Читать книгу Erkämpfte Träume - Inge Elsing-Fitzinger - Страница 6

Vor drei Jahren in Tirol.

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Der Personenzug zuckelte durch eine Traumlandschaft. Weiß glänzende Gipfel, unvorstellbar hohe Berge, die majestätisch das schmale Tal bewachten. Leichtes Frösteln wechselte in anheimelnde Wärme und Wohlgefühl. Eine prächtige, für Eduard Behring völlig fremde, und dennoch schon nach wenigen Stunden so vertraute Gegend. Hier werde ich eine gute Zeit verbringen, werde erfolgreich sein, dachte er mit fester Überzeugung. Die glühenden Wangen an die angelaufenen Scheiben gepresst, starrte er aus dem Fenster, bis die Nacht über dem Land lag, der Himmel voller Sterne strahlte.

„Wie schnell kann sich das Umfeld, das Leben ändern, wenn man es zulässt“, stellte er überrascht fest. „Für viele Menschen kriecht die Zeit dahin, wie eine träge, schleimige Masse. Ekelig langsam, langweilig, unerfüllt. Unzufriedenheit macht sich breit. Man wird reizbar, ungerecht, neidisch. Verbrechen werden aus dieser trostlosen Lethargie geboren. Gewalt, Brutalität, Tod.“

Eduards Leben hingegen verraste. Er hetzte von einem Ziel zum Nächsten. Wissbegierig, voller Tatendrang, gönnte er sich keine Pause. Ihm wurde jeder Tag zu kurz. Immer weniger schlief er, um nicht kostbare Stunden zu vergeuden.

Gleich einem Stier, stürmte er von einer Arena zur nächsten. Wer sich ihm in den Weg stellte wurde zwar nicht rücksichtslos überrannt, aber sicher besiegt. Kein Hindernis war zu groß, keine Hürde unüberwindbar. Er wollte seinen Weg gehen. Unbeirrt, aufrecht.

„War ja nicht immer ganz leicht“, sinnierte er zufrieden! Aber ich lass mich einfach nicht unterkriegen.“ Immer wieder blitzten Erinnerungen seines oft recht hektischen Werdegangs auf.

Sehr zum Bedauern des guten Meisters, wechselte er unmittelbar nach erfolgreich bestandener Gesellenprüfung in die Industrie. Ein geeignetes Sprungbrett, um seinen gesetzten Träumen ein Stück näher zu rücken.

„Industrielle Erzeugung.“ Wie Magie klangen diese Worte. Nach kurzer Zeit erkannte man auch hier seine Begabung und Fähigkeiten.

„Herr Behring, sie werden alle Positionen durchlaufen.“ Die feste Stimme seines neuen Arbeitgebers klang Vertrauen einflößend.

„Zuschnitt, Einrichten, Taschenfertigung, Kantenverstürzen, Achsel- und Seitennähte schließen, Ärmel einnähen und so weiter. Alles Dinge, die ein tüchtiger Lehrlingsausbilder mit links beherrschen muss.“ Ein herausfordernder Blick, den Eduard klar erwiderte.

Die erste Treppe seiner langen Aufstiegsleiter hatte er erreicht. Sein Eifer, sein tadelloser Ruf, nicht nur als Könner, sondern vor allem als Kumpel, eilten ihm voraus. Gerechtigkeit und Umsicht waren vorrangig.

Fred Bäumler war einst sein härtester Konkurrent in der neuen Firma.

Unerwartet, aus heiterem Himmel traf ihn eines Tages die Hiobsbotschaft.

“Ich bin schwanger!” Ein Blitzschlag. Kathi stand vor ihm, mit verheultem Gesicht, struppigem Haar. Aufgelöst. Völlig verzweifelt.

In Eds Kopf – ein wirbelndes Karussell. Er hatte eine lange Schicht hinter sich, war todmüde.

Wie konnte das passieren? Er kannte das Mädchen doch kaum. Vor zwei Monaten in einer Bar! Sie sah nett aus, er hatte sie aus Freds Umklammerung befreit. Filmriss.

Jetzt stand sie vor ihm, war sichtlich verzweifelt. Fetzten einer wagen Erinnerung kehrten wieder. Die verrauchte Kneipe. Das adrette Töchterchen aus bürgerlichem Haus. So gab sie sich jedenfalls, als Ed bereits leicht beschwipst mit Fred Bäumler das Lokal betrat.

Fred baggerte die Kleine reichlich frech an. Sie hatte nur Augen für Eduard.

„Du kleines Miststück“, lallte Fred, „hast ja keine Ahnung was dir entgeht.“

Gierig fingerte er nach ihren prallen Brüsten, klatschte ihr auf den Hintern, versuchte sie gewaltsam in eine Ecke zu drängen. Er zerrte Fred zurück an den Tisch.

„Blöde Nutte auch!“, hatte er damals geschimpft. „Was mischt du dich überhaupt in meine Angelegenheiten. Such dir gefälligst selbst ein Mädchen. Den ganzen Abend lang gehst du mir schon auf den Nerv. Spannst mir eine nach der anderen aus. Mir reicht es.“

Plötzlich schlug er zu. Die harte Faust landete in Eds Magengrube. Überraschte Augen. Kurz darauf kippte er vorn über, schlug mit dem Kopf am Tresen auf.

„Na gut geschlafen mein Freund?“ Eine heitere Stimme weckte ihn.

Das Mädchen von gestern Abend in der Bar, saß auf der Bettkante, lächelte liebevoll, streichelte seinen Brummschädel.

„Wo bin ich?“ Die fremde Wohnung. Das zerwühlte Bett. Zwei leere Weinflaschen am knallroten Teppich. Ein Aschenbecher, voll mit abgebrannten Zigarettenkippen. Alkoholvergiftung oder Nikotinvergiftung?

Gedächtnisverlust. Seine Stimme klang rau. Der Hals kratzte. Splitternackt lag er auf den zerknautschten Lacken. Das Mädchen lachte.

„Bei mir, mein Schatz. Bei deiner Kathi. Ich habe dich mit nach Hause genommen. Du warst so hilfebedürftig. Später allerdings hätte

i c h fast Hilfe gebraucht. Du bist ja ganz rasch zur Sache gekommen, du toller Hecht.

„Haben wir miteinander geschlafen?“

„Geschlafen haben wir auch, aber erst viel später“, lachte sie schallend. Was glaubst du denn. Wir haben es immer wieder getrieben, du hast mich so herrlich geliebt und es war wundervoll.“

Entsetzt blickte Eduard auf den Wecker am Nachttisch. Neun Uhr zwanzig.

„Warum hast du mich nicht eher geweckt. Ich muss zur Arbeit.“

„Das wusste ich doch nicht, mein schöner Mann. Ruf einfach an und melde dich krank.“

Noch nie im Leben war ihm so etwas passiert.

„Unmöglich. Ich muss sofort weg.“

„Aber du kommst doch wieder. Nach der Arbeit. Versprochen.“ Sie hatte sich zärtlich an ihn gekuschelt, ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Wange gedrückt. „Es war so wunderschön heute Nacht. Bitte komm wieder.“

Kathi war Freds Freundin, dem sie in blinder Hörigkeit gehorchte, seit zwei Jahren schon. Bedingungslos erfüllte sie ihm jeden noch so ausgefallenen Wunsch. Doch davon hatte Eduard keine Ahnung.

Mit neun Jahren wurde sie das erste Mal vergewaltigt, mit dreizehn schickte sie der eigene Vater auf den Strich. Jetzt war sie achtzehn. Vor zwei Jahren hatte Fred sie aus dem triefenden Sumpf herausgeholt. Endlich hatte sie ein zu Hause, ein warmes Bett, täglich eine warme Mahlzeit. Fred kaufte ihr neue Klamotten, machte sie zu einer attraktiven, verführerischen Frau, die nur von Fred ausgesuchte Freier bedienen musste.

Sie liebte Fred und er liebte sie auch, auf seine Art. Für intrigante Machenschaften allerdings musste sie widerspruchslos Willens sein. Eduard zu verführen war eine solche Situation.

Als Arbeitskollege von Fred Bäumler bestand die Gefahr, Eduard könnte ihm den schon lange geplanten Posten vor der Nase wegschnappen. Wilde Eifersucht brachte Fred auf die irrwitzige Idee, diesem Saubermann eine gehörige Portion Unannehmlichkeiten unterzujubeln.

„Immer nur die reine Weste anhaben und die anderen in Grund und Boden stampfen. Das lasse ich mir einfach nicht bieten. Dir werd ich es zeigen.“ Fluchend rannte er zu Hause herum. Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Dann hatte er den „Freund“ zu besagter Sauftour überredet. Kathi war schon seit einigen Wochen schwanger von ihm. Jetzt wollte er Eduard den Balg unterschieben.

„Ich werde zu dem Kind stehen. Ein Vaterschaftstest wird Klarheit bringen.“

Eduard traf sich in nächster Zeit öfter mit Kathi. Er war höflich, zuvorkommend. Das Kind würde er wohl oder übel akzeptieren müssen. Er wollte sich keinesfalls binden, wollte vorwärts kommen, sein großes Ziel erreichen.

Triumph lag in Freds Augen.

„Mit einem Balg am Hals wirst du deine Zukunftspläne gewaltig zurückschrauben müssen, Freund.“ Lodernde Bosheit in der Stimme.

Der fiese Plan ging nicht auf. Eduard arbeitete mit doppeltem, ja dreifachem Eifer. Ließ sich durch gemeine Ränke nicht beirren. Immer wieder versuchte Fred seinem Konkurrenten ein Bein zu stellen, ihn bei der Geschäftsleitung in Misskredit zu bringen. Ed parierte alle Schläge mit Virtuosität.

Besuche zu Hause wurden seltener. Von Mal zu Mal verschob er angekündigte Treffen, vertröstete die Anderen, doch vor allem sich selbst. Die Zeit, die kostbare Zeit.

Weihnachten wollte Eduard mit der Familie zusammen sein. Am dreiundzwanzigsten Dezember bestieg er elegant, aufs adretteste herausgeputzt, den schnaufenden Zug. Dunkelbrauner, breitkrempiger Filzhut. Gleichtoniger, selbst gefertigter Kamelhaarmantel mit breitem Revers und flottem Dragoner. Hochmodisch. Le dernier Cris.

„Diese boxkalbenen Schlüpfer!“ stöhnte er. „Für die Witterung denkbarst ungeeignet, aber unentbehrlich.“ Die spiegelglatten Sohlen verliehen seinem sonst so selbstbewussten Auftreten einige Balanceschwierigkeiten.

Mehr schlecht als recht schlitterte er über den schlüpfrigen Boden der berstend vollen Bahnhofshalle. Auf trockenem Terrain fand er seine gewohnte Sicherheit sofort wieder. Monsieur nahm Platz, legte die Beine nonchalant übereinander, steckte sich ein Zigarillo an. Ratternd setzte sich der Zug in Bewegung. Dampfend polterte er hinaus aus dem stinkenden Ruhrpot, der Heimat entgegen. Schmutzig graue Hausmauern, drückende Rauchschwaden, machten einem glitzernden Wintermärchen Platz. Eiskristalle tanzten an den Scheiben.

Kein Stress, jede Menge Weihnachtsgeschenke im Gepäck. Magenkribbeln. Herzklopfen. Freudige Erwartung. Die letzten Stationen huschten vorüber. Ein Ruck, ein schriller Pfiff. V r e d e n. Er war zu Hause. Die Geschwister. Ihre zänkischen Nörgeleien, unnötigen Streitereinen und ausgelassener Übermut. Wie hatte er all das vermisst.

Vor dem Haus parkte ein flaschengrüner VW. Schwester Margret mit ihrem Gert. Erst kürzlich hatte er von ihrer Verlobung erfahren.

Mutter schloss Eduard mit früher nie erfahrener Zärtlichkeit in die Arme, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Wie oft hatte er sich als Junge nach solchen Liebkosungen gesehnt. Dann stand der Vater vor ihm. Auf seinem rosigen Gesicht hatten sich einige Falten gebildet. Seine Augen blickten sanft und lächelten. Ein Händedruck mit Vaterstolz.

Der neue Schwiegersohn Gert war in Vaters Alter. Margret war als Haushälterin zur Pflege seiner kranken Frau aufgenommen worden, stand ihm tapfer zur Seite. Sie putzte, kochte, wusch und umsorgte die Patientin. Tröstete dann aus vollem Herzen den armen Mann, als die Frau starb. Auf Gerts Bitte blieb sie bei ihm, um Beistand zu leisten, für ihn weiter zu sorgen. Schließlich begannen die Beiden mehr für einander zu empfinden, als sie sich anfangs einzugestehen wagten. Aus Achtung und Freundlichkeit wurde Liebe. Glücklicher Gert. Glückliche Margret.

Eduard und Jan wurden nach dem wunderschönen Weihnachtsfest auf die Ofenbank verbannt. Margret und Gert bekamen das Burschenzimmer. Besagte Kammer, unmittelbar unter dem Dach, im Sommer viel zu heiß, im Winter viel zu kalt. Unzureichend isoliert, dienten die Pressspanplatten wohl eher zur Dekoration als zum Schutz. An den dünnen Wänden hingen Eiszapfen in zierlichen Kaskaden. Davon konnten die Burschen seit ewigen Zeiten ein frostiges Lied singen. Gert stülpte sich kurz entschlossen Mutters Teewärmer über das spärlich behaarte Haupt, und sah damit so komisch aus, dass sich die Schwestern glucksend und lachend auf dem Teppich kugelten.

Die Festtage flutschten in Windeseile vorüber. Man hatte fein gespeist, mehr als ausreichend gebetet, gelacht, war glücklich. Am zweiten Januar hieß es Abschied nehmen. Auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen.

Der Zug ratterte die gleiche Strecke zurück. Schon nach wenigen Kilometern kramte Eduard das Geschenk seines neuen Schwagers aus der Tasche.

„Handbuch der Sternenkunde“.

Steckt da wirklich ein Körnchen Wahrheit dahinter, fragte er sich. Die Welt der Sterne, ihre Zeichen und Planeten! Etwas schwierig schien es ihm, seine eigene Schicksalsvorhersage zu analysieren, doch versuchen wollte er es unbedingt.

„Meine Geburtsstunde. 20. April knapp vor Mitternacht. Zwei Sternzeichen treffen unmittelbar aufeinander. Der Widder, begleitet von Mars mit dem Element Feuer. Der Stier, mit Venus an seiner Seite und dem Element Erde.“

Planetenbahnen, Berechnungen und astronomische Messungen formten in den frühgeschichtlichen Hochkulturen die Grundlagen für unser heutiges Wissen.

Bis ins sechzehnte Jahrhundert hatte das um 150 n. Ch. Verfasste Tetrabiblos des Astrologen Claudius Ptolemäus unumstrittene Gültigkeit. Erst Nikolaus Kopernikus und später Johannes Kepler…, Eduard atmete erleichtert auf.

Endlich zwei Namen die er aus der Schulzeit kannte. Eifrig versuchte er weiterzulesen. Richtig spannend kam ihm alles plötzlich vor, …..rückten das Weltbild zurecht. Nicht die Erde ist der Mittelpunkt des Universums, sondern die Sonne. Astrologie und Astronomie sind untrennbar mit einander vereint. Experimentelle Parapsychologie gibt Millionen Menschen innere Kräfte, Lebenshilfe in unserer hektischen, vergänglichen Zeit…

Auf der ersten Seite des Büchleins, eine Widmung.

Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt!

Ein Bettler, wenn er nachdenkt.

Friedrich Hölderlin

In Eduard vereinigten sich diese Gedanken zu einer untrennbaren Symbiose. Keinen Raum ließ er zwischen Wunsch und Tat. Keinen Platz zwischen Traum und Wirklichkeit. Keinen Unterschied zwischen Möglichem und Unmöglichem.

Obwohl er als Stier die Risiken und Gefahren wohl erkannte, stürzte er sich, typisch Widder, waghalsig ins Abenteuer. Mit heißblütiger Spontaneität, impulsivem Ungestüm räumte er Hindernisse aus dem Weg. Sein Blut brodelte über von Energie und Unternehmungsgeist.

„Ich muss es schaffen.“ Überschwang paarte sich mit Beharrlichkeit und Ausdauer. Sein Credo. „Eine Sache, welche auch immer es im Laufe meines Lebens sein wird, werde ich zu einem guten, sinnvollen und vor allem erfolgreichen Ende bringen. Das habe ich mir von allem Anfang an vorgenommen, und werde auch keinen Deut davon abrücken.“

Die häufigen Firmenwechsel hatten nur einen Sinn: Verbesserung seiner Position, mehr lernen, Rüstzeug horten für die Zukunft. Natürlich auch Geld. Geld war lebensnotwendig.

„Eines Tages werde ich ganz oben stehen“, nährte er täglich seine Überzeugung. In jeder seiner immer verantwortungsvoller werdenden Positionen, spiegelte sich der Grundgedanke, als Sieger durch die Ziellinie zu gehen. Eines allerdings duldete er nie: Unzuverlässigkeit, Lügen, Faulheit und Unkorrektheit.

Mit wohlklingender, nie zu lauter Stimme, transportierte er Überzeugungskraft, anfangs bei seinen Vorgesetzten, später bei seinen Untergebenen in Kopf und Herz. Immer fand er genau die Mitte, das alle überzeugende Maß.

Ein ganzer Stapel Post hatte sich während seiner Abwesenheit angesammelt, von Frau Novak, der Haushälterin, sorgfältig geordnet. Belangloses sortierte er rasch aus, freute sich über wohlgemeinte Neujahrswünsche.

Die monatlich erscheinende Fachzeitschrift blätterte er aufmerksam durch. Begierig las er Neuerungen und fortschrittliche Meinungen angesehener Fachleute. Sein intensivstes Interesse galt neuen, mehr versprechenden Stellenangeboten.

Eines Tages war Kathi, die Mutter seines angeblichen Kindes, mit hochrotem Kopf im Betrieb aufgekreuzt, mitten in eine entscheidende Diskussion mit dem Vorstand geplatzt. Eduards Erzrivalen Fred Bäumler waren in letzter Zeit mehrere gravierende Fehler unterlaufen. Seine Entlassung wurde ernstlich in Erwägung gezogen. Eduard versuchte krampfhaft das Schlimmste zu verhindern.

„Meine Herren, ich bitte sie diesen Entschluss noch einmal gründlich zu überdenken. Fred Bäumler schießt zwar manchmal über das Ziel hinaus, dennoch ist er ein Fachmann, auf dessen Mitarbeit man nicht so ohne weiteres verzichten kann.“

„Aber Behring, gerade sie brechen eine Lanze für diesen Kollegen?“ Überraschung lang auf befremdeten Gesichtern.

Nun hieß es für Eduard Farbe bekennen. Schweren Herzens, mit wohl gesetzten Worten erklärte er seine Absicht, die Firma in Kürze zu verlassen. Seine Argumente waren stichhaltig. Seine unumstößliche Absicht unüberhörbar.

Just in diesem Augenblick brauste Kathi aufgelöst in das Auditorium.

„Du gemeiner Filou. Du Betrüger. Du Weiberheld“, polterte sie ihrem Freund Fred entgegen.

„Ich habe dich durchschaut, weiß alles. Du benutzt mich nur, um deine faulen Ränke zu schmieden. Lieben tust du mich schon lange nicht mehr.“ Überraschung lag auf allen Mienen.

„Ich habe dich beobachtet. Diese kleine Schlampe aus dem Zuschnitt. Du hast mit ihr herumgevögelt, dass die Fetzen flogen. Ich wollte dich abholen. Kam aber sichtlich zu früh.“ Kathi hatte sich breitbeinig vor ihrem Fred aufgebaut.

„Dieses geile Stück hatte ihre Schenkel um deinen Hintern geschlungen, und du bist auf ihr herumgeturnt wie ein Spitzensportler. Dieses Gestöhne, diese obszönen Schreie!“ Sie presste hysterisch die Hände an die Ohren.

„Aber Kathi, das kann nur ein Missverständnis sein. Ich würde dich doch nie…..“ Weiter kam er nicht. Eine schallende Ohrfeige unterbrach Freds dürftige Verteidigung.

„Der rote Slip! Mir gehört der nicht! Den habe ich heute früh in deiner Hosentasche gefunden. Ein Corpus Delicti, das nicht zu übersehen ist. Du perverser Spinner, der seine Finger nie bei sich behalten kann!“

Amüsierte Blicke streiften die erregte Frau, den grellen Slip, den überraschten Fred, der jedoch kein Hehl aus der Geringschätzigkeit gegen Frauen machte.

„Und noch etwas!“ Die kleine Lady ließ sich von den Herren in den dunklen Anzügen nicht im Geringsten verunsichern.

„Eduard, verzeih mir. Ich habe dich die ganze Zeit belogen. Wir haben damals nicht mit einander geschlafen. Du warst ja viel zu besoffen“, fügte sie leicht verlegen hinzu. „Ich war schon zwei Monate schwanger als wir uns trafen. Von diesem Schwein da. Er wollte dich austricksen, und ich sollte ihm dabei helfen.“

Nun wurden die Herren hellhörig. Höflich aber entschieden baten sie die junge Dame den Raum zu verlassen. Eduard fiel ein Stein von Herzen.

„Es tut mir so leid, verzeih mir.“ Ihre Stimme klang klein und hilflos.

In ruhigem Ton nahm Eduard Behring wenig später das Gespräch wieder auf.

„Meine Herren. Lassen sie uns diese leidige Angelegenheit vergessen.

Die Zeit zur Veränderung ist für mich gekommen. Ich muss unbedingt eine Stelle als Bandleiter finden. Bitte akzeptieren sie meine Kündigung.“

Eduard Behring wollte einen raschen Strich ziehen. Ein neuer Ort. Eine neue Firma. Ein neuer Anfang. Aufmerksam las er die in Frage kommenden Stellenangebote.

War der Wunsch der Vater des Gedanken, war es Fügung, war es Glück? Auf der dritten Seite stand die neue Adresse, mit fetten Lettern gedruckt. Faszinierend, unübersehbar, fordernd.

Unverzüglich setzte er ein Bewerbungsschreiben auf. Noch am gleichen Abend warf er es in den Firmenpostkasten s e i n e r neuen Arbeitsstätte. Kein Weg war zu weit, zu steil, zu lang. Keine Minute durfte vergeudet werden.

Ein großes Industrieunternehmen. Der richtige Ort. Zeugnisse voll von Lobgesängen und guten Wünschen in der Tasche.

GEORGI & SANDER

Goldene Lettern am Portal. Stolz betrat er jeden Morgen das marmorgetäfelte Foyer. Einmal werde auch ich eine eigene Firma haben. Größer vielleicht, besser. Das Beste jedenfalls, das ich schaffen kann.

Direktor Sander war Witwer. Kahlköpfig, korpulent, mit kleinem Spitzbauch und freundlich blinkenden Rehaugen. Sein markantestes Merkmal: er war ein Mensch, hatte Verständnis für Schwächen. Seine joviale Art, den Bandleitern morgens stets die Hand zu schütteln, den Arbeitern aufmunternd zuzulächeln, begeisterte Eduard.

Krankheitsfälle oder familiären Sorgen registrierte er mit akribischer Sorgfalt. Dort eine kleine Gehaltsaufbesserung, da eine Gratifikation. Sander lebte Behring Menschlichkeit vor, die er nie vergessen wollte.

Georgi hingegen war ein armes Schwein, erinnerte sich Eduard.

„Wie nett oder liebenswert er möglicherweise auch sein wollte, war er lediglich das Sprachrohr seiner Frau, einer aufgeblasenen, arroganten Hyäne. Eine tolle Person, äußerlich. Schlanke Beine in hochhakigen Pumps, aufreizende Garderobe, schwingende Hüften, und mit Preziosen behangen, wo ein Plätzchen freie Haut zu finden war. Ansonsten eine intrigante Schlange, die Unfrieden und Missgunst schürte, wo immer sie hinkam – und sie kam überall hin. Sie machte allen, ob jung, ob alt, maßgeblich oder unbedeutend, das Leben zur Qual. Georgi litt still vor sich hin, zu schwach, um die entwürdigende Position zu ändern,

Eduard hatte eine neue Erfahrung gemacht, die er wohl in seinem Herzen verwahrte.

„Jetzt noch diese beiden Modelle! Bitte Eduard, keine Müdigkeit!“ Die Stimme Sanders hatte damals beinahe ekstatisch geklungen. „Die Kollektion wird großartig. Ach würden nur alle Kunden deine Figur haben!“

Ein Nebenjob, den Ed mit Begeisterung ausfüllte. Model für alle gefertigten Muster, bevor sie in Produktion gingen. Schlank und rank reckte er sich vor dem riesigen Spiegel, drehte und wendete sich, zupfte und zog, wenn eine Naht zu straff genäht war. Fachkundig kritisierte er Mängel, die der Meister manchmal gefließentlich übersah. Seiner Verantwortung oblag bald die alleinige Qualitätskontrolle.

Qualität und Quantität gehen konform, wenn die Kontrolle zielgerichtet und gewissenhaft ist. Hier war Eduard am richtigen Platz. Geradezu euphorisch war seine Stimmung, liebenswürdig sein Umgang mit den Kollegen, kameradschaftlich das Verhältnis zu Sander. Ja selbst mit Georgi führte er manch anregendes Gespräch, wenn der Drachen nicht gerade in der Nähe war.

Trotz aller Begeisterung hatte Eduard auch diesmal sein Ziel nicht aus den Augen verloren. Immer mehr, immer Neues wollte er kennen lernen. In den kurzen Nächten, die ihm der zahlreichen Überstunden wegen noch blieben, studierte er todmüde neue Annoncen, auch für das Ausland. Schließlich wurden Sturheit und Ausdauer belohnt.

Stellenangebote in Österreich. Werkstättenleiter für Betrieb in Reutte, Tirol, gesucht.

Eds Phantasie schlug Kapriolen. Himmelhohe Berge, schneebedeckte Gipfel, weite Seen, liebliche Holzhäuser.

Er überdachte Vor -und Nachteile. Seelenkonflikte marterten ihn nun schon über zwei Wochen. Die Befürchtung, die Stelle könnte womöglich vergeben sein, kostete ihm schlaflose Nächte.

Die endgültige Entscheidung nahm ihm ein Anderer ab. Eines Morgens flatterte ein blauer Brief ins Haus. Einberufung zum Wehrdienst. Das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Diese unnötigen Kriegsspielereien. Dafür hatte er weder Lust noch Verständnis. Reine Zeitverschwendung.

Rasch verfasste er das Bewerbungsschreiben. Wählte mit Geschick und Diplomatie die Worte seiner endgültigen Kündigung. Wurde unter größtem Bedauern, doch mit brillantem Zeugnis und besten Wünschen entlassen.

In Windeseile packte er die Koffer. Ein kurzer Anruf nach Hause. Mutter schnappte nach Luft, konnte nicht fassen, was ihr Bub da vorhatte.

Edurad war nicht mehr zu bremsen.

Jetzt saß er im Zug, und ratterte unaufhaltsam einem neuen Lebensabschnitt entgegen.

Am nächsten Morgen trat Eduard Behring mit einem halbunterdrückten Gähnen ans Fenster des schmucken Gasthofes in Reutte.

Am Horizont brach eine kalte Sonne hervor. Die Silhouette der Bergkette rund um das schmucke Städtchen, ein Scherenschnitt vor dem blassblauen Himmel. Alles schien still, reglos. Dennoch wühlten sorgenvolle Gedanken sein Innerstes auf. Ungewissheit, Sehnsucht und Schmerz erfüllten sein Herz.

Die neue Arbeitsstätte. Ein eher kleineres Unternehmen. Hatte er sich richtig entschieden?

„Guten Morgen!“ Forsch betrat er den hellen Vorraum des Büros. Ein junger Mann saß bereits ungeduldig auf der Kante eines Stuhles.

„Behring. Eduard Behring. Gebürtig aus Westfahlen“, stellte sich Eduard zackig vor. Der andere Bursche, etwa gleich alt wie er, war aufgesprungen, lächelte ihm entgegen. Ein sympathischer, offener Blick.

„Ich heiße Albert Sauer und komme aus Wien.“ Beide setzten sich wieder.

„Wollen sie auch in der Firma anfangen?“ Albert wetzte sorgenvoll auf dem Sitz herum. Seine Worte kamen stockend.

„Ja. Die Stelle als Werkstättenleiter war ausgeschrieben. Ich habe mich beworben und wurde eingestellt.“

Nun lag Überraschung auf dem Gesicht des Wieners. „Ich wurde ebenfalls für diesen Posten vorgesehen. Bei nüchterner Betrachtung will man uns sichtlich austesten. Eine schöne Schweinerei, wenn du mich fragst.“ Vereint im Leid duzten sie einander plötzlich.

„Ein und dieselbe Position zweimal zu vergeben finde ich wirklich dreist.“

Der Chef, Maximilan Schuller, gab sich sehr jovial, doch eher undurchsichtig.

Albert und Eduard waren sich vom Schlag weg sympathisch, hatten im gleichen Gasthof Quartier bezogen. Häufig diskutierten sie auch außerhalb ihrer Wirkungsstätte mit einander. Der unseriöse Plan ihres Chefs war rasch durchschaut.

„Wir werden diesem Halunken keine Wahl lassen“, meinte Ed eines Tages. „Wir sind beide tüchtig, gewissenhaft und auch einigermaßen seriös. Keiner von uns wird auf die Straße gesetzt. Abgemacht.“

Detaillierte Absprachen folgten, wurden genauestens eingehalten. Jeder schien folglich unersetzbar, keiner konnte gemisst werden. Schließlich blieben beide, hatten eine gute Zeit. Sie wurden Freunde.

Der Chef setzte sich bereits nach wenigen Wochen in die Schweiz ab. Einzige Kommunikationsquelle, das Telefon. Albert Sauer sollte die Produktion übernehmen, Eduard Behring die Betriebsleitung.

Der schlaue Firmenchef hatte einen äußerst lukrativen Nebenjob, und eine bezaubernde Freundin im Nachbarland. Beides schien ihm sowohl auf sexueller, wie finanzieller Ebene sichtlich reizvoller, als seine eigene Fabrik. Vor allem reizvoller als sein angetrautes Eheweib. Um den Hausfrieden einigermaßen zu gewährleisten, die zänkische Gattin notdürftig zu beschwichtigen, sollte das Unternehmen weiterlaufen. Sein persönliches Interesse lag jenseits der Grenze. So galt es für Eduard schon nach kürzester Zeit wesentliche Dinge selbst zu entscheiden, und dies tat er auch nach bestem Wissen und Gewissen.

Erkämpfte Träume

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