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1991 - Rabea Akbar- Das Verhör

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Die folgenden Tage liefen alle ähnlich ab: Julie kümmerte sich rührend darum, dass er aß, trank und ansonsten schlief. Seine Proteste, dass er ihr nicht länger zur Last fallen wollte, wischte sie weg und so fügte er sich ihren Anweisungen. Er spürte, dass es um mehr als seine eigene Genesung ging, auch Julie schien es immer besser zu gehen, jetzt wo sie gebraucht wurde.

Den General sah er nicht.

Er hatte inzwischen von Julie erfahren, dass er an einem Montagnachmittag im Januar, wenig mehr als vier Wochen nach Claras Tod bei ihnen aufgetaucht war. Die folgenden fünf Tage war er in einer Art Koma gelegen. Laut dem sofort durch den General gerufenen Arzt verursacht durch völlige Erschöpfung. Nach Beendigung seiner Mission hatte der Körper einfach abgeschaltet.

Mittlerweile neigte sich der Januar dem Ende zu.

Wann immer das Wetter es erlaubte, ging Rayan in den schönen Garten. Aufgrund des milden Klimas wurde es, trotzdem die aktuelle Jahreszeit Winter war, selten kälter als 7-8 Grad und tagsüber erreichten die Temperaturen oft genug sogar 20 Grad.

Fast immer begleitete ihn Julie, wenn er nach draußen ging.

Sie sprachen nicht viel, meist saßen sie nur schweigend da.

Eine Woche nach seinem ersten Erwachen fragte Julie ihn: „Gibt es jemanden, dem wir sagen müssen, dass du hier bist? Deine Familie macht sich sicher Sorgen?!“ doch Rayan schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemanden.“ Und beide wussten, was er dachte und nicht laut aussprach: „Außer Clara gab es hier niemanden – er war wieder alleine.“

Am darauffolgenden Wochenende war der General zu Hause und er nutzte die Gelegenheit, dass Julie sich am Samstagnachmittag hinlegte, ein Gespräch mit Rayan zu suchen.

„ Yasin, versteh mich nicht falsch, das soll hier kein Verhör werden, aber ein paar Fragen musst du mir schon beantworten.“ Und als er sah, dass Rayans Blick sofort verschlossen wurde, fuhr er fort:

„Hör zu Junge, ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet, denn seit du hier bist, geht es meiner Frau wieder sehr viel besser. Du hast sie aus dem Loch gezogen, in das sie aufgrund Claras Tod gefallen war. Ich glaube nicht, dass mir das alleine gelungen wäre.

Aber ich bin kein gefühlsduseliger alter Mann, sondern leite hier eine militärische Einrichtung der amerikanischen Armee. Also bitte sei so gut!“

Es war keine Bitte, sondern ein Befehl.

Rayan seufzte tief: „Was wollen Sie wissen?“

In den nächsten Minuten antwortete er auf Jacks Fragen, so gut er es vermochte. Einen Teil der Umstände konnte Rayan tatsächlich nicht erklären, denn er hatte das Töten der Attentäter in einer Art Schockzustand oder Rausch erlebt. Andere Fragen wollte er schlichtweg nicht beantworten und sagte das auch deutlich. Zum Beispiel, wie viele Männer er getötet hatte und auf welche Weise.

Im Grunde war alles ganz einfach gewesen, erschreckend einfach. Er hatte auf der Straße gelebt. Den Menschen, die er dort traf und die das Schicksal der Straße mit ihm teilten, hatte er erzählt, er habe seinen Job bei der amerikanischen Armee hingeworfen, wäre einfach nicht mehr hingegangen, weil diese „dreckigen Amy-Schweine“ ihn arrogant behandelt und sogar geschlagen hätten, was zwar größtenteils nicht der Wahrheit entsprach, aber das war, was diese Menschen hören wollten. Zumindest war er nie geschlagen worden. Das hätte er sich auch niemals bieten lassen. Doch von den Leuten wurde es nur zu gerne geglaubt. Er ließ keine Gelegenheit aus, über die Soldaten zu schimpfen und zu fluchen. Das wenige Geld, das er sich durch seinen Job angespart hatte, teilte er brüderlich mit seinen neuen Bekannten, die sich über ein Essen und seine Freigebigkeit freuten.

Und bereits nach zwei Wochen wurde er von einem Mann angesprochen, der ihm Essen, ein Bad und eine Behausung versprach. Im Gegenzug wolle er Informationen.

Er gehörte zu der Gruppe, die die Anschläge plante, und wollte sich Rayans Insiderwissen zu Nutze machen. „Dieser Yasin hatte schließlich monatelang in der Kaserne gelebt.“

Anfangs war der Mann noch misstrauisch, doch es gelang Rayan so perfekt den Einfaltspinsel zu spielen, dass der Mann bald davon überzeugt war, dass von ihm keine Gefahr ausging.

Rayan war sich damals noch nicht bewusst, dass er für derlei Aktionen eine Begabung hatte. Genau diese Arbeit würde er später noch oft ausführen: Verdeckt ermitteln, sich mit allen Mitteln bis an die Zielpersonen heranarbeiten, um dann völlig unerwartet und tödlich zuzuschlagen.

Er ging zielstrebig vor und war sich für keinen Trick zu schade, um ans Ziel zu kommen. Da er keinerlei schlechtes Gewissen hatte, konnte er völlig überzeugend agieren.

So vergingen fast zwei weitere Wochen, bis Rayan sich sicher war, dass er genug erfahren hatte und alle Mitglieder der Gruppe kannte.

Dann fing er an, sie zu töten. Einen nach dem anderen. Es gelang ihm, fünf von zehn Personen aus dem Weg zu schaffen. Er musste noch nicht einmal die Leichen beseitigen, das erledigte die Gruppe für ihn, da sie befürchtete über die Toten identifiziert werden zu können.

Sie verdächtigten zunächst die Amerikaner, dann sich selbst untereinander und erst ganz am Ende, als Rayan es mit den letzten fünf Personen gleichzeitig aufnahm, bemerkten sie ihren Irrtum. Der völlig dumme, verlauste Wüstenfreak, wie sie ihn nannten, wurde zu ihrem Verhängnis.

Wie schon viele Male vorher kam er in das Haus.

Den Ersten packte er von hinten und brach ihm kurzerhand das Genick, dann traf den Zweiten, der sich über die Geräusche wunderte, beim Eintreten in das Zimmer auch schon das von Rayan geworfene Messer im Hals und er brach zusammen, bevor er seine Freunde im Nebenzimmer warnen konnte.

Zwei weitere Männer erschoss er mit der schallgedämpften Pistole eines der Toten, lediglich der Letzte hatte eine Chance und die beiden lieferten sich einen erbitterten Kampf, den Rayan schließlich für sich entschied. Er schlug den Mann bewusstlos und schnitt ihm dann mit einer schnellen Bewegung die Kehle durch.

Er glühte durch seinen Hass so sehr, dass ihn nichts stoppen konnte. Claras halb verbrannter, sterbender Körper setzte eine Energie in ihm frei, der die Männer nichts entgegen zu setzten hatten.

„Yasin?“ Die Stimme des Generals holte ihn in die Gegenwart zurück. Er hatte Rayans Gesicht angesehen, dass er die ganze Geschichte noch einmal durchlebte und riss ihn daher aus diesen grausamen Erinnerungen.

Auf die Frage, ob er nun Gewissensbisse hätte, antwortete Rayan wahrheitsgetreu und mit ruhiger Stimme: „Nein, sie waren Abschaum und hatten den Tod verdient.“

Was den General dazu veranlasste, ihn wortlos einige Minuten lang zu studieren.

„Du bist ein eigenartiger Mensch und ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich dir trauen kann. Ich spüre, dass du mir nicht alles sagst.“

Doch Rayan konterte mit einer Gegenfrage: „Tut es Ihnen denn leid, dass sie tot sind?“

Und Jack antwortete ebenso direkt: „Als Vater? Keine Sekunde! – als General? Ja manchmal, denn ich hätte sie gerne befragt, was sie zu diesen Taten bewogen hat.“

Und Rayan lachte hart auf: „Die hätten ihnen nichts verraten. Kein Wort. Da hätten Sie sie schon zu Tode foltern müssen.“

Der General überlegte einen Moment lang: „Ja, da magst du sogar recht haben“, seufzte er, nur um dann blitzschnell und knallhart hinterher zu setzen: „Wer hat dich so zugerichtet?“ Beide wussten, dass er von Rayans Rücken sprach. Jack hatte gehofft, den Jungen zu überraschen und so zu einer Antwort zu bewegen.

Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und antwortete mit ironischem Ton: „Also doch ein Verhör, was? Viele harmlose Fragen, um dann die eigentlich Relevante abzufeuern. Nette Taktik, aber leider vergebens – denn das geht Sie absolut nichts an.“

Nun war es am General aufzulachen: „Für dein Alter bist du ganz schön dreist zu einem alten Mann wie mir. Ehrlich gesagt hab ich auch nie wirklich damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen.“

„Du hast meiner Frau gesagt, dass deine Familie tot ist? Stimmt das?“

„Genau so habe ich es nicht gesagt, aber es trifft trotzdem ins Schwarze“, konterte Rayan wieder. Langsam begann er, Spaß am Schlagabtausch zu finden.

„Nun habe ich eine Frage“, fragte er dann kälter als er eigentlich beabsichtigte: „Wie Sie richtig sagen, tut es Ihrer Frau offenbar gut, dass ich hier bin – aber wie machen wir jetzt weiter?“

Wieder seufzte der General. „Ich mag deine direkte Art. Und ich will genauso ehrlich zu dir sein: Eigentlich müsste ich dich sofort rausschmeißen. Du tauchst hier unter äußerst beunruhigenden Bedingungen auf und wenn es stimmt, was du behauptet hast – was ich dir übrigens glaube - hast du mehrere Menschenleben auf dem Gewissen. Was du weder leugnest, noch bereust.

Du erzählst nichts, absolut gar nichts über deine Familie und dein Rücken ist fürchterlich entstellt, als hätte dich jemand gefoltert, aber auch darüber erzählst du nichts. Richtig soweit?!“ Er sah Rayan prüfend an.

Der grinste ihn frech an und meinte: „Klar – nur immer weiter.“ Was dem General ein Stirnrunzeln abverlangte. Er atmete tief aus: „Ich weiß noch nicht einmal, ob dein Name wirklich Yasin ist, denn Papiere hast du auch keine …“

„Oh, jetzt wird es interessant, Sie haben also meine Sachen durchsucht. Gehe ich richtig in der Vermutung, dass es sich dabei nicht nur um meine paar Habseligkeiten hier handelt, sondern auch um die, die ich im Camp zurückgelassen habe?“

Der General biss sich auf die Lippe, so genau hatte er das eigentlich nicht herauslassen wollen, aber dieser Yasin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. „Deine Sachen sind hier, ich hab sie rüberbringen lassen. Die wollten sie dort eh wegwerfen …“

Er gab sich einen Ruck und fuhr fort: „Also hör zu: Meine Tochter hat dir vertraut. Vielleicht werde ich es ja später einmal bereuen, aber ich habe beschlossen, wenn meine Tochter dir vertrauen konnte, dann kann ich es auch. Du wirst mich und Julie schon nicht im Schlaf ermorden.“ Er lachte wieder trocken auf.

„Hier ist mein Angebot: Du bleibst erstmal hier. Das tut uns allen gut, denn auch mir geht es gut, wenn ich weiß, dass Julie eine Aufgabe hat.“ Er grinste kurz, denn er stellte sich seine Frau vor, wie sie dieser „Aufgabe“, nämlich dem Aufpäppeln von Yasin, nachging.

„Ich sorge dafür, dass du deinen Job im Camp wieder bekommst. Wie ich gehört habe, war der Sergeant recht enttäuscht, dass du so plötzlich weg warst. Ich erzähle denen einfach eine Geschichte nahe an der Wahrheit: dass du den Spezialauftrag von mir persönlich hattest, die Mörder meiner Tochter zu finden. Mehr muss keiner wissen.

Somit ist deine Abwesenheit entschuldigt und du brauchst keine Bestrafungen zu fürchten. Kannst aber trotzdem deinen Job wieder machen - wie klingt das?“

Rayan schaute plötzlich misstrauisch: „Warum sollten Sie das für mich tun wollen?“

Der General schüttelte mit dem Kopf. „Du hast in deinem Leben bisher wirklich noch nicht viele nette Menschen getroffen, was? Meine Tochter hat dich geliebt und dir vertraut. Schau nicht so entsetzt, ich weiß, dass es so war. Meine Frau mag dich und dein Hiersein hilft ihr aus ihrer Depression.“

Er hielt einen Moment lang inne.

„Und letztendlich hast du die Mörder meiner Tochter zur Strecke gebracht.“ Dieser eine Satz verriet mehr über seine Gefühle als das ganze Gespräch vorher.

Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Rayan. „Ok, wir haben eine Vereinbarung. Ich wohne hier und lasse mich von Ihrer Frau verhätscheln, dafür schneide ich Ihnen NICHT die Kehle durch.“ Er grinste breit.

Der General runzelte wieder die Brauen, dann schien ihm noch etwas einzufallen:

„Eine letzte Frage hätte ich noch, vielleicht kannst du mir die wenigstens beantworten: Was für eine Tätowierung ist das, die du auf deiner Brust hast?“

Rayan zögerte erst einen Moment, doch dann erwog er, dass ein wenig Information angebracht wäre, um seinen guten Willen zu zeigen: „Das ist das Wappen meiner Familie. Das Zeichen meines Geburtsorts.“

Der General nickte zufrieden. „Gut, ich danke dir für diese Information. Und eines noch: Ich kann damit leben, dass du mir nicht alles erzählt hast, aber ich werde es nie dulden, wenn du mich anlügst. Das mag ich nicht, denn ich bin von zu vielen Lügen im täglichen Leben umgeben.“

Nun nickte Rayan. „Das kann ich versprechen!“

Beide reichten sich die Hände, drückten fest zu und sahen sich einige Sekunden lang direkt in die Augen. Fast, als würden sie einen Pakt besiegeln.

Und so kam Rayan zu einer sauberen Unterkunft im Gästezimmer der Tanners und erhielt seinen alten Job zurück.

Auch die Soldaten im Camp behandelten ihn nun besser und mit einer gewissen Rücksicht, wussten sie doch, dass er einen guten Draht zu ihrem General hatte.

Rayan - Sohn der Wüste

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