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EINS

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Andrinas Verlobter Enrico Bianchi fuhr in die Parklücke und stellte den Motor ab. Er wandte sich Andrina zu. «Ich weiss, es ist ungemütlich, aber ein wenig frische Luft brauchen wir.»

Es herrschte das typische Wetter von Ende November. Obwohl der Hochnebel sich wie ein Deckel über das Mittelland gelegt hatte und die starke Bise das Ganze ungemütlicher machte, als es ohnehin war, hatten sie beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen – nicht nur vor der Haustür.

Bevor Andrina die Wagentür öffnete, setzte sie die Kappe auf und stopfte einige Strähnen ihrer dunklen langen Haare, die sich aus dem Rossschwanz gelöst hatten, darunter.

«Brr», sagte sie und stieg aus. Wenn wenigstens Schnee liegen würde. Das würde ein wenig festliche Stimmung aufkommen lassen. Morgen in einer Woche war immerhin der erste Advent.

Hand in Hand schlenderten sie über den Parkplatz und überquerten die Strasse am Zebrastreifen Richtung Schloss Hallwyl. An der Mauer blieb Andrina stehen und schaute auf das Wasser. Anschliessend liess sie den Blick über das mittelalterliche Wasserschloss gleiten. Leider war es im Dezember geschlossen. Sonst hätten sie sich das Schloss anschauen können, anstatt bei dem ungemütlichen Wetter durch die Kälte zu stapfen. Inzwischen war sie nämlich nicht mehr so angetan von dem Plan, frische Luft zu schnappen.

Sie überquerten den Kiesplatz. An den Grabsteinen blieb Andrina stehen. Eine Infotafel verriet, dass nach dem Abbruch der Familiengruft bei der Kirche von Seengen die Grabsteine und Grabplatten der Familie von Hallwyl zum Schloss kamen. Andrina ging die Grabsteine entlang und las die Inschriften. Sie war oft hier gewesen, aber es lief ihr jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn sie las, wie alt das Mädchen Mathilde Agnes von Hallwyl nur geworden war. Sie hatte nicht einmal ihren zehnten Geburtstag feiern können. Unweigerlich legte sie die Hand auf ihren Bauch, der sich inzwischen nach vorne wölbte. Trotz ihrer zierlichen Gestalt hatte man ihr die Schwangerschaft lange nicht angesehen. Jetzt war sie im fünften Monat, und es liess sich nicht mehr verheimlichen.

«Was ist?», fragte Enrico. «Geht es dir nicht gut?» In seinen dunklen, fast schwarzen Augen las sie Besorgnis.

«Es ist alles bestens», erwiderte Andrina. Sie war froh, weil die Übelkeit, die sie von Anfang an begleitet hatte, inzwischen nachgelassen hatte.

Sie liefen weiter geradeaus in den Weg und schlenderten durch das Seengermoos Richtung See. Die Bise blies hier stärker, und Andrina spürte die Kälte, die durch den Wintermantel drang.

Viele hatten sich bei dem Wetter nicht vor die Tür gewagt. Es kamen ihnen nur zwei Jogger und ein Mann mit einem Schäferhund entgegen. Nach zehn Minuten erreichten sie die Anlegestelle «Seengen» von der Schifffahrt Hallwilersee. In der wärmeren Jahreszeit konnte man von hier zu Rundfahrten auf dem See starten. Als Nächstes gelangten sie zur Frauenbadi. Daneben lag die Männerbadi.

Hin und wieder war Andrina in dieser öffentlichen kostenlosen Seebadi geschwommen. Bei der Kälte heute schauderte ihr nur beim Gedanken, einen Fuss ins Wasser zu setzen. Sie gingen an dem einfachen roten Holzgebäude vorbei, in dem sich Umkleidekabinen, WCs und Duschen befanden, und traten an die Holztreppe. Sogar das Wasser sah bei diesem Wetter grau aus, und die Seerosen, die am Ufer wuchsen, schafften es nicht, der Szene einen Farbtupfer zu verleihen. Immerhin waren sie hier ein wenig vor dem Wind geschützt, der die Temperatur mindestens um zwei Grad tiefer empfinden liess, als sie war. Zwei Blesshühner schwammen vorbei, und ein Schwan näherte sich ihnen.

«Ich denke, das reicht heute mit frischer Luft», sagte Enrico, und sein Atem stand in einer weissen Wolke vor seinem Mund.

Dem musste Andrina zustimmen, und sie war froh über den Vorschlag.

«Gehen wir zurück?», fragte er. «Mir ist kalt.»

Andrina wandte sich ihm zu. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgestellt und mit dem Schal das Kinn abgedeckt. Die Kappe hatte er tief in die Stirn gezogen. Er fror eindeutig mehr als sie. «Manchmal bin ich froh, dass du ein wärmeverwöhnter Süditaliener bist.»

In Enricos Augen blitzte es, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. «Ich lebe gerne in der Schweiz, aber es gibt Dinge, die nicht unbedingt sein müssten. Dazu gehört dieses nasskalte Dauergrau im Winter.»

Bevor Andrina antworten konnte, ertönte ein lang gezogener Schrei. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie einander an, bevor Enrico zum Ausgang der Badi rannte.

Andrina hastete hinter ihm her. Als sie vor die Badi trat, kam ihnen eine Frau entgegen, die wild mit einer Hand fuchtelte und einen Collie hinter sich herzog.

«Da liegt einer», stiess sie atemlos hervor, als sie bei ihnen angekommen war.

«Wo?», fragte Enrico.

«Er bewegt sich nicht.»

«Wo liegt wer?»

«Ein Mann … ich glaube, es ist ein Mann.»

«Wo?», wiederholte Enrico mit Nachdruck.

«Dort bei dem Pfahlbauhaus.» Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war.

«Wo ist er?», fragte Enrico, als sie beim Nachbau eines Pfahlbauhauses ankamen. Andrina sah sich um. Ausser Schilf, Bäumen und Wiese sah sie nichts.

«Da drin.» Die Frau deutete auf den niedrigen, kleinen Eingang. Andrina beugte sich vor, konnte aber nichts erkennen. Ausser dass es in der Rückwand ein Loch hatte, das den Blick auf die sumpfige Wiese freigab.

«Er liegt an der Wand auf der linken Seite.» Inzwischen hatte die sich überschlagende Stimme zu einem Flüstern gewechselt, das Andrina kaum verstehen konnte.

Enrico bückte sich und schlüpfte ins Innere. Er wandte sich nach links. Neben Andrina trat die Frau von einem Bein auf das andere und schimpfte mit ihrem Hund, der Enrico offenbar gerne gefolgt wäre. Den Collie interessierte die Tirade nicht, und er zog weiter an der Leine. Dabei wedelte er mit dem Schwanz.

«Er hat ihn gefunden», sagte die Frau, die wieder so leise sprach, dass Andrina sie fast nicht verstand. «Er lief weg und hat nicht auf mich gehört. Zuerst wusste ich nicht, wo er war, bis er anfing, laut zu bellen.» Sie sprach hastiger. «Als er nicht da rauskommen wollte, bin ich rein und habe den …»

Sie brach ab, als Enricos Kopf im Eingang auftauchte. Er kroch aus dem Haus, richtete sich auf und klopfte die Erde von der Hose.

«Er ist tot», sagte er. «Wir sollten die Polizei verständigen.»

Andrina verschränkte die Hände ineinander und starrte geradeaus. Sie sass in einem der Polizeiwagen, die auf dem Kiesplatz vor dem Schloss Hallwyl standen. Es war kalt im Wagen, und sie hätte zu gerne die Wagentür geschlossen, damit die Bise nicht durch das Wageninnere zog, aber sie wagte es nicht. Sie wagte überhaupt nicht, sich zu rühren, und konnte nicht sagen, wie lange sie bereits im Wagen sass und wartete. Sie betrachtete die Frontkonsole und überlegte, ob der Wagen eine Standheizung hatte. Falls das so war, hätte man sie bestimmt eingeschaltet.

Andrina war die Einzige, die sich in einem der Autos befand. Vermutlich hatte man ihr aufgrund der inzwischen nicht mehr zu übersehenden Schwangerschaft zugestanden, sich zu setzen.

Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Beamte liefen zum See oder kehrten zurück. Vor einiger Zeit war ihnen ein Mann mit einem silbrigen Koffer in die Richtung des Pfahlbauhauses gefolgt. Andrina meinte, den Rechtsmediziner erkannt zu haben, dem sie ein- oder zweimal begegnet war, als sie mit Enricos Halbbruder Marco Feller, dem Leiter der Abteilung Leib und Leben, zusammen gewesen war. Marco war zu ihrem Bedauern ebenfalls vor Ort.

Sie legte die Hand auf den Bauch. Ihr Baby rührte sich nicht. Bestimmt spürte es ihre Anspannung.

Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Bald würde der graue Tag von der dunklen Nacht überschattet werden. Zur jetzigen Jahreszeit fand Andrina es eine Erleichterung, wenn es dunkel wurde. In der Nacht musste sie dieses Dauergrau nicht mehr sehen. Heute jedoch fürchtete sie sich davor. In der Dunkelheit würde es keine Ablenkung geben. Genau diese Ablenkung suchte Andrina und schaute sich um. Niemand nahm Notiz von ihr, und sie fragte sich, ob man sie vergessen hatte.

Sie blickte zur Mauer und zum Wassergraben, der das Schloss umgab. In der Nähe der Grabsteine stand Enrico mit Max Wagner aus Marco Fellers Team. Sie konnte die Männer aus dieser Distanz fast nicht erkennen. Wagner machte Notizen und stellte offenbar eine Frage nach der anderen. Enrico schien regelrecht damit bombardiert zu werden. Sogar aus der Entfernung konnte Andrina trotz schwindenden Lichts Enricos Anspannung erkennen, obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand.

Der Wind nahm weiter zu. Andrina verschränkte die Arme vor der Brust. Viel Schutz gab es nicht.

Die Frau, die die Leiche zuerst entdeckt hatte, stand an der Mauer zum Schlossgraben und wurde von Marco befragt. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen. Ihr Collie sass brav neben ihr.

Zwei Männer in weissen Schutzanzügen kehrten vom See zurück. Sie waren in eine Diskussion vertieft und gingen zu einem Kastenwagen, der in der Nähe des Eingangs vom Schloss stand.

Neben dem Wagen nahm Andrina eine Bewegung wahr und brauchte einen Augenblick, bis sie den Beamten erkannte. Silvan Brogli stieg neben ihr ein und liess sich auf die Rückbank fallen. Ausgerechnet er. Zu deutlich erinnerte Andrina sich an seine Vernehmungen in der Vergangenheit, die alles andere als angenehm gewesen waren. Immer wieder hatte er sie bei früheren Fällen als Tatverdächtige ins Auge gefasst.

«So schnell sieht man sich wieder», sagte er anstelle einer Begrüssung.

Andrina liess den Tonfall auf sich wirken, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Sarkasmus in ihm mitschwang. Sie überlegte, ob sie darauf eingehen sollte, schwieg aber lieber.

«Leider ist der Umstand unseres Wiedersehens nicht erfreulich.»

Dieses Mal war sie sich sicher. Keine Anspielung schwang zwischen den Zeilen mit, und Andrina wandte sich ihm erstaunt zu. Brogli hielt eine Thermoskanne und einen Styroporbecher hoch. «Möchten Sie einen heissen Tee?»

Andrina war zu erstaunt, um sofort zu antworten. Die menschlichen Züge an diesem Mann waren fremd. «Das wäre nett», brachte sie nach einigen Sekunden hervor.

«Es tut mir leid, wenn Sie warten mussten.» Brogli füllte Tee in den Becher, den er Andrina reichte. Sie schnupperte. Kräutertee.

«Danke.»

Vorsichtig nippte sie an dem heissen Getränk. Wärme breitete sich über die Speiseröhre Richtung Magen aus. Von dort strahlte sie weiter im Körper aus, doch bis zu ihren Gliedmassen gelangte sie nicht. Inzwischen hatte sie das Gefühl, ihre Füsse seien aus Stein. Brogli stellte die Thermoskanne vor sich auf den Boden und nahm die Kappe ab. Seine grauen, sich lichtenden Haare standen wirr vom Kopf ab, aber er bemerkte es nicht und holte sein Notizbuch aus der Jackeninnentasche. Er schlug es auf und holte einen Stift hervor.

«Wir haben Sie in dem ganzen Trubel vergessen. Tut mir leid.» Das klang zerknirscht. Eine weitere Eigenschaft, die sie bisher ebenfalls nicht bei ihm beobachtet hatte. «Können Sie bitte berichten, wie Sie die Leiche gefunden haben?» Das war der Tonfall, mit dem er normalerweise mit ihr sprach. Andrina war augenblicklich auf der Hut und wappnete sich für das, was folgen würde.

«Nicht ich habe sie gefunden. Ich meine, im eigentlichen Sinne.» Andrina berichtete, wie sie beschlossen hatten, trotz des scheusslichen Wetters einen Ausflug zu unternehmen, und wie ihnen die Frau entgegengerannt war.

«Kennen Sie die Frau?»

«Nein. Ich bin ihr bisher nie begegnet.»

«Und die Leiche?»

«Ich habe sie, ehrlich gesagt, nicht gesehen.»

Brogli hob seine Augenbrauen.

«Als sie uns zu der Baute geführt hat, ist nur Enrico reingegangen. Von meinem Standpunkt aus konnte ich nichts in der Hütte erkennen.»

«Hat Herr Bianchi Ihnen etwas über die Person gesagt?»

«Er sei tot, und wir müssten die Polizei verständigen.»

Broglis Stift huschte über das Papier. Andrina hatte das Gefühl, er notiere jedes einzelne Wort, das sie sagte.

«Wer von Ihnen hat den Notruf getätigt?»

«Enrico. Im Anschluss bat er mich, zum Parkplatz zu gehen und mich um die Frau zu kümmern.»

«Die Frau? Hat sie Ihnen nicht ihren Namen genannt?»

«Nein. Sie stand unter Schock und hat kein Wort gesprochen, nachdem Enrico uns gebeten hatte, zum Schloss zu gehen.»

«Warum blieb Herr Bianchi zurück?», fragte Brogli.

«Er wollte, dass niemand anderer in das Haus ging.»

Hatte Enrico damit einen Fehler gemacht? Hoffentlich nahm niemand an, er könne etwas am Tatort verändert haben. Nach allem, was in der Vergangenheit vorgefallen war, konnte man das Verhältnis zwischen ihm und Marcos Team als schlecht bezeichnen. Alles beruhte auf gegenseitigem Misstrauen. Ihr war es nicht recht gewesen, als er beschlossen hatte, zurückzubleiben. Sie sah ihn vor sich, wie er sich gegen einen Baum gegenüber dem Eingang der Pfahlbautenrekonstruktion gelehnt und ihnen nachgeschaut hatte.

Brogli neigte den Kopf. Diese Geste war wie eine Aufforderung, weiterzusprechen.

«Damit keine weiteren Spuren vernichtet werden, hat er gesagt», fuhr Andrina fort und war sich bewusst, wie unbeholfen und defensiv das klang, und ärgerte sich darüber.

«Das hat er bereits selber gemacht.» Ein Grollen mischte sich in seine Stimme, und Andrina fröstelte stärker, als sie es ohnehin tat.

«Was?»

«Den Tatort verändert. Er hat den Toten bewegt.»

«Enrico dachte, der Mann sei verletzt, und wollte Erste Hilfe leisten.»

«Natürlich.» Ein kurzes Lächeln umspielte Broglis Mund. Ihm konnte die Aggressivität, die sich in Andrinas Stimme mischte, nicht entgangen sein.

«Hat Herr Bianchi Veränderungen am Tatort vorgenommen? Ich meine damit, hat er was mitgenommen?»

«Warum sollte er? Er hat geschaut, ob der Mann lebt. Nicht mehr und nicht weniger. Ob oder wie stark er dabei seine Lage verändert hat, weiss ich nicht. Bevor Sie fragen, er hat bestimmt kein zweites Mal das Haus betreten, bis Sie und Ihre Kollegen eingetroffen waren.»

Hoffentlich war das so, dachte Andrina. Hoffentlich hatte Enrico sich kein zweites Mal vergewissert, ob die Person tot war oder lebte. Sie wollte sich nicht ausmalen, mit welchem Ärger er zu rechnen hatte, falls er sich dem Toten ein weiteres Mal genähert hatte.

Sie sah sein versteinertes Gesicht vor sich, als er gemeinsam mit Marco Feller und Wagner auf den Platz vor dem Schloss gekommen war. Die Beamten hatten ihn wie eine Eskorte begleitet. Als sie den Parkplatz betreten hatten, hatte keiner der Männer gesprochen. Am liebsten wäre Andrina zu ihm geeilt, aber er hatte einen Blick in ihre Richtung geworfen und sie mit den Augen beschworen, dort zu bleiben, wo sie war. Wiederholt hatte sie sich gefragt, warum. Was war vorgefallen?

Es war Andrina nicht recht, dass Marco hier war. Er sollte sich wegen Befangenheit zurückhalten, spätestens nachdem er realisiert hatte, wer den Toten gefunden hatte. Es irritierte Andrina, dass er hier war und blieb. Was wollte er damit bezwecken?

Andrina dachte an den September zurück. Sie hatte Marco definitiv klargemacht, es gebe kein Zurück und ihre Beziehung sei definitiv vorbei. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Lass das. Konzentriere dich lieber.

«Wissen Sie, ob die Frau, die die Leiche gefunden hat, Veränderungen am Tatort vorgenommen hat?», fragte Brogli.

«Keine Ahnung, ob sie im Haus war.» Halt, das stimmte so nicht. Andrina erinnerte sich an das Gestammel der Frau, ihr Hund sei in dem Haus verschwunden. Brogli bemerkte ihr Zögern.

«Sie hat gesagt, ihr Hund sei fortgelaufen, und sie musste in das Haus, um ihn zu holen.»

In Broglis Gesicht arbeitete es. Die Missbilligung war deutlich, aber er hielt sich zu Andrinas Erleichterung mit Schimpftiraden zurück.

«Herr Bianchi hat nichts über den Zustand des Toten gesagt?», fuhr er fort.

Was sollte das heissen? War die Leiche etwa übel zugerichtet? Durch wen? Durch den Mörder oder Tiere? Wie lange lag die Leiche überhaupt dort? Allein die Vorstellung reichte aus, dass Andrina übel wurde. Sie schaffte es nur, den Kopf zu schütteln.

«Das reicht fürs Erste.» Er deutete auf den Becher in Andrinas Hand. «Möchten Sie noch Tee?»

Obwohl ihr nach wie vor kalt war, lehnte sie ab. Sie würde bestimmt nichts mehr herunterbekommen. Brogli stieg aus. Andrinas Erleichterung darüber verpuffte, als sie ihn auf Wagner und Enrico zugehen sah und Marco sich zu ihnen gesellte.

***

Andrina liess sich auf das Wohnzimmersofa fallen und beobachtete, wie Enrico Holz in den Ofen stapelte und es anzündete. Er schloss die Glastür und schaute zu, wie die Flammen zu züngeln begannen. Es kam Andrina vor, als wolle er ein Gespräch möglichst weit hinausschieben.

Auf der Heimfahrt hatten sie fast nicht miteinander gesprochen. Auch jetzt war kaum ein Wort gefallen. Andrina wagte nicht, das Schweigen zu brechen. Sie dachte an Enricos starres Gesicht, als er endlich von den Befragungen entlassen und auf sie zugekommen war. Sie waren in den Wagen gestiegen und heimgefahren.

Andrina brauchte nicht zu fragen, was der Grund für seine Einsilbigkeit war. Deutlich sah sie vor sich, wie Marco auf Enrico eingeredet hatte. Nettigkeiten waren das bestimmt nicht gewesen. An Enricos Stelle würde das bei ihr genauso für Verstimmung sorgen. Sie hatte ausserdem Angst, über das zu sprechen, was am Hallwilersee vorgefallen war.

Enrico stand auf und kam zum Sofa. Sein Gesicht war fahl. Die Blässe wurde durch seine schwarzen Haare und die dunklen Augen betont. Er setzte sich neben Andrina.

«Ich glaube, ich werde nie mehr warm», brach er das Schweigen. Seine Stimme klang neutral.

«Ich bin völlig durchgefroren.»

«Dabei hast du eine kleine Wärmflasche im Bauch.»

Es stimmte, seit sie schwanger war, fror Andrina nicht mehr so stark, wie sie es sonst tat. Heute war das aber nicht so. Andrina legte die Hand auf den Bauch.

«Hat Brogli sich anständig dir gegenüber benommen?» Seltsame Frage. Versuchte Enrico so den Einstieg zu einem Gespräch über den Toten?

«Ja, eigentlich schon.»

Sein Gesicht wurde ausdruckslos. Bei dir nicht?, fügte Andrina im Stillen an.

«Es war okay», sagte Enrico, als habe er geahnt, was in ihrem Kopf vor sich ging. «Sie waren nicht begeistert, weil ich in das Haus gekrochen bin und die Leiche angefasst habe.»

«Du hast Erste Hilfe leisten wollen.»

«Das habe ich auch erklärt. Trotzdem habe ich Spuren verwischt. Dabei hat der Hund bestimmt den grösseren Teil dazu beigetragen. Sie waren ausserdem misstrauisch, weil ich zurückgeblieben war. Ob sie mir meine Erklärung abgenommen haben, verhindern zu wollen, dass gegebenenfalls mehr am Tatort verändert wurde, weiss ich nicht.»

Andrina wurde das Gefühl nicht los, Enrico wurde als Verdächtiger gehandelt. Sogleich schüttelte sie den Gedanken ab. Das wäre unprofessionell. Trotz der alten Rivalität und der Tatsache, dass Andrina mit Enrico zusammen war. Falls Marco nach einer Möglichkeit suchte, Enrico etwas anzuhängen, gab es die Frau als Zeugin.

«War er schlimm zugerichtet?», fragte Andrina vorsichtig.

«Nein. Er hat ausgesehen, als würde er schlafen. Er lag auf der Seite und hatte die Beine angewinkelt. Sein Kopf lag auf dem Unterarm. Das Ganze machte einen beinahe bequemen Eindruck.»

So genau hatte Andrina es nicht wissen wollen.

«Es sah sogar friedlich aus», fuhr Enrico fort.

«Hatte er Verletzungen?»

«Nein. Oder besser, ich habe keine gesehen. Ich habe nur nach seinem Puls gefühlt und sofort realisiert, dass er tot war.» Enrico starrte zum Schwedenofen. «Sogar die Augen waren geschlossen. So seltsam es erscheinen mag, es kam mir vor, als sei er in diese Hütte gekrochen, um zu schlafen, und sei dabei erfroren. Immerhin haben wir im Moment nachts Temperaturen um die null Grad.»

«Willst du damit sagen, er lag schon länger dort?»

Enrico lehnte sich nach hinten und legte den Arm um Andrinas Schultern. «Das kann ich nicht beurteilen. Seine Haut war jedenfalls kalt. Eiskalt, um es genau zu sagen.» Ein Schauer durchlief Andrinas Körper. «Ich bin kein Rechtsmediziner, um zu beurteilen, wie schnell eine Leiche bei Temperaturen von null bis vier Grad auskühlt.»

«Ein Obdachloser?», fragte Andrina.

«Das glaube ich weniger. Er trug eine dunkle Hose und ein graues Hemd mit Krawatte. Er sah eher wie ein Geschäftsmann aus, soweit ich das in dem schummrigen Licht in dem Haus erkennen konnte.»

«Warum sollte er dort reinkriechen?»

«Er könnte betrunken gewesen sein und nicht gewusst haben, was er tat.»

«Lag eine Flasche bei ihm?», fragte Andrina und hoffte, es war so. Zumindest wäre es in dem Fall kein Mord.

«Andrina, so genau habe ich mich nicht umgeschaut. Als ich realisierte, dass der Mann tot war, habe ich schnell den Rückzug angetreten, um keine weiteren Spuren zu vernichten.»

«Den Mann anzufassen ist nicht gleichbedeutend damit, Spuren zu vernichten.»

«Je nachdem schon. Durch das Reinkriechen bin ich über den Boden gerutscht und habe eventuell etwas verwischt.»

«Der Hund und die Frau haben Vorarbeit geleistet», sagte Andrina.

«Eben. Da brauchte es nicht zusätzlich jemanden, der eventuell die letzten vorhandenen Spuren beseitigte.»

«Kennst du ihn?»

Langsam fiel die Anspannung von Enrico ab. Es wurde warm, und Andrina kuschelte sich an ihn.

«Nein. Er muss um die Mitte dreissig sein, wenn ich das in dem Halbdunkel richtig erkannt habe. Vor seinem Kopf lag eine Brille, fein säuberlich zusammengelegt. Eben, es machte den Eindruck, als habe er sich dort für ein Nickerchen zusammengerollt.»

«Bei der Kälte finde ich das seltsam. Er könnte nicht nur betrunken gewesen sein, sondern zusätzlich Drogen genommen haben.»

«Das kann ich nicht sagen, aber ich denke, der Rechtsmediziner wird entsprechende Untersuchungen machen.»

Nebel im Aargau

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