einladend, und zweitens ist es nicht das ideale Wetter zum Baden.»

Enrico beugte sich ein Stück weiter vor, und Andrina fasste ihn am Arm.

«Was ist los?»

«Merda!»

Andrinas Blick folgte seinem ausgestreckten Arm.

«Was?»

«Da, hinter dem Haus dort.»

«Was soll dort sein?»

Anstelle einer Antwort zog Enrico Andrina zu sich und stellte sie vor sich hin. Erneut wies er auf das Haus. «Dort zwischen den beiden Häusern unter dem Dach an der Wand des vorderen.»

Andrina taumelte nach hinten und war froh, dass Enrico hinter ihr stand.

«Da liegt einer», flüsterte sie und starrte auf das Bein, das hinter dem Haus hervorlugte.

Es ist beinahe so wie «Täglich grüsst das Murmeltier», dachte Andrina. Oder in meinem Fall besser «Wöchentlich grüsst das Murmeltier». Doch die Situation war alles andere als komisch, und ihr war definitiv nicht zum Lachen zumute. Wieder sass sie in einem Polizeiwagen, in dessen Innerem es dieses Mal angenehm warm war, und sie beobachtete, wie Enrico einige Meter weiter von einem Polizeibeamten befragt wurde. Männer in weisser Schutzkleidung kehrten aus dem Park zurück, ein Mann mit einem silbrigen Koffer ging in die andere Richtung. Ein Mann mit grauen Haaren und zurückweichendem Haaransatz setzte sich zu Andrina in das Polizeiauto. Er schloss die Tür, wofür Andrina ihm dankbar war.

«Geht es mit der Wärme?», fragte er.

Sie nickte und musterte den Mann. Er musste Ende fünfzig, wenn nicht sogar Anfang sechzig, sein. Der Beamte wirkte wie der nette ältere Herr von nebenan und nicht wie ein Polizeibeamter, der einen Todesfall zu klären hatte.

«Beat Hegy von der Kantonspolizei Solothurn.»

Andrina ergriff die Hand, die er ihr hinhielt. Sie war warm und der Händedruck fest.

«Und Sie sind?»

«Andrina Kaufmann.»

«Ist er nicht Ihr Mann?» Hegy wies mit dem Kopf Richtung Enrico. Dabei huschten seine Augen kurz zu Andrinas Bauch.

«Wir wollen heiraten, wenn das Baby da ist.»

Hegy holte ein Notizbuch hervor. «Darf ich Sie zuerst nach Ihrer Adresse fragen?»

Andrina fragte sich, ob er das nicht bereits von Enrico wusste, und vermutete gleichzeitig, dass er damit die Korrektheit ihrer Aussage prüfen wollte.

«Aarau», murmelte er, während er Andrinas Angaben notierte. «Was machen Sie hier?»

«Einen Ausflug, um frische Luft zu schnappen.»

«Das Gleiche könnten Sie in Aarau tun.»

«An den Wochenenden machen wir meistens kurze Ausflüge in die Umgebung, damit die Spaziergänge nicht langweilig werden. Schönenwerd ist nicht weit weg.»

«Das stimmt. Können Sie bitte sagen, wie Sie die Leiche entdeckt haben?»

Andrina begann mit ihrem Bericht und bemühte sich, nichts auszulassen. Hegy unterbrach sie nicht und notierte Stichworte in sein Notizbuch.

«Ist er wirklich tot?»

«Er?»

«Der bei den Pfahlbauten?»

«Es handelt sich bei der Leiche um eine Frau.»

Nebel im Aargau

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