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Prolog

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Er lehnte sich gegen den Baum und schaute auf das Grab. Endlich waren die Trauerfeierlichkeiten und der anschliessende Umtrunk vorbei. Nun war er alleine. Doch die Einsamkeit, nach der er sich den ganzen Tag gesehnt hatte, war auf einmal nicht mehr erstrebenswert.

Er hatte keine Ruhe gehabt, seinen Gedanken nachhängen zu können, und war gefordert gewesen, Gespräche zu führen. Der Trubel der vergangenen Tage, der mit der Beerdigung einen Höhepunkt erreicht hatte, war anstrengend und aufreibend gewesen, aber er hatte davon abgehalten zu grübeln. Da alles vorbei war, hatten die Gedanken Raum bekommen, in den Vordergrund zu treten. Alles wurde real – in der Stille, die ihn umgab. Diese Stille führte ihm die Endgültigkeit vor Augen.

Die Idee, am Abend nach der Beerdigung herzukommen, war nicht gut. Er hatte gehofft, hier endlich angemessen trauern zu können. Was war aber angemessen? Er fand keine Antwort auf diese Frage. Wieso konnte er die Trauer, nach der er sich gesehnt hatte, zu der er aber keine Ruhe gefunden hatte, jetzt nicht zulassen?

«Auf Knopfdruck geht das nicht», hätte sie vermutlich gesagt.

Er legte sein Gesicht gegen den Baum, und die Rinde kratzte über seine Wangen. Auf dem Weg stritten sich zwei Amseln. Zeternd flogen sie schliesslich davon.

Das alles nahm er nur am Rande wahr. Weiter betrachtete er die Kränze. Rosen, Flieder und Blumen, deren Namen er nicht kannte. In der Mitte seiner mit roten Rosen. Über ihm im Baum begann ein Vogel zu trällern. Ein anderer setzte ein. Er schaute aber nicht hoch, um festzustellen, um welchen Vogel es sich handelte, sondern betrachtete weiter das Grab. Ein warmer Luftzug, der nach dem nasskalten Wetter der vergangenen Woche daran erinnerte, dass eigentlich Sommer war, strich über sein Gesicht. Die untergehende Sonne malte ein Muster aus Licht und Schatten über den Friedhof. All das konnte sie nicht mehr erleben. Sie war tot. Er konnte oder besser wollte es nach wie vor nicht wahrhaben. Die Trauer schlug aus dem Nichts zu. Aber sie entsprach nicht dem Gefühl, das er sich erhofft hatte. Im Gegenteil. Sie drohte ihn zu ersticken. Er löste sich vom Baum und trat an das Grab. Langsam sank er auf die Knie und berührte einen der Kränze. Das, was von seiner grossen Liebe übrig geblieben war, war ein kleiner Haufen Asche, der sich in einer Urne befand, die hier vergraben war.

Nie hätte er an dem Morgen vor bald drei Wochen zu träumen gewagt, ihr Abschied könne das Ende ihres gemeinsamen Weges sein.

Er dachte an ihre leuchtenden Augen, als sie losgezogen war. An das ungute Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als er die anderen kennengelernt hatte. Dieses Gefühl hatte sich verstärkt, als er ihr nachgeschaut hatte und sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Wegen dieser Nichtsnutze hatte sie mit dem Leben bezahlt. Es war nur deren Schuld. Diese Gewissheit bohrte sich wie ein Stachel in sein Fleisch.

Deutlich sah er die bestürzten Gesichter vor sich, als ihr Tod definitiv bestätigt worden war. Das Entsetzen, das zu Mitleid gewechselt war, als man ihre Leiche gefunden hatte. Heuchler! Mörder!

Ihr Tod war als Unfall deklariert worden. Das stimmte aber nicht. Sie hatten sie umgebracht, kamen aber straffrei davon und konnten weiter das Leben geniessen. Es war ungerecht. Gemein. Warum musste ihn das Schicksal so hart treffen?

Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den wolkenlosen Himmel. Eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Ja, das würde er tun. Die Tat würde nicht ungesühnt bleiben. Er senkte den Kopf und betrachtete das Grab.

«Das verspreche ich dir», flüsterte er und stand auf.

Nebel im Aargau

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