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ZWEI

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«Das ist unser Programm für nächsten Herbst», sagte Elisabeth Veldt, die Verlegerin des Cleve-Verlages, bei dem Andrina als Lektorin tätig war. Sie hatten sich zu ihrer Montagmorgenbesprechung im Sitzungszimmer versammelt. Elisabeth sah müde aus. Der Eindruck der grauen Gesichtsfarbe wurde durch ihre kurz geschnittenen Haare verstärkt, die inzwischen mehrheitlich grau waren. Man konnte nur erahnen, dass die ursprüngliche Farbe einmal Dunkelbraun gewesen war. «Ich weiss, dieses Mal habe ich mehr Bücher als normalerweise ins Programm aufgenommen, und es hat zudem viele Debütautoren, aber ich wollte von den Krimis keinen absagen, weil die Qualität sehr gut war. Mir ist bewusst, welchen Aufwand das für euch bedeutet. Aber ich möchte das Team nicht aufstocken, da ich nicht weiss, ob wir das nächste Mal gleich viele Krimis aufnehmen werden und wie sich der Umsatz im nächsten Jahr entwickeln wird.»

Elisabeth rechnete offenbar nach wie vor damit, dass sowohl Gabi als auch Andrina nach der Babypause zurückkehrten.

Andrina war sich unschlüssig, ob sie nach der Geburt wirklich weiterarbeiten wollte. Enrico hatte gesagt, sie brauche nicht. Natürlich musste sie nicht, da sein Einkommen für sie mehr als ausreichend war.

Sie war sich jedoch nicht sicher, ob sie Teilzeit arbeiten wollte, um keine berufliche Lücke im Lebenslauf zu haben und um geistig fit zu bleiben. Elisabeth hatte durchblicken lassen, bereit zu sein, sich auf eine Teilzeitlösung einzulassen, da sie Andrina als zuverlässige Lektorin schätzte. Andrinas Schwester Seraina hatte angeboten, Tagesmutter für ihre Nichte oder ihren Neffen zu sein. Das wäre eine ideale Lösung, wie Andrina einräumen musste. Auf der anderen Seite wollte sie gerne ganz für das Kind da sein.

Sie schielte zu Gabi Hug hinüber. Soviel sie wusste, hatte sich Gabi ebenfalls noch nicht geäussert, ob und wie viel sie nach der Babypause arbeiten wollte. Langsam wurde es gemäss Elisabeth Zeit für einen Entschluss. Gabis Termin war Anfang Februar. Andrina hatte immerhin bis Ende April Zeit.

Elisabeth legte die Hand auf die ausgedruckte Excel-Liste. «Hat jemand von euch Lektoren einen bestimmten Wunsch, oder darf ich sie euch zuweisen?» Andrina schaute Kilian Gerber, der eine Doppelfunktion als Grafiker und Lektor im Verlag innehatte, und Gabi an.

«Mir ist es egal», sagte Kilian, und Andrina und Gabi nickten zustimmend.

Sie gingen die Liste durch, und jeder machte sich dazu Notizen. Nachdem die Lektorate verteilt waren, kam Elisabeth auf ein weiteres Thema zu sprechen.

«Gibt es offene Punkte für den kommenden Adventsapéro?» Dieser Apéro fand in diesem Jahr zum ersten Mal statt. Elisabeth fand es schade, dass man die Autoren nur über E-Mail und gegebenenfalls über Telefon und nicht persönlich kennenlernte. Daher hatte sie die Autoren zu einem Adventsumtrunk in den Verlag eingeladen. Die Resonanz war gross gewesen. Der Apéro sollte am Dienstag in einer Woche stattfinden.

«Gabi, hast du so weit alles organisieren können, oder gibt es Dinge, bei denen du Hilfe brauchst?»

«Es ist so weit alles klar», antwortete Gabi. Sie löste ihre dunkelblonden Haare und fasste sie zu einem neuen Rossschwanz zusammen. Die fahrige Geste vermittelte Andrina einen nervösen Eindruck. «Die Speisen sind mit dem Catering besprochen. Die definitive Information habe ich an alle Autoren verschickt, und die Verlosung der Bücher hat Lukas vorbereitet, soweit ich weiss.»

«Ja, es ist alles erledigt», warf Lukas ein.

Elisabeth legte ihre Hände auf den Tisch. «Wunderbar. Ich freue mich auf den Anlass. Falls unverhofft etwas auftaucht, bei dem du Hilfe brauchst, lass es uns wissen. Hat sonst jemand was?»

«Ja, ich», sagte Andrina. «Ich muss heute früher gehen, da ich meine Aussage bei der Polizei unterschreiben muss.»

«Welche Aussage?», fragte Kilian verwundert.

«Andrina steckt mitten in einem Kriminalfall», mischte sich Lukas augenzwinkernd ein, bevor Andrina antworten konnte.

«Worin ermittelst du?», fragte Kilian. Er sah aus, als habe er sich seit einigen Tagen nicht rasiert. Der Dreitagebart verlieh ihm zusammen mit seinen millimeterkurz geschnittenen dunkelblonden Haaren einen verwegenen Eindruck.

«Gar nicht», rief Andrina. «Ich bin nur Zeugin.»

Genau das hatte sie vermeiden wollen. Als sie am Morgen im Verlag angekommen war, hatte sie Lukas nur kurz informiert. Seine weiteren Fragen hatte sie abgeblockt.

Erwartungsvoll schauten Kilian und Lukas sie an. Gabis Miene dagegen hatte sich verfinstert. Marco musste ihr bereits davon berichtet haben. Kurz nach ihrer Trennung waren Gabi und Marco zusammengekommen. Eigentlich sollte Gabi inzwischen klar sein, dass Andrina keine Gefahr für ihre Beziehung darstellte.

So kurz wie möglich fasste Andrina den vorgestrigen Nachmittag zusammen.

«‹Zeugin› klingt zu harmlos», sagte Lukas. Seine braunen Haare konnten einen Schnitt vertragen. Zusammen mit der Brille sah er wie ein zerstreuter Professor aus, obwohl er erst Ende dreissig war. «Es handelt sich um einen Mordfall. Du hast wirklich ein Talent, solche Dinge anzuziehen.»

«Das bedeutet nicht automatisch Mord. Der Mann kann betrunken gewesen sein, Drogen genommen oder Selbstmord begangen haben, indem er irgendwas geschluckt und sich dort verkrochen hat.»

«Suizid ist auch Mord», sagte Lukas.

Andrina unterdrückte ein Seufzen.

«Sprichst du von dem Toten, der am Hallwilersee gefunden wurde?», fragte Kilian.

Dieses Mal konnte Andrina den Seufzer nicht unterdrücken.

«Das heisst, ja, nehme ich an. Sehr mysteriös», sagte Kilian.

«War es Selbstmord?», fragte Lukas.

«Keine Ahnung», antwortete Andrina.

«Komm schon.»

«Gemäss Nachrichten scheint es so zu sein», sagte Andrina ausweichend.

«Du weisst keine weiteren Details?»

«Nein.»

«Was sagt dein Freund?», wandte Lukas sich an Gabi.

«Nichts.» Gabis Gesichtsausdruck war abweisend.

Sie wusste sicher mehr, aber Andrina konnte verstehen, dass sie sich nicht dazu äussern wollte. Bestimmt hatte Marco sie gebeten, nicht darüber zu sprechen. Andrina dachte daran, wie Marco mit ihr über einzelne Fälle gesprochen hatte, als sie zusammen gewesen waren. Wenn sie an diese Gespräche dachte, schauderte es ihr, und sie war froh, dass dieses Kapitel der Vergangenheit angehörte.

«Irgendwas wird er gesagt haben», hakte Lukas nach.

«Er wird sich nicht gross dazu äussern können, da sie erst einmal die Obduktion abwarten müssen», sagte Andrina und erntete einen wütenden Blick von Gabi.

«Genug», fuhr Elisabeth dazwischen. «Natürlich kannst du früher gehen, um deine Aussage zu unterschreiben, Andrina.»

***

Andrina schob Wagner ihre unterschriebene Aussage zu.

«Ihnen sind keine weiteren Details eingefallen?», fragte Brogli, der neben Wagner sass. Andrina schätzte seine Anwesenheit nicht und hatte ursprünglich gehofft, er werde nicht mit dabei sein. Trotzdem war ihr Brogli lieber, und sie war froh, dass Marco sich nicht hatte blicken lassen.

«Nein.»

«Nichts, was Ihnen seltsam erscheint?», hakte er nach. «Auch im Nachhinein nicht?»

«Es tut mir leid. Ich habe nichts gesehen. Keine weitere Person. Es waren bei dem Wetter sowieso wenig Leute unterwegs.»

«Sie bleiben dabei, nur dem Mann mit dem Schäferhund, zwei Joggern und Frau Fluri begegnet zu sein», sagte Brogli.

«Wer ist Frau Fluri?»

«Die Dame mit dem Collie», sagte Wagner. Er hatte eine neue Brille, fiel Andrina auf. Das Blau des Gestells sollte vermutlich einen farblichen Kontrast zu seinen grauen Haarstoppeln darstellen.

«Es waren keine weiteren Personen da», wiederholte Andrina und bemühte sich, sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Warum akzeptierte Brogli ihre Aussage nicht, sondern bohrte weiter? Hoffte er, sie werde sich widersprechen? Lass das, dachte Andrina. Du musst aufgrund der Vergangenheit keine Rückschlüsse auf sein Verhalten ziehen. Vermutlich wollte er sicher sein, dass sie sich an alle Details erinnerte, und bohrte deshalb nach. «Genauso habe ich in der Umgebung nichts bemerkt, was mir – auch im Nachhinein nicht – verdächtig erschienen war.»

Wagner legte Andrinas Aussage in eine Klarsichtmappe.

Auf einmal wurde Andrina heiss. «Warum fragen Sie so hartnäckig nach, wenn es Selbstmord war?», fragte sie und wünschte sich in der nächsten Sekunde, diese Frage nicht gestellt zu haben, als sie Broglis Blick sah.

«Wer sagt das?», fragte er.

«Die Medien übertrumpfen sich mit Neuigkeiten.» Andrina versuchte sich möglichst locker zu geben.

«Diese Informationen stammen nicht von uns.» Broglis Verärgerung war deutlich.

«Es ist kein Selbstmord?»

«Das können wir weder ausschliessen noch bestätigen, solange die Obduktionsergebnisse ausstehen», sagte Brogli.

«Eine äussere Verletzung hat der Rechtsmediziner nicht festgestellt», ergänzte Wagner. «Wir müssen die Untersuchungsergebnisse der Körperflüssigkeiten abwarten, ob Drogen im Spiel waren», fuhr er fort. «Genauso testen wir auf Betäubungsmittel und Schlafmittel, obwohl die Spurensicherung keine Medikamente oder leeren Schachteln am Tatort gefunden hat.»

«Warum bindest du ihr das alles auf die Nase?», rief Brogli verärgert. «Diese Details muss sie nicht wissen.»

«Restliche Medikamente könnten bei ihm zu Hause sein», sagte Andrina, ohne auf Broglis Einwand einzugehen. Sie konzentrierte sich ganz auf Wagner. «Oder eine andere Möglichkeit: Er könnte die Medikamente mitgenommen, aber vorher die Packungen entsorgt haben, damit man die Schachteln nicht findet.»

«Ein interessanter Aspekt», sagte Wagner. «Das geht nur mit Pillen. Ich hoffe, unser Rechtsmediziner kann einen Befund liefern.»

«Wenn man zu Hause bei ihm Packungen findet …», fuhr Andrina fort.

«Dazu müssten wir erst einmal wissen, um wen es sich handelt.» Wagner schob Andrina ein Bild zu, das in einer Klarsichtmappe steckte. «Er hatte nichts dabei, was ihn identifizieren könnte.»

Widerwillig senkte Andrina den Kopf. Das Foto zeigte einen Mann mit kahl rasiertem Kopf bis zu den Schlüsselbeinen. Die Schulterpartie war muskulös. Seine Augen waren geschlossen, und es sah aus, als schliefe er. Allerdings passte die graue Gesichtsfarbe genauso wenig wie der Stahltisch, auf dem er lag, zu dem friedlichen Ersteindruck.

«Und?», fragte Wagner.

«Nie gesehen», brachte Andrina mühsam hervor. Inzwischen hatte sie einige Tote gesehen, aber ihr war es nicht gelungen, sich gegen das Entsetzen zu wappnen, das sie jedes Mal dabei empfand.

«Bist du sicher?»

Andrina musterte den Mann ein weiteres Mal. Sie musste Enrico recht geben. Der Mann musste Anfang bis Mitte dreissig sein. Allerdings konnte das täuschen.

«Es tut mir leid. Ich kann euch nicht weiterhelfen.»

***

«Ich kann euch gerne eine Offerte für die Reise machen», sagte Sarah.

Als Andrina das Polizeikommando verlassen hatte, hatte ihr Handy geklingelt. Enrico hatte sie gefragt, ob sie spontan in der Stadt abmachen könnten. Er habe eine Überraschung. Sie hatten sich bei der Stadtbibliothek getroffen, waren ein Stück den Graben entlangspaziert und hatten vor einem Reisebüro angehalten.

«Unsere Ferien im Herbst sind leider ins Wasser gefallen», hatte Enrico gesagt. «Es ist dringend Zeit, das nachzuholen.»

Zum einen hatte Andrinas Schwangerschaftsübelkeit nachgelassen, und ihr Bauch war noch nicht so gross, dass er sie in ihrem Alltag einschränkte. Zum anderen würden sie, wenn das Baby erst einmal da war, so schnell keine grosse Reise unternehmen, waren seine Argumente gewesen. Bevor Andrina einen Einwand erheben konnte, hatte er sie in das Reisebüro geschoben.

Die Reiseberaterin hatte sich als Sarah vorgestellt. «Wir duzen uns», hatte sie erklärt. «Ich hoffe, das ist in Ordnung.»

Sie war Andrina sofort sympathisch gewesen. Sie schätzte die Braunhaarige auf Anfang bis Mitte dreissig.

Auf die Frage, wohin es gehen sollte, hatte Enrico geantwortet, an einen Ort, an dem es um diese Jahreszeit angenehm warm, aber nicht zu heiss sei und der nicht allzu weit weg sei.

«Andrinas Zustand spricht gegen eine weite Reise von mehreren Stunden Flug», hatte Sarah gesagt. «Aber wir finden für euch sicher eine passende Destination.»

Sie waren verschiedene Destinationen durchgegangen und schliesslich bei den Kanarischen Inseln gelandet. Ein direkter Flug mit einer Dauer von circa fünf Stunden war für Andrina in Ordnung. Allerdings merkte sie an, im Januar eventuell keine Ferien nehmen zu können. Diesen Einwand wischte Enrico beiseite, als er die Kataloge durchblätterte. «Du hast deine Ferientage in diesem Jahr nicht ausgeschöpft.»

Vom Nachbartisch stand ein blonder Mann auf, der ihnen als Thomas vorgestellt worden war. «Kaffee, Tee oder Wasser?», fragte er und deutete auf seine Tasse.

«Nein danke», erwiderten Andrina und Enrico gleichzeitig.

«Für mich gerne einen Kaffee», sagte Sarah. «Was haltet ihr von zwei Inseln? Die Inseln liegen nicht weit auseinander, und die Flugzeit beträgt zum Beispiel von Teneriffa nach Lanzarote weniger als eine Stunde», wandte sie sich an Enrico und Andrina, als Thomas in einem Raum verschwunden war, in dem Andrina die Küche vermutete.

Während sie die Möglichkeiten durchgingen, musste Andrina einräumen, dass es anfing, ihr Spass zu machen. Sie entschieden sich für Lanzarote und Teneriffa.

«Kann ich das so buchen?», fragte Sarah.

«Ich muss es zuerst meiner Chefin beibringen. Aber sie wird bestimmt nichts dagegen haben.» Hoffentlich war das so. Andrina dachte an die Arbeitsflut, die gerade anfiel. «Ich melde mich morgen bei dir.»

«Das ist für mich gut so.» Sarah stand auf und kam um den Tisch herum. «Ihr habt euch eine schöne Reise ausgesucht.»

«Schön, dass es so kurzfristig klappt», sagte Enrico und reichte ihr die Hand.

«Ich würde am liebsten mitkommen, um dem ungemütlichen Wetter zu entkommen.»

Sie verabschiedeten sich. Als sie auf die Strasse traten, zog Andrina den Reissverschluss ihrer Jacke hoch. «Ich muss sagen, bei dem ungemütlichen Wetter freue ich mich auf die Wärme.»

Hand in Hand schlenderten sie den Graben entlang.

«Wie war es im Polizeikommando?», fragte Enrico, als sie durch den Kasinopark gingen.

«Herr Brogli und Max haben mir meine Aussage zum Unterschreiben gegeben. Ausserdem haben sie mir ein Foto vom Toten gezeigt. Ich kenne ihn nicht. Und wie war es bei dir?»

Andrina musterte ihn. Enrico hatte ihr gesagt, er werde im Laufe des Vormittags vorbeigehen.

«Haben sie dir ein Foto gezeigt?», fragte sie, als Enrico nicht antwortete.

«Ja.»

«Und?»

«Nach wie vor, ich kenne ihn nicht.» Andrina war über die Gereiztheit erstaunt, mit der er das sagte. Fragen brannten ihr auf der Zunge, aber sie hielt sie zurück. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Enrico Marco begegnet war, was wohl nicht erfreulich gewesen war.

Nebel im Aargau

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