Читать книгу Erkämpfte Träume - Inge Elsing-Fitzinger - Страница 5
Drei Jahre später: Frühling 1 9 6 0 in Wien
ОглавлениеTheresa wickelte eine Locke ihrer Prachtmähne verträumt um den Finger. Melancholie lag in ihrem Blick, Sehnsucht und Zuversicht.
„Den Mut könnte man schon verlieren bei soviel Jugendwahn in der Modeszene“, sinnierte sie vor sich hin. „Sechzehnjährige drängen unermüdlich vorwärts. Da sehe ich mit meinen fast zweiundzwanzig Lenzen bisweilen ganz schön alt aus. Aber ich bin glücklich und das ist doch das Wichtigste.“
Die junge Frau strahlte von Innen. Liebe! Begeisterung für ihren Beruf! Ein Sehnen, mehr zu geben, als ihr gerade in letzter Zeit möglich gewesen war. Selbstverwirklichung, einen stets wiederkehrenden Traum umzusetzen.
Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. „Die Lockenpracht? Pure Berechnung? Bestimmt nicht“, klang ihre Stimme überzeugt. „Ich liebe meine langen Haare. Schon als Mädchen war ich stolz auf seine üppige Fülle“.
Mühevoll hatte einst die allzu strenge Frau Mama sie zu Zöpfen zusammengewürgt. Mutter hielt es für unschicklich und absolut unangebracht, mit wallender Mähne zur Schule oder zum Klavierunterricht zu gehen.
Unglücklich ließ Tess dieses Martyrium damals über sich ergehen, löste jedoch bei jeder sich bietenden Gelegenheit das quälende Geflecht auf. Die krausen Locken fielen dann schon bei der kleinsten Bewegung übermütig über Stirn und Nacken.
„Lass sie doch ihre herrlichen Haare offen tragen. Die meisten Mütter wären stolz, wenn ihre Töchter eine solche Mähne aufzuweisen hätten“, kam der verständnisvolle Einwand Papas öfters zaghaft durch. Doch leider hatte Papa im Hause Hofer nur die Funktion des zweiten Geigers. Um des lieben Friedens willen, wie er sich meist auszudrücken pflegte, und resigniert die Schultern hob. Gegen die Autorität seiner allgewaltigen Frau konnte und wollte er nicht ankämpfen.
Mittelmäßigkeit feierte Triumph. Risiken wurden gescheut. Durch jahrelange Knechtschaft mürbe gemacht, fungierte er als treusorgender Familienvater, plante das leibliche Wohl seiner Lieben. Zu Hause hielt er sich eher im Hintergrund. In gehobener Beamtenstelle zeigte er sich stets verständnisvoll und zuverlässig der kleinen Gruppe gegenüber, die er väterlich betreute.
„Wo sind nur meine Träume geblieben“, grübelte er oft. „Große, schöne Träume. Schauspielschule. Burgtheater. Filmstar. Große Karriere.“
Irgendwann einmal stand Leopold Hofer kurz davor, ein zukunftsträchtiges Engagement zu bekommen. Just in dem Augenblick hatte das Schicksal erbarmungslos zugeschlagen, ihm Mara über den Weg geschickt. Zielstrebig schaltete die junge Frau die Hirngespinste ihres Geliebten aus, verdonnerte ihn zu lebenslangem Staatsdienst. Als Lohn durfte er sie, die alles Beherrschende, zum Traualtar führen. So geschehen am 3. September l933. Ein denkwürdiger Tag im Leben des leider allzu schwachen, seelenguten Mannes.
Frau Mara Hofers Leben verlief in penetrant geregelten Bahnen. Tödlich langweilig, phlegmatisch, moralisierend, wie Tess bald herausfand. Trotz ständigem Lamento über Familie, Freunde und Bekannte, die sich mit unverschämter Selbstverständlichkeit regelmäßig bei ihr ein Stelldichein gaben, wurde kein Fest übersehen. Sie fühlte sich für die ganze Verwandtschaft verantwortlich. Ein Versäumnis wäre ihrer unmaßgeblichen Meinung nach, einem mittleren Weltuntergang gleichzusetzen gewesen.
In der geräumigen Küche prangte ein nicht zu übersehender, etwa vierzig Zentimeter langer Geburtstagskalender. Über und über voll gekritzelt mit roten, blauen, gelben und grünen Namen. Durch verschiedene Farben nach Wichtigkeit, wie Verwandtschaft, Freunde, Bekannte oder sonst wen, geordnet. Nicht zu vergessen, die in Schwarz geschriebenen, mit einem Kreuz und dem genauen Datum des jeweiligen Todesjahres versehenen. An solchen Tagen stand dann ein Bild des Onkels, der Tante oder eines Freundes im ersten Fach der Anrichte. Davor flackerte eine kleine Kerze.
Damals als Kind häufig belächelt, musste Theresa sich eingestehen: „Ich habe doch tatsächlich auch solch ein Ding an der Wand hängen. Zwar wesentlich kleiner, aber immerhin. Meine Aktionen und Sehnsüchte, ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum. Termine und Sessionen, Auftritte, Meetings“, stöhnte sie auf.
Das Telefon schrillte störend.
„Der Termin für die Modenschau wurde um zwei Stunden vorverlegt.“ Ein Keuchen in Intendant Möllers Stimme ließ sie das Schlimmste befürchten. „Tess, sie müssen um fünfzehn Uhr auf der Matte stehen, sonst gibt es eine Katastrophe.“
„Immer ich. Habt ihr denn kein anderes Zugpferd mehr.“ Den Termin im Kosmetikstudio konnte sie wieder einmal vergessen.
„Aber ich habe doch noch…“
„Es gibt nichts Wichtigeres. Sie sind vertraglich gebunden. Bitte Tess, machen sie mir das Leben doch nicht so schwer.“ Von wegen, dachte die gestresste Frau verbittert. Möller kreischte hektisch weiter.
„Außerdem fliegen sie für zwei Tage nach Mailand. Das habe ich heute Vormittag mit Belluzzi arrangiert. Die neue Kollektion ist fertig. Packen sie das Notwendigste zusammen. Ich bringe sie nach der Show persönlich zum Flughafen. Tschüss bis später. Ich kann mich doch auf sie verlassen?“ War das nun eine Frage, überlegte Tess leicht schockiert. Eher ein Befehl.
Wo blieb da noch Zeit für einen Gedanken an Tante Emmas Namenstag?
Mutters zweite Leidenschaft galt ausschließlich ihrer Wunschtochter. Mit diesem Kind stillte sie ihr Sehnen nach etwas, das ausschließlich ihr gehören sollte. Dem Etwas, das sie besitzen, formen, manipulieren konnte. Dem sie ihren Willen aufzwingen, es beherrschen wollte. Ihr Ehemann blieb meist zurückhaltend, um unnötigen Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen.
Leopold hatte seine eigene Lebensphilosophie, die er mit akribischem Eifer verfolgte. Quälte ihn das Weib zu sehr, verschwand er stillschweigend. Reichte das Nebenzimmer nicht aus, und verfolgten ihn ihre Sticheleien und zänkischen Beschimpfungen selbst bis auf das kleinste Örtchen der nicht allzu großen Wohnung, packte er Hut und Mantel, suchte Zuflucht bei Freunden aus vergangenen Jugendtagen. Häufig seufzte er schweren Herzens längst verlorenen Illusionen nach.
„Die liebenswerte, fröhliche Hansi! Einstmals Solotänzerin an der Staatsoper. Und der gutmütige Karl, mittlerweile ein begehrter Volksschauspieler“, träumte er. „Den Fritz mag ich am allerliebsten. Was für herrliche Witze erzählte er doch stets, ohne die Miene zu verziehen.
In ihrer Runde konnte er unbeschwert und herzlich lachen. Auch das ein oder andere Gläschen Wein durfte er sich genehmigen, ohne eine ätzende Rüge befürchten zu müssen. Manchmal durfte ihn Tess begleiten. Glücksmomente, von denen es nicht allzu viele zu Hause gab. Mutter fühlte sich unverstanden, verschmäht, und ließ dies auch alle hören, ob es sie interessierte oder nicht. Sie nervte mit bewundernswerter Ausdauer.
Ihr Kind, für sie von Anfang an klar, dass es nur ein Mädchen sein konnte, sollte alle unerfüllten Träume erfüllen, alle heimlich ersehnten Wünsche Wirklichkeit werden lassen. Sie imaginierte einen Homunkulus, geschaffen aus ihr, geformt von ihr, gelebt einzig nach ihrem Reglement.
Theresa war selbstverständlich ein Mädchen, auch ein Sonntagskind, wie gewünscht. Die erste Enttäuschung, die sie Mama gleich bei der Geburt bereitete, war ein Kranz kohlrabenschwarzer, etwa fünf Zentimeter langer Haare, anstatt der ersehnten blonden Löckchen. Nach etwa drei Monaten fielen auch diese, missmutig bereits akzeptierten schwarzen Borsten aus.
„Leopold, was soll ich nur machen“, kreischte die Frau einst panisch. „Das Kind sieht ja schrecklich aus. Ich werde noch verrückt. So kann ich den Wurm doch keinem Menschen zeigen.“ Ein erstickter Verzweiflungsschrei durchdrang die Wohnung. Tess strahlte als rosiger Skinhead in den Tag. Totale Panik seitens der Mutter, über Monate.
„Das Kind braucht unbedingt Ersatzhaare. Ich habe mich schon diesbezüglich erkundigt. Morgen wird eine Kinderperücke angeschafft. Koste es was es wolle.“ Diesen Irrsinn verhinderte Papa überraschender Weise.
Endlich, als Einjährige, sprossen Härchen als zarter Flaum, die sich, je länger sie wurden, in winzigen Ringellöckchen um das hübsche Gesicht legten. Selbstverständlich weißblond, wie gewünscht.
Stolz nahm Mutter die entzückten Vergleiche von Nachbarn und Bekannten entgegen, denen sie ihr wunderschönes Töchterchen nun präsentierte.
Häufig dehnte Mara ihre Einkäufe stundenlang aus, und hörte sich nicht satt an den Verzückungen der Leute, die sie traf.
Tess konnte sich des Gedankens nicht erwähren, Mutter hätte sie mit Freuden unter einen Glassturz gestellt, im Naturhistorischen Museum als Unikat bewundern lassen.
Dabei wäre mein einziger Wunsch nur etwas aufrichtige Liebe gewesen. Ein wenig Zärtlichkeit, Streicheleinheiten, eine innige Umarmung, Verständnis und später, ja später oft auch Nachsicht, sinnierte sie bisweilen.
Doch solcher Gefühle war die Mutter nicht fähig. Sie erwartete Perfektion. Wozu hätte sie sonst all die hübschen Kleidchen, Stiefelchen, Maschen und Rüschen, die sündteuren Geburtstagspartys finanziert? Ausgaben müssen sich schließlich lohnen.
Mit weißen Strumpfhosen, weißen Handschuhen und einem pastellfarbenen Schürzchen stand Tess oft sehnsüchtig vor der Sandkiste, beneidete ihre Altersgenossen. Im Gatsch planschten, Sandburgen bauen. Doch da war kein Erbarmen seitens der gestrengen Mama zu erwarten. Ein einziges Mal stürzte sie sich mit heroischem Mut mitten in das Kindergetümmel. Kurz darauf wurde sie unter Beschimpfungen und Ohrfeigen vom Spielplatz gezerrt. Soviel zur wunderbaren Kindheit.
Theresas sechster Geburtstag war gleichzeitig auch ihr erster Schultag. Freudige Erregung erfüllte das Kinderherz. Nun aber mussten beste schulische Leistungen erbracht werden.
Wenigsten diesbezüglich gab es keine nennenswerten Probleme, erinnerte sie sich. Aber Mutters krankhafter Ehrgeiz, aus ihr eine Nobelpreisträgerin zu machen, ein Hirngespinst. Lernen bis spät in die Nacht. Unzählige herausgerissene Seiten, wenn auch nur ein einziger Buchstabe etwas aus der Reihe tanzte. Ungerechte Prügel mit dem Kochlöffel oder dem Teppichklopfer. Völlig überflüssig, trotzdem nicht weniger schmerzhaft.
„Wenn du dich weiter so renitent anstellst, du undankbarer Fratz, kommst du ins Internat, das verspreche ich dir.“ Sie hörte Mutters schrille Stimme, als stünde sie neben ihr.
Tess wurde immer aufmumpfiger, begann sich vehement den felsenharten Maßstäben der ehrgeizigen Mutter zu widersetzen. Fazit: Internat. Klosterschule. Papas schwache Gegenargumente wurden völlig ignoriert.
So kniete Theresa tagaus, tagein um sechs Uhr morgens in der Klosterkapelle, leierte inbrünstig Gebete und Bitten herunter, in der Hoffnung ein Gott hätte Erbarmen. Doch da war scheinbar auch wenig Verständnis zu erwarten. Es tat sich einfach nichts, was in irgendeiner Form ihren Wünschen entsprochen hätte. Fromme Sprüche ballten sich zentnerschwer auf das gemarterte Kinderherz.
Irgendwann kam für kurze Zeit der Wunsch auf Ordensfrau zu werden und Medizin zu studieren. Albert Schweizer war in aller Munde, fand auch den Weg hinter die meterhohen Steinmauern des Klosters. Theresa, wie sie nun allerorts genannt wurde, wollte als Missionsärztin nach Afrika.
„Schaut doch nur, diese armen, niedlichen Heidenkinder. Denen will ich unbedingt helfen. Das kann doch nicht allzu schwer sein.“ Triumphierend hatte sie damals stapelweise Bilder in der Runde geschwenkt, die die frommen Frauen ihr mit Begeisterung schenkten. Sie wollte den Ärmsten der Armen Glück und Frieden bringen.
„Außerdem haben die Schwestern so wunderschöne, wallende Kleider an.“ Eine Feststellung, die selbst Papa nicht widerlegen konnte.
Tess betete also fleißig weiter, lernte seitenweise Bibelsprüche auswendig, und wurde bald eine hoffnungsvolle Anwärterin.
Mit wachsender Besorgnis beobachtete Papa den Wandel seines geliebten Kindes, und begann nun doch systematisch dagegen anzukämpfen.
Eines Tages, es war an Theresas vierzehntem Geburtstag, fasste er sich ein Herz, überhörte alle Protestrufe der frommen Frau Mama, beschloss seine einzige Tochter aus dem Internat zu nehmen, um sie vor dem „drohenden Klosterleben“ zu bewahren.
„Hast du dir eigentlich schon einmal ernstlich Gedanken über deine Zukunft gemacht?“, fragte der fürsorgliche Vater nach einer ungemütlichen Jause mit diversen Onkeln und Tanten, die alle gekommen waren, um nach dem Seelenheil des jungen Mädchens zu sehen.
„Du hast doch so gerne deinen Puppen neue Kleidchen genäht, und dich dabei äußerst geschickt angestellt. Möchtest du nicht auf eine höhere Schule gehen, wo du alles über Schneiderei, Mode und Design lernen könntest?
Erstaunt hatte ihn Tess angeblickt. Zweifelnd, ratlos. Die einseitige Erziehung im Kloster hatte sie völlig vergessen lassen, dass es auf der Welt auch noch andere Dinge, andere Berufe, andere Maßstäbe gab, die es lohnte zu bedenken.
„Nächsten Donnerstag fahre ich mit dir in die Modeschule Hetzendorf. Die Frau Direktor hat uns freundlicher Weise eine Sonderführung mit ausgiebigen Erklärungen und Hinweisen zugesichert. Eine zukunftsträchtige Branche“, fügte Vater mit Überzeugung hinzu.
Tess war begeistert. Spontan beschloss sie zu Beginn des nächsten Schuljahres dort einzutreten. Zum Geburtstag wünschte sie sich eine Nähmaschine.
Völlig aufgewühlt, streifte das Mädchen in den weiten Räumen der vielleicht künftigen Schule umher. Erinnerungen überwältigten sie.
Sie war etwa drei Jahre alt, als Mama eine Periode der Selbstverwirklichung hatte. Modistin. Den Beruf hatte sie einst erlernt. Diese verrückten, untragbaren Hüte, die Mama in dieser Zeit auf ihrem Kopf herumschleppte, in der tiefsten Überzeugung die Schönste zu sein. Obstkörbe, dann wieder Vogelnester oder Blätterranken in Herbsttönen. Entsetzlich kitschig aber sehr spaßig.
„Ich habe mir damals wirklich alle Mühe gegeben, diese guten Stücke auseinander zu nehmen“, lachte sie herzlich auf. „Was für ein Spaß, an ihnen herumzuschnippeln, oder das schrecklichste Ereignis; eines dieser einmaligen Modelle in den Ofen zu stecken, wo es ein Raub der Flammen wurde.“
Erbarmungslos prügelte Mutter mit dem Teppichklopfer damals auf sie ein, kreischte hysterisch. Sie war wirklich bitterböse. Ein Schauer überlief sie heute noch.
Tess hatte zu dieser Zeit täglich viele Stunden bei den drei Buresch – Schwestern verbracht. Die unverheirateten Damen wohnten auf der gleichen Etage. Sie führten einen seriösen Schneidersalon, und gaben den perfekten Babysitter ab. Liebevoll umhegten sie den kleinen Spatz mit allem nur Erdenklichen. Hier fühlte das Kind, bislang erdrückt von kühler Zuwendung, das erste Mal aufrichtige Zärtlichkeit. Ausgehungert nach Liebe und Verständnis, hineingepresst in das Wunschschema einer unbefriedigten, egozentrischen Frau, empfand sie Wärme, Verständnis und Geduld als himmlische Wohltat.
Tante Willy, die älteste, riesengroß und ziemlich beleibt, mit lustigen Grübchen in den Wangen. Richtige kleine Löcher, weil sie immer lächelte. Sie sorgte souverän für das leibliche Wohl des Frauenhaushaltes.
„Die köstlichen Kuchen und die vielen kleinen Überraschungen“, seufzte Tess nachdenklich. Manchmal tauschte Tante Willy das große Transchiermesser mit der überdimensionalen Zuschneidschere, und half Tante Fini, der Meisterin, die schönen Stoffe in Teile zu zerlegen. Tante Mia nähte diese geschickt zusammen. Im Nu zierte ein neues Teil die Kleiderpuppe. Fröhlichkeit breitete sich auf Tess Gesicht aus bei den Gedanken an längst verflossene Tage.
Frau Wunderlich, wie Tess die wundersame, armlose Lady liebevoll nannte, hatte tatsächlich fast jeden Tag ein neues, und immer schöneres Kleid an.
„Und erst die Schatzkiste unter dem riesigen Tisch. Die bunten Stofffetzchen, aus denen ich so hübsche Kleidchen gebastelt habe. Meine ersten Kreationen“, murmelte sie verklärt.
Tante Fini war wirklich ziemlich dürr, erinnerte sie sich. Aber so geduldig. Sie half mir immer. Da ein Säumchen, dort ein Rüschchen. Meine Puppe Helga wurde mal zur Sportlerin, mal zur eleganten Dame, je nach Farbe und Modell. Zu meinem vierten Geburtstag, das herrliche Puppenballkleid, von Tante Mia persönlich genäht. Rosaroter Satin und ein prächtige Perlengürtel. Ein alter Rosenkranz. Eine heroische Opfergabe von Tante Willy.
Selbstverständlich kam auch Tessy nicht zu kurz. Aus verbliebenen Stoffresten fertigten die Damen immer wieder neue Blusen, Röcke oder Kleider für das rasch heranwachsende Mädchen an.
An diese wunderbare Zeit erinnerte sich Theresa jetzt, als sie durch die Klassenräume der Schule schritt. Ihr Herz vollführte Luftsprünge, und sie fiel Papa um den Hals.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, Vati. Das war die beste Idee, die du jemals hattest. Ich werde dir auch keine Schande machen. Nie sollst du von deiner Tochter enttäuscht werden. Ich schwörs!“
Mutter Hofer stand den jüngsten Hirngespinsten reichlich skeptisch gegenüber. Die Euphorie der Tochter ließ sich nicht mehr bremsen.
Damals schwor sich Theresa; sollte sie einmal eigene Kinder haben, diese eher zu fördern als fordern, ihnen alle Toleranz der Welt zukommen zu lassen. Sie würde keine jener Mütter sein, deren Kinder das erreichen sollten, was sie selbst nie geschafft haben. Sie wollte ihnen mit Verständnis und Großzügigkeit begegnen, nie in ein Wunschschema pressen. Ein Vorsatz, geformt aus Entbehrtem, Ersehntem, unerfüllten Kindheitsträumen.
Jetzt redete ihr schon lange niemand mehr drein. Theresa war selbständig geworden, verdiente ihr eigenes Geld. Ihre Persönlichkeit formte sich aus Erfahrungen, guten und weniger guten, hilfreichen und warnenden.
„Nun ist mein Leben ein Traum!“ Tess sagte es ganz nüchtern, und es hörte sich kein bisschen kitschig an.
„Ich tue das, was ich immer schon wollte, seit ich ein kleines Mädchen war: ich zeichne Modelle, führe sie vor und habe Erfolg.“
Ein Lächeln lag auf ihren ebenmäßigen Zügen, tanzte in ihren Augen. Der offene Blick, der relaxte Sexappeal einer Frau, die wusste wie ihr Weg zu verlaufen hatte. Sie fühlte sich erwachsen und zufrieden. Abgesehen von den immer wieder auftretenden Störfaktoren, die sich unverschämt und penetrant einzuschleichen drohten.
Als junges Mädchen wollte sie immer älter aussehen und setzte auch alles daran, dies mit Lippenstift und Wimperntusche zu realisieren. Ihr erstes Erfolgserlebnis, mit vierzehn. Die dick bebrillte Billeteuse im Haydnkino auf der Mariahilferstraße ließ sie anstandslos passieren.
Denn sie wissen nicht was sie tun, d e r Film, den man gesehen haben musste um IN zu sein. James Dean, Schwarm aller Mädchenherzen, rührte zu Tränen, verursachte schlaflose Nächte. Man fühlte sich
s o erwachsen.
Heute dachte sie nicht im Traum mehr daran ihr Alter zu kaschieren, obwohl die Konkurrenz mitleidslos jeden Monat ihres Lebensalters unter die Lupe nahm, die nachstrebenden Models immer jünger wurden.
Sie hatte Erfolg, war gut im Geschäft. Eine Tatsache, die auch ein forschender Blick in die glänzende, feindselige Scheibe über der Frisierkommode nicht in Abrede stellen konnte. Wozu auch, ihr Spiegelbild trickste die Geburtsurkunde absolut aus. Sie kannte das Geheimrezept: Ich werde geliebt!
In den letzten Jahren gab es einige Gefährten, mit denen sie mal kürzer mal länger Tisch und Bett teilte. Affären, die sie meist nicht sonderlich tief greifend berührten. Fast immer wurden diese Herren nach dem einen oder anderen Fauxpas kurzerhand entsorgt. Diese Aktionen verliefen ohne größeren Aufwand. Mann packte freiwillig (oder auch unfreiwillig) Klamotten und Zahnbürste ein, verließ mal verlegen lächelnd, mal überheblich grinsend, die gastliche Stätte.
Standhaft hatte sie sich gewehrt eine feste Bindung einzugehen, lehnte charmant doch entschieden Annäherungsversuche diverser Verehrer ab, konzentrierte sich auf ihre Karriere. Mit bestem Ergebnis.
„Mein Terminkalender platzt aus allen Nähten. Mein Bankkonto weist absolut zufrieden stellende Bilanzen auf.“ – Bis da vor einem Monat Wolfram Pall auf der Bildfläche erschien.
Das erste Mal in ihrem Leben war sie bereit Termine abzusagen, eine Photosession abzulehnen, auf einen Urlaub zu bestehen, der ihr drei glückliche Tage mit diesem attraktiven Mann bescheren sollte.
Scherzend liebäugelte sie mit dem ersten Rendezvous, nahm lächelnd die händeringenden Rügen ihres Managers entgegen. Überzeugt warf sie sich hinein in diese Achterbahn der großen Gefühle, für die es nun seelisch und realistisch einen Platz zu finden galt. Sie balancierte über ein Minenfeld der Nicht-Akzeptanz mit traumwandlerischer Sicherheit in erhabenem Glücksrausch.
„Wolfram wird mein Leben von Grund auf verändern.“ Alles Bisherige verblasste vor dieser wunderbar rosig scheinenden Zukunft.
Vater war der Erste, dem sie von ihrem umwerfenden Lover erzählte.
„Du machst das schon richtig, mein kleines Mädchen. Folge nur deinem Herzen, und lasse dich nicht beirren. Das wahre Glück kommt selten. Wenn es dich dann trifft, musst du zugreifen, darfst es nicht mehr loslassen. Doch überlege sorgsam, mein Kind. Sich halbherzig auf eine Beziehung einzulassen, nur, um nicht allein zu sein, ist pure Zeitverschwendung.“
Diese plötzlich völlig fremden, überwältigenden Regungen verwirrten, befremdeten die junge Frau. Es gab Momente in denen sie sich feige in ihr Schneckenhaus zurückzog, aus Angst ihr Herz zu riskieren. Doch dann stand Wolfram wieder vor ihr, der kühne Ritter. Er brachte sie zum Strahlen, wie einen kostbaren Solitär, der nur in den Händen eines echten Könners wahres Feuer entwickelt.
Gleich beim zweiten Zusammentreffen hatte sie ihren erotischen Nachholbedarf zur vollsten Zufriedenheit gedeckt. Beide verloren sich in einem wirren Strudel der Leidenschaft, liebten einander bis an ihre Grenzen.
Bereits mit sechzehn verdiente Theresa ihr Taschengeld selbst, als Model. Die Schlussvorführung der während des Schuljahres gefertigten Entwürfe und Modelle, die die Mädchen mit Stolz und Selbstbewusstsein zeigten.
Tess hatte ihr Bestes gegeben. Eine mehr als gewagte Kreation, die deutlich aus dem streng vorgegebenen Rahmen fiel. Mit Charme und Geschick überzeugte sie die Professoren von der Güte des Produktes. Wenig später tänzelte sie mit nahezu professioneller Nonchalance über den Laufsteg. Im Herzen Zuversicht, im Gesicht ihr schönstes Lächeln. Neidisch beobachtet von den Klassenkameradinnen, bekrittelt von mehreren älteren Herrschaften, enthusiastisch beklatscht von einigen Modephotographen, die sich alljährlich zu diesen Veranstaltungen der Modeschule Hetzendorf auf Nachwuchssuche begaben. Der Erfolg sprach für sich. Noch am gleichen Abend hatte sie einen provisorischen Vertrag in der Tasche.
„Fräulein Hofer, liebe Theresa, sie werden in den kommenden Wochen und Monaten einige Male pro Woche in verschiedenen Ateliers zu Aufnahmen erscheinen, werden auf Hausmodeschauen Modelle vorführen. Sind sie mit unseren Bedingung einverstanden.“ Wie himmlisch aufregend hatte das damals geklungen. Noble und Reiche von der Güte der gezeigten Produkte überzeugen, war ihr erster Auftrag. Viel hat sich daran eigentlich bis heute nicht geändert, stellte sie lakonisch fest.
Nach Abschluss der Meisterklasse, machte sie ihr Hobby zur Profession. Ein Knochenjob, der ihr bisweilen alle Kraft und Stärke abverlangte, sie manchmal an die Grenzen des zu Ertragenden führte. Beseelt von gnadenlosem Ehrgeiz kämpfte sie unermüdlich weiter, stieg die steile Treppe mit Grazie und Selbstdisziplin Stufe um Stufe höher.
„Hat sich doch gelohnt!“ Zufrieden blickte sie in den Spiegel. Ihr Spiegelbild nickte zurück. „Nun kannst du Anforderungen stellen, Kritiken äußern, und wirst allgemein geschätzt und geachtet. Dein Können, das profunde Fachwissen, die Kenntnis von Stoffqualität und Verarbeitungslabel bringt dir selbstverständlich große Vorteile.“ Stolz und Zufriedenheit hatte sich in diese Behauptung gemischt. Ihr Name war ein Begriff in der Szene.
Sie hatte mehrere Angebote namhafter Firmen als Designerin zu arbeiten. Man überbot sich mit Prämien und Geschenken, um sich ihre Gunst zu sichern.
„Im Augenblick balanciere ich auf einem schmalen Grat. Man erwartete eine rasche Antwort. Welches Angebot soll ich annehmen? Wie soll ich mich entscheiden, ohne den Rest der Werber für immer zu vergrämen? Tja, liebe Tess, jetzt ist guter Rat teuer“, sinnierte sie nachdenklich.
In diesem seelischen Konflikt, in dem weder Papa oder neidische Freunde, noch wohlwollende oder konkurrierende Kollegen Trost und Hilfe spenden konnten, erschien dieser Traummann.
„Seit ich Wolfram kenne, läuft mein Leben eigentlich recht stürmisch ab. Aber es ist wunderbar aufregend. Jetzt bestimmt e r endlich wo es lang geht.“
Plötzlich hatte sich alles verändert. Wolfram war Arzt. Dreizehn Jahre älter als sie. Eine Persönlichkeit, die sie voll und ganz einvernahmte, vom ersten Augenblick an. Ein betörender Liebhaber, charmant und überzeugend. Rührend herzlich, liebenswürdig, vertrauenserweckend und stark. Er würde sie durch alle Höhen und Tiefen lenken, mit sicherer Hand, mit Kraft und Seriosität. Sie fühlte sich unendlich geborgen an seiner Seite. Probleme lösten sich auf wie Sommernebel, verschwanden. Alles war klar und übersichtlich.