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Am Tag davor

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Das monotone Rattern der Räder verbreitete eine beklemmende Lethargie in dem viel zu engen Abteil des Expresszuges, der zügig von Holland gegen Süden strebte. Eine drückende Atmosphäre, verstärkt durch das Grollen des Donners in immer kürzeren Abständen. Am Himmel ballten sich riesige Wolkenmassen zusammen, drohten sich jeden Moment über die vorbeirasende Landschaft zu ergießen.

Zeitig am Morgen hatte Eduard Behring den Romexpress bestiegen, um seine neue Arbeitsstelle in Österreich zu erreichen. Innsbruck oder Reutte. Zwei gewählte Möglichkeiten aus einem Wust von Stellenangeboten.

Bei dem Gedanken an Mutters letzte Worte lächelte er unvermittelt. Bub, bist du völlig durchgeknallt, fährst da hinunter zu den Russen!

Für die älteren Menschen im Norden Deutschlands, denen der Schreck des Krieges auch nach Jahren noch in den Knochen steckte, war Österreich gleichzusetzen mit dem tiefsten Balkan - also Russland.

Mutter Behring hatte vor wenigen Tagen den Hörer aufgelegt und bitterlich geschluchzt. Ein schmerzliches Sehnen drängte den abtrünnigen Sohn, die verzweifelte Frau innig an sein Herz zu drücken. Er würde einen langen, ausführlichen Brief schreiben.

Eduard sah die entsetzten Augen seiner Haushälterin vor sich. Seit über einem Jahr regelte die gute Frau zweimal die Woche, mit Engelsgeduld sein häusliches Chaos. Eine Perle.

„Jesus Maria, Herr Eduard. Das können sie doch nicht machen. So Heut auf Morgen alles hinschmeißen. Die ungewisse Zukunft. Ein fremdes Land. Fremde Menschen!“ Händeringend war sie in der kleinen Wohnung herumgerannt. Ein vergeblicher Versuch, mit mütterlicher Fürsorge dieses Hirngespinst aus seinem Kopf zu treiben.

„Sie kennen doch keinen Menschen da unten. Und die Sprache! Womöglich können sie sich mit diesen Leuten gar nicht richtig verständigen.“

„Sie haben doch auch unsere Sprache perfekt gelernt Frau Novak“, hatte er gelacht. Die gute Frau war Tschechin, vor vielen Jahren mit ihrem Mann aus der Heimat geflüchtet. In Deutschland hatte sie tapfer gegen Vorurteile angekämpft und wurde glücklich. Der leicht böhmische Akzent rang ihm oft ein Lächeln ab. Ihren kleinen Sohn hatte sie als Dreijährigen verloren. Vor langer Zeit.

„Ich mag sie so gern, Herr Eduard. Sie sind mir ans Herz gewachsen, als wären sie mein eigenes Kind. Oh Gott, den Trennungsschmerz werde ich nicht verkraften. Man könnte glauben sie rennen vor irgendetwas davon!“

Tu ich ja auch, wollte er antworten. Hatte es aber dann doch nicht getan. Verzagt hatte Frau Novak seine Habseligkeiten in die Koffer geschlichtet.

„Die frisch gebügelten Hemden. Alles wird wieder zerknittert sein, wenn sie dort ankommen.“ Aufgeregt war sie herumgeflattert, konnte sich kaum beruhigen.

„Ich schreibe auch bestimmt sofort eine Karte. Ich schaffe das ganz bestimmt.“ Er hatte die rundliche Frau zärtlich umarmt, einen Kuss auf die Wange gedrückt. Tränen kollerten über ihre vollen Backen. Ein herzzerreißender Seufzer zum Abschied.

„Gott befohlen, junger Herr, und alles Glück der Welt!“ Ihre letzten Worte hatten gut getan.

Eine Pappelallee am Horizont. Gefährliche Lanzen. Eine Phalanx gegen die unbändige Naturgewalt. Furcht einflößend. Belächelt von der Allmacht des göttlichen Willens. Das Brausen, Stöhnen, Dröhnen und Rollen schwoll zu einer disharmonischen Symphonie an. Crescendo, Forte, Fortissimo!

Mit Paukenwirbel und Tschinellegeschmetter brach die schwarze Hülle auseinander. Kugelhagel prasselte auf das Zugdach. Sintflutartige Bäche schwappten über angelaufene Scheiben. Aufgrellende Blitze. Für Bruchteile von Sekunden war die Düsternis erhellt.

Unbeirrt raste der Zug weiter. Ein mühseliger Versuch dem verderblichen Schicksal zu entfliehen. Wie Zündhölzer brausten Strommasten vorbei. Zischende Luftböen in der angespannten Stille. Das Gefährt hetzte in gleichmäßigem Rhythmus von Bahnschwelle zu Bahnschwelle. Ein Tunnel. Schlagartig verstummte der Trommelwirbel.

Die westfälische Landschaft, satte Weiden blieben in dichten Nebelschwaden zurück. Wiesen, die sich in Windeseile zu endlosen Seen wandelten, lagen hinter ihnen.

Der Zug flutschte durch die dunkle Röhre ans Tageslicht. Die Welt war verändert. An den Scheiben zerplatzten dicke Tropfen. Das Dröhnen flaute in Sekundenschnelle ab. Feierliche Stille, nur die regelmäßigen Stöße der Achsen.

Jetzt war der Himmel blau, mit hellen, pfützenähnlichen Wolkenfetzen bekleckert. Vom Horizont spannte sich ein prächtiger Regenbogen bis zu den Gleisen. Triumphierendes Pfeifen und Schnalzen. Nach Süden, immer weiter, immer weiter nach Süden.

Zu fünft saßen sie im Abteil. Unterschiedlich an Alter, Geschlecht und Aussehen. Ein fettleibiges männliches Ungetüm schnaufte in der linken hinteren Ecke. Ein Walross, nicht nur an Umfang. Ein zerrupfter Schnauzer wölbte sich über wulstige Lippen, verdeckte eine tiefe Hasenscharte.

Der rundlichen Bauersfrau gegenüber rutschte der voll gestopfte Proviantkorb vom Schoss. Wurstbrote und Äpfel kollerten zu Boden. Der Nachbar grunzte. Sein hochrotes Gesicht verzerrte sich unwillig. Die klebrige Brille glitt von der Nasenwurzel zur knolligen Spitze. Im letzten Moment fassten ungeschickte, verhornte Händen danach.

Beim Fenster saß ein junger Mann. Anfang, höchstens Mitte zwanzig. Üppiges, dunkelbraunes Haar fiel keck über die hohe Stirn. Der Rest lag zurückgekämmt über einem wohlgeformten Schädel. Graugrüne Augen fixierten starr einen undefinierbaren Punkt.

Schiefergrauer Anzug, makellos, nahtglatt. Eine etwas auffällige Weste aus rotem Baumwollstoff, mit eingewebten, silbernen Sternchen. Silberne Knöpfe. Die ebenso rote, mit silbernen Querstreifen durchwirkte Krawatte, korrekt zwei Daumenbreit geknotet. Socken in etwas dunklerem grau als die Hose. Auf Hochglanz poliertes Schuhwerk. Der Anzug war selbst gefertigt. Sein Meisterstück. Dementsprechend gab er sich, selbstbewusst und sicher.

So passend sich das Erscheinungsbild auch zusammenfügte, so unpassend schien es für diesen Anlass. Im Netz über ihm zusammengepfercht zwei große Koffer aus hellem Schweinsleder, eine prall gefüllte Reisetasche. Die Gepäcksstücke ließen eine länger dauernde Reise vermuten.

Ein heftiges Rucken des Zuges. Aus seinem Traum gerissen, hörte er plötzlich die Worte seiner Mitreisenden. Plattdeutsch. Ausdrucksweise und Tonart variierten unwesentlich. In jedem Ort des Münsterlandes wandelte sich der Dialekt geringfügig. Mit ihm änderten sich auch Gehabe und Mentalität der Menschen. Manche waren zurückhaltender als andere, wortkarger, stiller. Gesprächig oder überschwänglich war wohl kaum einer. Mit wenigen Worten kam man rasch auf den Punkt. Eine romantische Liebeserklärung zu formulieren lag nicht in der Wesensart der Westfalen. Trotzdem liebten sie.

Eduard Behring, der junge Mann mit dem eher unpassenden, doch perfekt passenden Anzug, saß schweigend inmitten der Gruppe. Feingliedrig dünnhäutige Hände ruhten kraftvoll auf der makellosen Bügelfalte. Die Schmachtlocke auf der ebenmäßigen Stirn verlieh ihm ein abenteuerliches Aussehen.

Auch er kam aus dem Norden, aus einem kleinen Städtchen an der holländischen Grenze. Die meisten Männer dieser Gegend waren Nachkommen der Wikinger. Eduards dunkler Haarschopf bildete eine löbliche Ausnahme. Sein hoher Wuchs, sein schmales, wohlgeformtes Gesicht, die breiten Schultern zeigten Rasse. Er war stolz Westfale zu sein, geboren im Frühling 1936, in einer verträumten Kleinstadt.

Wie nah noch an Kilometern, und doch schon so fern im Herzen.

„Die Heimat werde ich nie vergessen“, säuselte er kaum hörbar vor sich hin.

„Es ist an der Zeit die Geborgenheit abzustreifen, sich von der Familie zu lösen.“ Eine Tatsache, die die meisten seiner Landsleute als Sakrileg bezeichnet hätten.

In der vergangenen Nacht hatte er die Nabelschnur mit einem scharfen Schnitt durchtrennt. Jetzt war er auf der Flucht vor der Einberufung zur Bundeswehr.

Im Ernstfall würde er sein Herzblut für das Vaterland lassen. Er liebte seine Heimat. Den Humbug, dieses großkotzige Training zur Verteidigung wollte er einfach nicht mitmachen. Krieg führen ja, Krieg spielen bestimmt nicht.

Ein Entschluss, den er lange überdacht, alle Fürs und Wider erwogen hatte. Letztlich stand seine Entscheidung fest.

Ein Deserteur der deutschen Fahne, doch reinen Herzens.

Erkämpfte Träume

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