Читать книгу Erkämpfte Träume - Inge Elsing-Fitzinger - Страница 9

Frühling 1 9 6 0 in Wien

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Nun kannte Eduard seine Krista bereits mehr als sieben Monate, ging im Hause Kramer ein und aus, wann immer es seine Zeit erlaubte. Der ehrenwerten Familie wurde er stets mit Begeisterung als künftiger Schwiegersohn vorgestellt. Die anfängliche Schüchternheit seiner bezauberten Freundin wurde durch die tatkräftige Mithilfe der geschäftigen Frau Mama verscheucht.

Mama hatte seit kurzem verdächtig viel zu tun, wenn Eduard auf der Bildfläche erschien. Heimlich grinsend nahm er den wohlgemeinten Wink zur Kenntnis. So geschah, was da kommen musste. Die beiden jungen Leute gaben ihren natürlichen Liebestrieben bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit nach. Anfangs reichlich zaghaft, später mit hingebungsvoller Zärtlichkeit.

Eduard, als einigermaßen gewiefter Liebhaber, wusste wie er sich zu verhalten hatte, um nicht unnötige Probleme zu schaffen. Doch seine gekonnte Art, immer zur rechten Zeit beherrscht und bedacht die Liebensspiele zu unterbrechen, verletzten Krista. Planmäßig brach sie in Tränen aus.

Ihre Vorwürfe brachten ihn manchmal zur Raserei. Er wollte unbedingt sein Abendstudium beenden, um finanziell besser abgesichert zu sein.

„Immer denkst du nur an das blöde Geld. Wir schaffen das schon, wenn wir uns wirklich lieben.“

Eduard fand den Zeitpunkt absolut verfrüht. Verantwortung lag in all seinen Handlungen. Vor etwa zwei Monaten hatten die Tränen gesiegt. Eduard gab ihrem Drängen widerwillig nach. Ein nicht wieder gut zu machender Irrtum, wie er bald erkannte. Vor zwei Wochen strahlte Krista ihm die Glück bringende Hiobsbotschaft entgegen.

„Wir werden ein Baby bekommen, ach Ed, ich bin der glücklichste Mensch auf Gottes weiter Welt.“

Mama küsste und umarmte ihn. Gleichzeitig trompete sie ihm den Hochzeitstermin ins Ohr.

„Aus der Traum von der großen, weiten Welt, von unumschränkter Freiheit“, säuselte er verdrossen. Nun hieß es die Zähne zusammen beißen und durch. Eine Abtreibung wäre nicht einmal ansatzweise zur Debatte gestanden. Das Mädchen mit dem Kind sitzen zu lassen, ebenso wenig. Er musste sich seinem Schicksal fügen, den unvermeidlichen Schritt zum Traualtar wagen.

Wie würden die Damen reagieren, wenn er sich an diesem Samstag nicht blicken ließe. Im Geist hörte Eduard die bösartigen Bemerkungen der künftigen Schwiegermutter, sah die Tränen seiner Krista, kämpfte mit seinem schlechten Gewissen. Dennoch, zu dieser Modeschau im Auersperg musste er. Unbedingt.

Albert und Eduard durchquerten das Foyer des bezaubernden Auersperg – Palais. Ein kleines Juwel in mitten der mausgrauen Häuser Wiens. Eine wunderbare Luxuswelt. Riesige Spiegel reflektierten das Licht üppiger Kronleuchter. Dicke Teppiche verschluckten das Klappern der nadeldünnen Bleistiftabsätze illustrer Damen, die diskreten Komplimente eleganter Herren.

„Da trifft sich heute wohl die Crème de la Crème“, säuselte Albert begeistert, „genau der richtige Ort für uns!“ Größenwahnsinnig wie immer, dachte Ed. Im Augenblick empfand er eher Unbehagen.

Livrierte Diener reichten auf silbernen Tabletts Champagner. Albert griff sofort zu, leerte das prickelnde Nass in einem reichlich unvornehmen Zug bis zur Neige, langte sofort nach einem zweiten. Indigniertes Rümpfen der dienernden Knollnase.

„Na wenigstens lassen die uns nicht verdursten. Hoffentlich ist das Buffet auch so delikat ausgerichtet.“

„Reiß dich zusammen, du blamierst ja die ganze Innung“, flüsterte Ed verlegen.

„Kennt uns ja eh keiner, oder glaubst du die feinen Pinkel machen es anders. Schau dich um, jeder schlürft, um nicht zu sagen säuft, was das Zeug hält. Ist doch immer so, wenn’s was umsonst gibt. Außerdem kosten die Karten eine ganze Stange Geld, da muss so ein Tröpferl Champagner schon drin sein.“

Resigniert stellte Eduard sein Glas ab. Riesige Flügeltüren öffneten sich feierlich. Die Gäste wurden gebeten, einzutreten.

Der Laufsteg. Ein weinroter Teppich. Rundum kostbare Rokokostühle, mit malvenfarbenem Damast tapeziert. Die Gäste drängelten sich um die besten Plätze.

„Geh nur, ich halte mich lieber im Hintergrund. Außerdem kann man die Modelle im Stehen besser bewundern, als im sitzen. Mich interessieren ja nicht Schuhe und Nylons der Mannequins.“

„Na wenn du meinst, wir sehen uns dann beim Buffet“. Albert schwirrte ab.

Monsieur Adelmüller eröffnete das glamouröse Fest mit charmanten Worten. Sie sollten die Herren der Schöpfung daran erinnern, etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Eines, oder auch mehre der wunderbaren Modelle zu ordern. Ein reger Wettstreit der Geschlechter. Kein Mann würde sich lumpen lassen, keine Frau würde einer Rivalin gerade dieses, oder auch ein anderes prächtiges Stück gönnen.

Models von ausgesuchter Schönheit, blond und brünett, kurz geschnittenem und langem Haar, makellosen Körperformen, tänzelten in wunderbaren Roben aus Samt, Chiffon und Seide, Kostümen aus Kaschmir und Bouclé, in streng geschnittenem Nadelstreif über den roten Teppich, genossen die verzückten Ausrufe der Zuschauer.

Nach etwa zehn Minuten. Der freudigste Schock in Eds Leben. Weiche Knie. Das Herz schlug bis zum Hals. In seinem Kopf plötzlich nichts als Watte.

Die unbekannte Traumfrau, die ihm am Bahnhof in Innsbruck vor drei Jahren beinahe um den Verstand gebracht hatte, nächtelang in seinen Träumen gegenwärtig war, erschien auf der Bildfläche. Hinreißend, und noch hundert Mal schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Gebannt starrte er auf das wunderbare Wesen, verfolgte jede ihrer Wendungen, ihrer Schritte mit Verzückung, konnte sein unwahrscheinliches Glück kaum fassen.

Theresa Hofer gab sich verwegen, sehr verführerisch. Ein Ausdruck, der durch langes Training perfekt saß. Überraschungsmomente, seien sie nun glückshoch oder leidenstief, verwunderten nie. Ihre satten, mikroskopisch präzise gesetzten Pointen, ihre warmen, leuchtenden Bewegungen, dieses bestechende Gefühl für Tempo und Gelassenheit ihrer Schritte, ließen die Täuschung wirksam werden, dahinter stünde keinerlei Mühe und Anstrengung. Die Wonne der Bewunderung, die sie auslöste, steigerte sich bei ihren graziösen und dennoch exakten Drehungen und Schwüngen bis zu gebanntem Stillstand, zu angespannter Atemlosigkeit. Sie faszinierte das Publikum, machte es zu einem kongenialen, leidenschaftlichen Partner, der Verehrung und Beifall zollte.

Eduard war wie versteinert. Geschockt. Er schaffte es einfach nicht, die Hände zum Applaus zu heben. Unverwandt starrte er das himmlische Geschöpf an, und sah sie noch vor sich, als sie bereits wieder in den Kulissen verschwunden war. Er fieberte ihrem nächsten Auftritt entgegen.

Schenk mir nur einen einzigen Blick. Erkennst du mich wieder, holder Engel! Seine Phantasie schlug Kapriolen. Er musste sie wenigsten einen Moment lang sprechen, sie womöglich zu einem Treffen überreden.

Bereits in den 20er- und 30er- Jahren fertigten Chanel, Mainbocher und Molyneux aus dem Stoff, aus dem die Träume sind, Satin, Haute- Couture Abendkleider für Sterne und Sternchen der Film- und Modebranche. Dieses wunderbare Material wurde mit geradezu frappierender Regelmäßigkeit im zehn oder zwanzig Jahresrhythmus zum heiß begehrten Trend der Saison. Models im Rita Hayworthlook mit wallendem Blondhaar und beklemmend offenen Dekolletés tänzelten an Eds Augen vorüber. Sexy in Black, sprang es ihm ins Gedächtnis. Er lächelte, dachte wissend an „Gilda“, beim Handschuhstrip, war begeistert.

Das nächste Modell in Perlgrau, mit großer, einseitig über der rechten Schulter geraffter Schleife und wallendem Wasserfall, glockig über der hautengen Silhouette drapiert, verschlug ihm vollends den Atem.

„Diese himmlische Frau“, stöhnte er hingerissen.

In der Pause schwirrte er eher waghalsig als siegessicher zu den Garderoben, versuchte seine Fata Morgana zu erspähen. Sein charmantestes Lächeln, um nicht schwungvoll an seinen Platz zurückbefördert zu werden.

Jetzt stand sie vor ihm, in einen blassblauen Seidenmantel gehüllt, die Haare aufgesteckt, mit einem silbernen Kamm zusammengehalten - und lächelte. Ein blitzartiges, erstaunlich schnelles Geschehen, in dem sich innerhalb von Sekunden eine Beziehungsstruktur bildete, die ihr Schicksal bestimmte.

„Wir kennen uns, sagen sie rasch woher? Ich muss gleich wieder in die Umkleide.“

Ein erster bewusster Blick, ein kurzes Lächeln, ein bedeutungsvoller Augenaufschlag. Sekunden später stammelte Eduard, immer noch geblendet von ihrem meteorenhaften Aufstieg, verwirrt, atemlos gekeuchte Sätze, als hätte er eben einen Dreitausender erklommen.

„Innsbruck, vor drei Jahren. Sie sind mir damals davongefahren. Wie oft habe ich nach ihnen gesucht. Ich konnte sie einfach nicht vergessen. Und Heute dieser Glücksfall.“ Das Leuchten in ihren Augen bestätigte ihm, dass sie sich genau an die Situation erinnerte. Wenn zwischen zwei Menschen der Funke der Liebe überspringt, ist jede Unterhaltung zweitrangig – dient nur noch der Verlängerung dieses magischen Augenblicks.

Tess hatte sich schneller gefasst und strahlte ihm entgegen: „Wenn sie Lust haben, kommen sie anschließend mit uns in den Rathauskeller. Wir feiern dort noch ein wenig nach“.

„Kann ich nicht wenigsten zehn Minuten mit ihnen alleine sprechen. Ich möchte ihren Namen wissen, wie sie leben, einfach alles. Aber das geht weder hier zwischen Tür und Angel, noch im Trubel so vieler Menschen. Bitte, lassen sie mich ihnen heute nicht wieder vergeblich nachschauen. Ein zweites Mal würde ich es nicht überleben“, schmachtete Eduard.

„Gekonnt Burgtheaterreife Leistung, junger Mann“, grinste Theresa geschmeichelt. In eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, fühlte sie sich glücklich wie damals, vor langer Zeit.

Ihr war es kaum besser ergangen. Der Besuch bei Großmama in der Schweiz war von sehnsüchtigen Gedanken durchwoben. Jetzt war da ein seltsames Prickeln am ganzen Körper. Ein einziger Wunsch, ihm ganz nahe zu sein. Liebe auf den ersten Blick! Ihr privates Weltereignis. Einmalig. Wundervoll.

„Erwarten sie mich am hinteren Ausgang. Eine schmale grün gestrichene Türe, nicht zu verfehlen. Ich kann ja später zu meinen Freunden stoßen, und wir haben etwas Zeit unser Wiedersehen zu genießen.“

Träume ich, oder hat sie sich tatsächlich mit mir verabredet, jubelte Eduards Herz. Den Rest der Modeschau erlebte er in melancholischer Trance.

Tess ließ ihr Herz nicht so leicht von der Leine. Die Risiken waren ihr stets voll bewusst. Konflikte glaubte sie schon vor langer Zeit aus der Welt geschafft zu haben. Stets dachte sie klar: hier die überschaubare Unabhängigkeit, dort das Risiko, sich zu verlieren, zu verlieben.

Sie war ein Supermodel, ein Star. Ihre Frisur, ihr Styling wurde meist sofort zum Trend. Ich habe es geschafft, aus der Anonymität auszubrechen. Kaum eine Karriere dauert lang genug um sich Namen und Gesicht tatsächlich einzuprägen, überlegte sie bisweilen mit einem Hauch von Stolz.

Leidenschaftliche Flirts hatte man ihr angedichtet. Eine bestechende Affäre mit einem amerikanischen Milliardär. Auf seiner Yacht wollte man sie in Gesellschaft illustrer Gäste, Prinzen und anderer potenter Fröhner des Dolcefarnientes gesehen haben. Ein herrlicher Stoff, um öde Zeitungsblätter zu füllen.

Tess kommentierte dies meist lakonisch- amüsiert: „Mein Leben ist wohl so langweilig, dass man mich ständig verkuppeln will.“ Ihr prickelndes Lächeln hat die Reporter verwirrt, beinahe beschämt.

Als sie Eduard später gegenüberstand, hasste sie einen Augenblick lang die Unvorhersehbarkeit dieser Welt. Die Distanz, die tief empfundenes Glück vereitelte. Schon nach den ersten Sätzen konfrontierte sie ihn mit einer Tatsache, die ihm den Boden unter den Füssen wegzuziehen drohte.

„Ich werde in zwei Wochen heiraten. Mein künftiger Mann ist ein angesehner Chirurg, den ich bereits seit über einem Jahr kenne.“ Die Berichterstattung eines Reporters, dem der Sprachschatz abhanden gekommen war. Ohne Schnörkel, scheinbar ohne Gemütsbewegung. Eine Schutzvorrichtung, die den Traummann von vornherein daran hindern sollte, ihr seine Gefühle leidenschaftlich darzulegen, sie in eine seelenschwere Abhängigkeit hineinzumanövrieren. Sie hasste sich für die Sätze, die sie ihm nüchtern an den Kopf warf, hasste die verfahrene Situation, in die sie geschlittert war, aus der auszubrechen es nun zu spät war.

Um der Hoffnungslosigkeit die Krone aufzusetzen stammelte Eduard, er hätte vor wenigen Tagen erfahren, dass er Vater würde, und das Mädchen mit Sicherheit heiraten werde. Aus moralischen Gründen.

Ungläubig starrten sie einander an. Ihre Hände verkrampften sich, als wollten sie sich für immer festhalten. Dennoch fühlten beide, dass sich zwischen ihnen eine unüberbrückbare Kluft auftat, in die sie in unbewusster Verzweiflung stürzten.

Zwei Zeitebenen, die verschmolzen. Zwei Paare, ein Sehnen, dem nun auf unterschiedliche Weise nachgegeben werden musste. Die Natur des Verlangens, die überwältigende Intensität der Begierde – und dennoch schreckten beide davor zurück.

Romantische Schönheit, ein Ventil für rückhaltslose Emotionen, denen sich beide in ihrer abgeklärten Modernität nicht ausliefern wollten. Denn selbst wenn Körperlichkeit und Sexualität längst aller Schamhaftigkeit beraubt sind, das Herz bleibt scheu. So fanden sich zwei Seelen, wussten, dass sie für einander bestimmt waren, und ließen zu, sich wieder zu verlieren.

Ein Kuss der mehr sagte, als tausend Worte. Empfindungen die verwirrten, warnten, forderten gelebt zu werden, versanken im Morast der Konventionen. Verzweifelte Moral siegte über zwei Herzen. Ein Feuer war entfacht, ein Waldbrand loderte, drohte zwei vor Liebe verglühende Menschen zu verzehren.

Stundenlang irrte Eduard mit aufgewühltem Herzen durch Wien. Es hatte zu regnen begonnen. Er spürte nichts. Das Gespräch mit Theresa Hofer hatte ihn verwirrt, mutlos gemacht, in tiefe Unzufriedenheit gestürzt. Grausames, erbarmungsloses Schicksal!

Sie hatten sich verzweifelt umarmt, sich lautlos ihre Liebe geschworen und waren mit gesenkten Köpfen auseinander gegangen. Beide hatten das Gefühl, ihr Lebensglück in diesem Moment für immer verloren zu haben.

Eduard wälzte sich schlaflos in seinem Bett, flehte Albert an, ihn in Ruhe zu lassen, als dieser volltrunken durch die Wohnung stürmte. Tränen der Ratlosigkeit, Hilflosigkeit. Resignation pur. Er versuchte krampfhaft an andere Dinge zu denken.

Bilder aus seiner Kindheit, Jugenderlebnisse drängten sich auf, lenkten ab, trösteten. Wachträume übermannten ihn.

Die Behrings waren eine gut bürgerliche Familie. Rechtschaffene Menschen, die Gott dankten für Gesundheit und ihr täglich Brot.

Der Friede sollte nicht lange währen. Ein größenwahnsinniger Unhold hatte sich aus dem Volk erhoben, vermochte in seinem Wahn eine ganze Generation zu verhexen. Adolf Hitler.

All das mühevolle, mit dem Fleiß vieler Jahre von der Familie Erarbeitete, Geschaffte, war bei einem einzigen Bombenangriff, in wenigen Augenblicken zu Nichte gemacht. Unzählige Familien standen vor den Trümmern ihrer Existenz. Machtlos, die Hände zum Himmel erhoben.

Eine grauenvolle Zeit. Not und Verwüstung, Hunger und Ohnmacht. Sirenen, Nacht für Nacht. Teuflische Posaunen. Fanfaren der Vernichtung. Chöre der Verdammnis. Kinder plärrten, Hunde kläfften, Tiere stampften, rissen an Ketten, muhten, wieherten, blökten, schnauften hilflos. Vergeblich. Mensch und Tier verharrten angsterfüllt bis zum nächsten vernichtenden Schlag. Man wollte überleben. Manchen gelang es. Vielen nicht.

Wenig war’s, was die Menschen hatten, mit einander teilten. Sie flossen zusammen wie ein großer Strom, kämpften Seite an Seite ums Überleben. Männer, Frauen und Kinder räumten Schutt aus den Ruinen, klopften ganz gebliebene Ziegel vom Mörtel frei. Sie türmten Hölzer, Eisen, Steine zu Haufen, bauten im Geist schon wieder neue Häuser, die schöner und besser werden sollten, als die alten.

21. März l945. Eduard war knapp neun. Der Vernichtungsschlag. Frauen und Kinder versuchten das nahe gelegene Gehöft zu erreichen. Ein Unterschlupf für Heimatlose. Ohrenbetäubendes Dröhnen und Schwirren. Mütter hielten vor Schreck erstarrt inne. Die Kleinen stolperten weiter, die Hände an die Ohren gepresst, die Köpfchen in die Schultern gezogen.

Plötzlich stand da Gritt, Eduards Schwester. Den Umhang aus rauem Loden weit ausgebreitet. Gleich einer Madonnenstatue, verwehrte sie der heranstürmenden Kinderschar das Weitergehen, beschwor sie, sich auf den Boden zu werfen. Mit letzter Kraft fiel sie auf die Knie. Inbrünstig, überirdisch und demutsvoll zu gleich, verharrte sie im Gebet.

Ein gleißender Lichtkegel blendete. Eine gewaltige Detonation. Die Erde platze auf. Ein Hagel von Erdreich und Steinen. Finsternis.

Gritt kniete immer noch an der gleichen Stelle. Bewegungslos. Unerschütterlich.

Vor ihr, ein riesiger Bombentrichter. Die wenigen da draußen hatten überlebt. Hinter ihnen, in dem kleinen Städtchen spielte sich fast gleichzeitig ein Albtraum ab.

Die prächtige Pfarrkirche pulverisierte, stürzte zusammen wie ein Kartenhaus. Fast tausend Jahre hatte sie da gestanden, den Widersachern getrotzt. Nicht jedes Mal erfolgreich. Allen feindlichen Wirren zum Trotz hielt das monumentale Bauwerk dennoch stand, und jetzt? Innerhalb weniger Augenblicke, ausgelöscht, verschwunden. Ebenso das Spital, der Kindergarten und viele stattliche Bürgerhäuser. Weinen und Wehklagen allerorts. Menschen hatten das Liebste verloren, auf dieser verdammten Welt. Andere bangten um ein Fünkchen Leben, das in einem schwer verletzten Freund flackerte.

Hoffnungslos, entwurzelt, seelisch zerrüttet standen auch die Behrings vor den Trümmern ihrer Existenz. Doch in tiefer Gläubigkeit wussten sie, dass ihnen das kostbarste geblieben war. Ihre Kinder. Ihr Leben.

Stein um Stein wurde gesäubert, wieder zusammengefügt. Im Garten wurde Gemüse gepflanzt, Hasen und Hühner gehalten, die hungrigen Schnäbel gestopft. Beharrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit. Eine neue Schuhmacherwerkstatt, zwei Gesellen, ein Lehrling.

Die Kinder hatten bald Schrecken und Chaos vergessen, trieben wieder ihre Späße. Die Welt wurde heil. Wunden vernarbten.

Eduard und Jan waren zweifellos die Aktivsten. Max und Moritz Nachfolger, stand in der Vredener Stadtzeitung mit nageldicken Lettern. Sie machten ihrem Ruf alle Ehre. Die drohende Hand des Vaters vermochte nicht Einhalt zu gebieten.

Eines Tages, die große Entdeckung, in einem Schuppen. Ein Dreiradauto.

„Ein Goliath“, brüllte Jan begeistert. „Wir haben doch noch Malerfarbe.“ Schwerwiegende Überlegungen wurden angestellt. Die desolate Lackierung wurde erneuert. V 3 prangte am Rumpf des Vehikels.

„Hitlers Wunderrakete“, posaunten die Jungen triumphierend im Duett.

Eine abenteuerliche Reise durch holprige Gassen begann. Dann, ein mächtiges Gestrüpp. Staub, Krach, Scherben. Ein kurzer Aufschrei. Die Helden suchten flink das Weite. Fazit: Prügelstrafe, wie stets, nach vollbrachten Taten. Auf ihren Pobacken hatte sich bereits eine isolierende Hornschicht gebildet.

Getreu den großen Vorbildern, wurde alsbald der nächste Streich ausgeheckt. Man musste dem schlechten Ruf schließlich gerecht werden.

Rund um Vreden lagen Wälder, Sümpfe und saftige Weiden, sorgfältig mit Zäunen umschlossen. Gatter und Weidetore mussten unendlich oft geöffnet und wieder geschlossen werden. Auf ihren täglichen Streifzügen fanden Ed und Jan im angrenzenden Wäldchen Sprengladungen und Zündschnüre. Vergessene Relikte aus grausigen Kriegstagen. Eine Herausforderung, gewaltig, übermächtig.

„Lass uns wenigstens das erste Tor des Weidezauns sprengen. Nur einmal, ein einziges Mal, soll es so richtig knallen“, jauchzten die beiden Halunken. Jan wusste was zu tun war. Ed, der jüngere, gehorchte mustergültig.

Die Handgriffe saßen fix. Sprengkörper unter die Stützpfeiler. Zündschnur möglichst lang auslegen. Rasch in die Hosentasche gefasst, die unentbehrlichen Zünder herausgeholt. Zündholz reiben, Zündschnur anfachen – in Deckung gehen. Faszination pur. Das kleine Flämmchen. Der nahe Zaun.

Plötzlich ein unerwarteter Zwischenfall. Beschwingt holperte ein Drahtesel den Hügelpfad herunter, direkt auf das Versuchsobjekt zu. Eduard sprang beherzt aus seiner Deckung, brüllte aus Leibeskräften.

„Halt, halt! Stehen bleiben!“ Vergeblich. Tante Trine, Vaters älteste, und überaus gestrenge Schwester. Kinderlos. Mitleidslos. Gnadenlos.

Im letzten Moment erreichte Ed die Tante. Warf sie zu Boden und sich darüber. Ein lauter Knall. Holz flog, Erdreich, Steine, Dreck.

Tante Trines drohende Fratze sah Eduard heute in seinen Träumen ganz deutlich vor sich. Majestätisch war sie damals von dannen gehinkt. Die beschwörenden Bitten der Buben überhörend, dem Vater doch nichts zu sagen.

Verstohlen blickten die Beiden auf das gelungene Werk. Es hätte ja wirklich perfekt geklappt, wenn da nicht... Abends folgte der übliche Lohn. Wusste man. Die Versuchungen waren allesamt größer.

...und der Nächste folgt sogleich!

Turmglocken tönten. Ein friedlicher Sonntag im Spätherbst. Die Luft perlte. Eine matte Sonne spendete ausgiebig Wärme. Redliche Bürger rüsteten sich frohen Mutes zum Kirchgang. Die Damen manierlich herausgeputzt. Nicht nur zu Gottes Ehre. Die Herren, in dunklen Gehröcken, auf Hochglanz polierten Schuhen, Hut und Gehstock. Max und Moritz brüteten mit Feuereifer ein neues, ungelegtes Ei aus.

Mit Geschick löste Jan den riesigen Neufundländer des Nachbarn von der Kette. Die geklaute Wurst aus Mutters Küchenschrank war dabei äußerst hilfreich. Eduard betätigte sich inzwischen als akadämlicher Maler.

Auf früheren Streifzügen gesammelte Blechdosen wurden kunstvoll bekleckert, bis sie trieften. Schnüre an den dicken Schwanz des armen Viehs geknüpft. Die quatschigen Dosen festgezurrt.

Endlich! Die riesigen Holztore der Kirche öffneten sich. Die frommen Bürger strömten scharenweise auf den Hauptplatz, um zu sehen und gesehen zu werden.

„Jetzt“, dröhnte Jans Kommando. Der willfährige Eduard ließ den gereizten, zornig am Halsband zerrenden Hund los. Endlich frei, stürmte er unter lautem Gekläff über den belebten Platz, Hilfe suchend seinem Herrn entgegen. Die Dosen hüpften auf dem Kopfsteinpflaster. Je mehr Geschrei, je lauter der Lärm um ihn herum, umso verrückter gebärdete sich das Tier. Wunderschöne Kleckse an den dunklen Hosenbeine der Herren, an Röcken und Mäntel der Damen. Das Chaos war perfekt. Die Tat zufrieden stellend vollbracht. Alles bestens!

Die Prügel blieben diesmal aus – aus Mangel an Beweisen.

Die Zeit rollte dahin. Nichts Weltbewegendes geschah. Die Lausbubenstreiche wurden seltener, subtiler. Auch Prügel gab es nicht mehr so häufig.

Die großen Brüder hatten ihre Lehre in der väterlichen Werkstatt abgeschlossen. Der Älteste durfte nach intensiven Überredungskünsten des Pastors auf eine höhere Schule gehen, anschließend das Priesterseminar besuchen.

Die Mädchen lernten bei Mutter alles, was eine künftige Ehefrau können musste. Ihre Wünsche, ebenfalls eine Lehre zu machen, oder gar eine Fachschule zu besuchen, wurden mit einer oberflächlichen Handbewegung abgetan.

„Ihr heiratet doch sowieso, bekommt Kinder und habt mit Haushalt und Garten genug Arbeit. Wozu da noch Geld ausgeben.“ Enttäuschung und Widerspruchsgeist wurden im Keim erstickt. Kein Kommentar. Vater hatte vorgefasste Meinungen, an denen nicht zu rütteln war.

Eduards Erinnerungen drängten sich unaufhaltsam in sein liebeskrankes Hirn, trösteten, halfen ihm den Schmerz zu verdrängen.

Stundenlang saß er einst auf dem hohen Kirschbaum hinterm Haus, starrte in den Himmel. Dröhnte ein silberner Vogel hoch über seinen Kopf hinweg, machte sein Herz einen Luftsprung, das Blut begann zu wallen, die Sehnsucht wuchs. Seine Träume, Gedanken und Wünsche trugen ihn weit fort. Fernweh. Die Welt kennen lernen. Frei dahinfliegen.

Dicke Tränen. Geballte Fäuste. An der rauen Rinde des Stammes wund geschlagene Knöchel. Immer ruheloser und trotziger wurde er. Gleichzeitig aber auch reifer, selbstbewusster, entschlossener.

Schuhmacher werde ich bestimmt keiner, wie Vater es erwartete, und keine Widerrede duldete.

Beherzt stieg er eines Nachmittags auf seine Fize und radelte aus Leibeskräften, als gelte es die Tour de France zu gewinnen. Das nächste Städtchen, etwa fünfzehn Kilometer von zu Hause entfernt. Es glich fast aufs Haar seinem Heimatort und doch – es war anders.

Ausgepumpt setzte er sich an den Straßenrand, schaute durch verschwitzte Haarstränen in eine schraffierte Landschaft.

Da! Ein schmuckes Haus. Blumenkästen, grün gestrichene Fensterbänke, üppige Geranien in saftigem rot. Fast einen Meter hingen sie an der weißgetünchten Hausmauer herunter, baumelten bei jedem Luftzug, als wollten sie ihn einladen näher zu kommen. Ein gepflegter Vorgarten. Bäume und Büsche, adrett beschnitten, wie gezeichnet. Mit weißem Kies bestreute Wege bis hin zur Eingangstür. Magisch zog es ihn an, unaufhaltsam.

Schneidermeister Brunig, las er auf dem Holzschild. Das Märchen vom tapferen Schneiderlein kam ihm in den Sinn. Sieben auf einen Streich. Riesen, Kraft, Mut. Bäume ausreißen. Genau das wollte er, wenn auch im Augenblick nur Bonsais.

Eh er sich’s versah, stand er an der Eingangstür. Beherzt trat er ein, versuchte sehr erwachsen und laut zu grüßen. Ein gekrächztes „Guten Tag“, verließ die trockene Kehle, eher erahnt als gehört. Der Meister blickte kurz auf. Nach einem hingeworfenem „Na was gibt es junger Mann“, nähte er emsig weiter.

Allen Mut musste Eduard zusammennehmen. Was sollte er sagen? Was wollte er? In seinem Kopf dröhnte und rotierte es wie auf dem Rummelplatz. Die Knie wurden weich. Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Ich möchte Schneider werden, bitte! Nehmen sie vielleicht einen Lehrling auf?“ Jetzt war’s durchgestanden. Sein Wunsch hatte sich in Worte geformt. Er hatte das untrügliche Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Eine kleine Ewigkeit verrann. Der Angesprochene unterbrach seine Arbeit. Legte sie sogar aus der Hand.

„So, so! Wer bist du denn? Wo kommst du her – und warum gerade Schneider?“

Warum nur? Er wusste es ja selbst nicht so genau. Es musste wohl sein. Ein innerer Zwang hatte ihn zu diesem Schritt getrieben. Da stand er. Zuckte unbeholfen mit den Schultern, stammelte trotzig:

„Schuhmacher werd ich jedenfalls nicht!“ Tränen überfluteten die Augen, drohten jeden Moment aus Platzmangel über die Ränder zu schwappen. Oh Gott, die Schande.

Die Blicke des Meisters durchbohrten ihn. In letzter Sekunde tat sich zu seiner Rettung die rückwärtige Türe auf. Da stand sie, einem Schutzengel gleich – die Meisterin, in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit. Ein Riesenweib. Der blonde Haarschopf als Gloriole. Ein rosiges, rundes Gesicht. Blaubeeräuglein hinter fülligen Pauspacken. Leichtfüßig tänzelte sie mit ihren zweihundert Pfund auf Eduard zu. Im nächsten Augenblick war er dem Erstickungstod nahe. Der üppige Busen, an den sie ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit drückte, verstopfte ihm sämtliche Öffnungen. Sie hielt ihn in den Armen, machte keine Anstalten ihn je wieder los zu lassen. Sanft streichelte sie seinen Kopf und flüsterte gerührt:

„Na, na, mein Junge, nur nicht so bange. Ist doch gut das Schneiderhandwerk. Kannst als Lehrbub anfangen!“

Engelschöre schallten, Glocken klangen, Posaunen schmetterten Jubelfanfaren. War es Sauerstoffmangel? Waren es die lieblichen Worte, und wie die Meisterin sie sagte? Zärtlichkeiten jeder Art waren ihm fremd. Fassungslos stand Eduard da, erstaunt, verwirrt. Der Bann war gebrochen, die mündliche Vereinbarung perfekt, Wille und Eifer übermächtig, unschlagbar.

Strahlend, als Held, zog er von Dannen. Stolz schwang er sich auf seinen zweirädrigen Rappen, zog als Sieger heimwärts. Don Quichotte auf seiner Rosinante. Nun hieß es aber nicht gegen Windmühlen kämpfen. Ein viel härterer Gegner erwartete ihn, der Vater.

Je näher er dem Elternhaus kam, desto langsamer trat er in die Pedale. Die Schultern fielen schlapp nach vorn. Bittere Mutlosigkeit drückte ihn nieder. Auch die verflixten Tränen wollten nicht dort bleiben, wo sie hingehörten.

Ungesehen huschte er ins Haus. Flüchtete in seine Kammer unter dem Dach. Da saß er nun auf der Bettkante, stierte entgeistet die Holzdielen an. Kärglicher Lichtschimmer drang durch die Dreiecksluke.

Die Euphorie schlug in bodenlose Mutlosigkeit um. Beim Abendessen blieb ihm jeder Bissen im Hals stecken. Rasch verzog er sich wieder in seine bittere Einsamkeit.

Wie sag ich’s dem Vater? Wie nur, hämmerte es unaufhörlich in seinem Schädel. Im Gebälk krachte und knarrte es, als wollten tausend boshafte Geister ihn verhöhnen, verspotten. Verzweiflung pur.

Viel früher als gewöhnlich, erwachte er am nächsten Morgen. Die Sonne knallte ihre warmen Strahlen durch die kleine Dachöffnung, kitzelte an seiner Nase. Tollkühn sprang er aus den Federn, reckte und streckte sich wie ein junger Kater. Er fühlte sich fitt für die Schlacht, die es nun zu gewinnen galt. Bereit, allem Widerstand zu trotzen. Bereit, für seinen neuen Traum alles zu geben. Hurtig huschte er die schmale Treppe hinunter. Mutter stand am Herd wie jeden Morgen, um Frühstück für die hungrigen Mäuler zu bereiten.

Aus der elterlichen Schlafstube schlürfte in dicken Filzpantoffeln der Vater. Griesgrämig zog er an den Hosenträgern herum. Ein vergeblicher Versuch, das lange Nachthemd irgendwie in den schlabberigen Hosen unterzubringen, stopfte und schob er, brummte dabei ein schläfriges „Morjen“ in die kleine Runde. Überrascht blickte er zu Ed, der immer noch, gleich einem Gladiator, aufreizend und keck am Treppenabsatz stand.

„Na mien Jungen! Kas nich schloopen? Häs doch noch Tied!“

„Ne, Vader, vandage nich! Ik mutt di watt seggen“.

Da war es wieder, dieses Kratzen im Hals, die Furcht, das Unabänderliche in Worte zu formen. Mutig streifte er die strubbeligen Haarbüschel aus der Stirn, und sprach’s dann aus, klar und deutlich.

„Ik wer Schnieder! Heb ook all ne Lehrplass bi Brünings in Stadtlohn. An’n ersten September droff ik anfangen, is alles affemakt.“

Mit stockendem Atem fixierte der Junge sein Gegenüber. Keine Regung.

Gott Allmächtiger, steh mir bei!! Eds schlanke Finger krallten sich in das weiche Holz der Brüstung. Die Stirn wurde feucht, die Lippen zitterten unkontrolliert.

Sehr langsam rückte Vater den Stuhl näher zum Tisch, goss sich noch langsamer die bemalte Tasse mit Tee voll. Endlich, kaum merklich, eine Regung. Er drehte sich zu ihm um, hob den Kopf und lächelte.

Herr im Himmel, wann hatte ihn Vater das letzte Mal angelächelt? Unfassbar schien es, unbegreiflich. Ed hatte sich zum Kampf gerüstet – und jetzt!?

„Guod!“ hörte er klar die Worte des Gefürchteten.

„Wenn du dat so wiss, salt weärn! Mak mi aver kinne Schande. Up un af gifft nich!“, sagte es, und setzte gemächlich sein Frühstück fort.

Ein Jauchzer, dass die Kaffeetassen klirrten. Gefasst reichte er dem Vater die Hand. Ein Versprechen. Künftig wollte er wie ein Mann handeln. Fleißig, korrekt, ehrlich und strebsam. Er würde es schaffen. Keiner sollte je enttäuscht werden, der ihm sein Vertrauen schenkte. Er würde seinen Weg gehen, weiter, immer weiter, bis er sein Traumziel erreicht hätte. Wie weit das war, wusste er noch nicht, aber irgendwann würde er es wohl wissen.

Diese umwerfende Neuigkeit sollte als erste Lotte, seine beste Freundin erfahren. Safranfarbene Stoppellocken, die sich wie Spiralen in ihre Stirn ringelten. Zarte Brauen, die bei den kleinsten Problemen hoch zuckten. Flaum an Armen und Nacken. Härchen, die sich sträubten, wenn er sie berührte. Die aufkeimende Gänsehaut der Erregung, die ihren Körper überzog, wenn er sie liebevoll streichelte. Wenn er zögernd ihre Schenkel liebkoste, schwanden ihm fast die Sinne.

Der gute Ruf musste gewahrt werden! Das Geschwätz der Nachbarn. Einzige Möglichkeit, die Steinchenpost. Zäune überklettern, den Nachbarhund austricksen. Die letzte Rosenhecke. Ein paar Kratzer. Dornen in den Händen. Die Hosentaschen gefüllt mit passenden Steinchen, nicht zu groß und nicht zu klein. Lotte zeigte sich am Fenster, registrierte die kurzen Handzeichen. Wenig später standen sie sich im Schutz eines alten Ahornbaumes gegenüber. Ein idealer Platz um zärtliche Blicke auszutauschen. Ein zaghafter Kuss auf die rosigen Wangen, die noch rosiger wurden – Seeligkeit brauchte nicht mehr.

Eds Worte ratterten wie ein Maschinengewehr, trafen schmerzend das Mädchenherz. Der Freund phantasierte von seiner bevorstehenden Zukunft, pustete atemlos eine Salve nach der anderen auf das arme Ding nieder. Sprachlos, mit Tränen in den Augen stand sie da. Eduard blickte zuversichtlich und stolz, als wäre er bereits Christian Dior und Karl Lagerfeld in einer Person.

Endlich war der große Tag gekommen.

Schlaksig stand er nun zum zweiten Mal in der Werkstatt von Meister Brunig. Drei kritische Augenpaare musterten ihn. Die Begeisterung über den Neuankömmling schien sich in Grenzen zu halten. Zwei Gesellen saßen reichlich aufgeblasen an ihren Maschinen und grinsten. Ein Einjähriger stocherte verzweifelt an einem Hosenbein herum, als wär’s sein Feind. Er wagte kaum aufzuschauen, schwitzte gotterbärmlich. Der Meister wies dem Neuen seinen Platz hinter einem halbmondförmigen Tisch zu. Da saß er nun, in der besten Absicht, den Chef nicht zu enttäuschen.

Auch Eds Privatleben kam nicht zu kurz. Auf dem Sozius seines Fahrrades jonglierte er sein Mädchen wie ein Zirkusartist. Lottes feste Brüste bohrten sich wie glühende Kohlen in seine Schulterblätter. Manchmal flackert es ihm vor den Augen, wenn sie ihn zu heftig umschlang. Alle Mühe verlangte es ihm ab, den geraden Kurs auf der Straße und auch sonst zu halten.

Des Nachts überrumpelte ihn dann bisweilen die Natur. Morgens fanden sich feuchte Flecken am Lacken, die er verstohlen zudeckte. Lottes Mutter hatte seinen Handschlag für die Jungfräulichkeit ihrer Tochter gefordert. Ein hartes Los. Schweißausbrüche wechselten mit Schüttelfrost.

Ende September. Das alljährliche Campinglager. Wettkämpfe und Spiele. Auch Mädchengruppen waren gekommen. Knackige Pos, lange Beinen, straffe Brüste. Lotte war zu Hause geblieben. Eine Tatsache, die einige Verwirrung in Eduards strammes Innenleben brachte.

Dieses vollbusige, dunkelhaarige Meiken. Traumfigur, schlanke Hüften, drahtige Fesseln. Ed war verzückt. Das lange wellige Haar zu einem raffinierten Knoten hochgesteckt. Hautenges Trikot. Ihre Blicke kreuzten sich immer wieder. Ed drohte in den tannengrünen Bergseen zu ertrinken. Lotte war aus seinen Gedanken geschwappt. Der Sexteufel trieb sein infernalisches Spiel.

Freiwillig übernahm er die Nachtwache. Sicherheitshalber bewaffnet, nebst Taschenlampe und Trillerpfeife auch mit einer Decke, die er verstohlen aus dem Zelt schmuggelte. Wüste Hirngespinste schwirrten durch seinen liebeshungrigen Schädel. Langsam schlich er auf das nahe gelegene Wäldchen zu, und hoffte. Hielt abwechselnd den Atem an, lauschte, und hoffte weiter.

Da stand sie. Lässig an einen Baumstamm gelehnt. Fast nackt. Das eine Bein angezogen. Der Vollmond warf riesenhafte Schatten. Die Luft flimmerte. Die Geräusche um ihn verflochten sich mit dem Tosen seines Blutes. Sein Körper lechzte nach Zärtlichkeit. Ein Lächeln auf ihrem zuckenden Mund. Mit der Zunge befeuchtete sie sinnlich ihre Lippen.

Das Mondlicht spielt ihm einen Streich, umspielte ihr schimmerndes Haar, liebkoste ihre quellenden Brüste, floss über ihre glatte Haut. Wie verzaubert hafteten seine Blicke an ihrer Scham. Ein Schritt noch. Er schmiegte sich an ihre gespreizten Schenkel, rieb seinen Körper an ihren steifen Brustwarzen. Wahnsinnig vor Lust und Begierde presste er sich an sie. Eine unbekannte Leidenschaft. Volle Rundungen drängten ihm entgegen. Zwei Körper verschmolzen in pulsierender, sündhafter Disharmonie schriller Akkorde. Das lüsterne Herz erfüllt von sinnlicher Gier, noch nie gefühlt, noch nie erlebt.

Odysseus. Sirenenklänge, Sphärengesänge. Er ließ sich treiben, fort, weit fort. Zwei Körper vereinten sich, lösten sich, um im nächsten Augenblick erneut in Lust zusammenzufließen. Ein gigantischer Schlussakkord, ein spitzer Aufschrei. Die erhitzten Leiber fielen auseinander, hechelnd, ausgepumpt, triumphierend.

Ein Lächeln. Ein flüchtiger Kuss. Ein mechanisches über die wirren Haare Streifen. Jeder ging seinen Weg zurück ins Lager. Sie hatten kein Wort mit einander gesprochen. Eduard fühlte sich als Mann.

Erkämpfte Träume

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