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2.1.2 Das Phasenmodell der menschlichen Entwicklung Die acht Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson (1959, dt. 1971)

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Identität war für Erikson nicht nur durch Kontinuität und Wandel gekennzeichnet (man verändert sich und bleibt sich selbst dennoch treu), sondern auch durch Kohärenz, d. h. man erlebt sich als der oder die Gleiche, in ganz unterschiedlichen Rollen und Kontexten. Ich möchte daran erinnern, dass der Begriff der Kohärenz auch für die Bindungstheorie und -forschung von Bedeutung ist. Die Identität ist damit das organisierende Prinzip der menschlichen Entwicklung.

Für die Generation von Erikson waren kulturelle Brüche, Verfolgung und Ablehnung Alltagserfahrungen, und dies macht sein Werk heute so wertvoll. Erikson hat einmal formuliert, dass sich die Identität als Schnittpunkt zwischen eigenen Wünschen und dem, was die Umwelt gestattet, entwickelt, und damit den Balanceakt zwischen individuellen Wünschen und Zielen in der Selbstverwirklichung und den gesellschaftlichen Barrieren auf den Punkt gebracht. Gegenwärtig sind in den postmodernen Gesellschaften rasche gesellschaftliche Umbrüche, ökonomische Krisen und Kriege und eine kontinuierliche Migration in die westlichen Industrienationen kennzeichnend, so dass eine große kulturelle Diversität entstanden ist. Erikson warnte vor der unkritischen Ausblendung von Ängsten und Konflikten, und so ist es auch zu verstehen, dass er in seinem Phasenmodell bei jeder Entwicklungsstufe, die von ihm als normative Krise bezeichnet wird, Polaritäten einer geglückten und einer problematischen Entwicklung unterscheidet.

Peter Blos’ Buch On Adolescence: A Psychoanalytic Interpretation, 1962 erschienen, auch noch heute ein Standardwerk über die psychoanalytische Konzeption des Jugendalters, enthält auch eine Differenzierung in Phasen mit spezifischen Entwicklungsanforderungen und Aufgaben. Für das Phasenmodell von Erikson war charakteristisch, dass die 8 Phasen altersspezifisch aufeinander aufbauen, d. h. die Lösung einer altersspezifischen Krise die Voraussetzung für das Voranschreiten der Entwicklung und die Lösung der folgenden Krise ist. Kritisch ist zu bemerken, dass die Vorstellungen der persönlichen Reife teilweise etwas Normatives haben und insbesondere in den letzten 3 Phasen stark am Familienzyklus orientiert sind. Die ersten Phasen sind auch noch sehr deutlich an die Freud’sche Entwicklungstheorie angelehnt.

Phase 1: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)

In dieser Phase erlebt das Kind in enger Interaktion mit der Mutter das Gefühl des Ur-Vertrauens. Freud hat diese Phase als orale Phase bezeichnet, und tatsächlich ist das Stillen ein Stück Objektbeziehung: »An diesem Punkt lebt und liebt es mit dem Munde, und die Mutter lebt und liebt durch ihre Brust« (Erikson, 1971, S. 63). Dies zeigt die wechselseitige Regulation zwischen Mutter und Säugling in einer Beziehung, in der Körperkontakt, Erfüllen wichtiger körperlicher Bedürfnisse des Kindes in einer verlässlichen Beziehung im Vordergrund stehen bzw. die Anfänge des Misstrauens, von körperlichen Unlustzuständen und Spannungszuständen gelegt werden. Werden Bedürfnisse nach körperlicher Nähe, Geborgenheit, Schutz und Nahrung verweigert, weil die Mutter Probleme mit ihrer Rolle hat oder weil äußere Umstände dies verhindern, können frühe Verlassenheitsängste und diffuse Ohnmachtszustände entstehen.

Phase 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (1. bis 3. Lebensjahr)

Diese Phase lehnt sich, aufbauend auf vertrauensvollen frühen Beziehungen, an die anale Phase von Freud an, in der es um Festhalten und Hergeben geht und das Kind einen autonomen Willen entwickelt. Wird die Körperbeherrschung von den Eltern lobend unterstützt, entwickelt sich zunehmend Autonomie, d. h. das Kind erkundet mit ersten tastenden Schritten seine Umwelt. Zugleich kann es nun, bei beginnender Schamentwicklung, zu Unsicherheiten und Zweifeln beim Kind kommen, wenn es etwa sehr streng kontrolliert, eingeengt oder wegen kleiner Fehler beschämt wird. Erziehungsmethoden, die dem Kind ein »vernichtendes Gefühl des Beschämtseins« (Erikson, 1971, S. 79) vermitteln, hält er für gefährlich: »Die Scham beutet ein zunehmendes Gefühl des Kleinseins aus, das sich paradoxerweise gerade dann entwickelt, wenn das Kind stehen lernt und nun des Verhältnisses seiner eigenen Größe und Kraft zu der seiner Umwelt gewahr wird« (ebenda, S. 80). Das Kind muss erleben können, dass es selbst explorieren und die Umwelt erkunden darf, ohne dass durch seine zunehmende Autonomie die vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern bedroht oder verändert wird.

Phase 3: Initiative vs. Schuldgefühle (3. bis 5. Lebensjahr)

Hier orientiert sich Erikson an Freud; sein Fokus liegt stark auf der Bewältigung oder dem Scheitern des Ödipuskomplexes mit den entsprechenden Konsequenzen für die Über-Ich- und Gewissensbildung. Gerade die zunehmende Autonomie, die das Kind nun erreicht hat, verbunden mit zunehmenden Fertigkeiten in Bezug auf Sprache, Bewegungsfreiheit und Vorstellungswelt machen es dem Kind in dieser Stufe möglich, seine Beziehungen sehr zu erweitern. Die Wissbegier ist auffallend und bezieht sich auch auf Sexualität, Zeugung und Geburt. Das (sexuelle) Interesse am jeweils anderen Elternteil ist geweckt, und Jungen scheinen durch ihr sicht- und greifbares Genitale besser ausgestattet als Mädchen. Ähnlich wie Freud beschrieb Erikson die Entwicklung in dieser Phase etwas stärker aus der Sicht des Jungen. Durch die Identifizierung mit den elterlichen Geboten und auf der Basis der bereits vorhandenen Schamentwicklung entstehen nun Schuldgefühle wegen kleiner Missetaten, wird die Eigeninitiative gebremst.

Phase 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)

Ab dem 6. Lebensjahr wächst das Wissen enorm, Jungen und Mädchen wollen ihre Talente ausprobieren, haben Freude an der Arbeit und Kreativität. Dieser Werksinn nach Erikson ist in allen Kulturen ausgeprägt, und alle Kulturen unternehmen auch eine systematische Unterweisung im Arbeiten, im Werkzeuggebrauch, in handwerklichen Fertigkeiten. Vor allem die Schule ist der Ort, in dem sich das Kind deutlich als kompetent bzw. inkompetent, überlegen bzw. unterlegen in Bezug auf die eigenen Fertigkeiten fühlt. Aber auch im Freizeitbereich, bei Hobbies und sportlichen oder musikalischen Aktivitäten mit Gleichaltrigen kann das Kind Anerkennung oder Minderwertigkeit und Scheitern erleben.

Phase 5: Ich-Identität vs. Ich-Identitätsdiffusion (Jugendalter)

Mit Eintreten in die Pubertät werden alle früheren Identifizierungen in Frage gestellt. Jugendliche beschäftigen sich extrem mit sich und mit der Frage, wie er oder sie in den Augen anderer erscheinen, welchen Beruf sie wählen sollen. Unklare Zukunftsoptionen verstärken das Gefühl der Unsicherheit und des Umbruchs und tragen zur Orientierungslosigkeit bei. Bei der Neukonzeptualisierung der Identität, die sich an die veränderte körperliche Erscheinung anpassen muss, geht es um eine Überprüfung und Integration früherer Identifizierungen. Es wird zugleich nach neuen Rollen und Modellen für das eigene zukünftige Ich gesucht, mit teilweise schwärmerischen Beziehungen zu (nicht-elterlichen) Erwachsenen. Das kann auch bei einer Identitätsdiffusion, »um sich zusammenzuhalten« (Erikson, 1971, S. 110), zu völliger Überidentifikation mit Helden, Cliquen etc. führen. Die Gleichaltrigen sind eine wichtige Stütze in diesem komplizierten Lösungsprozess.

Phase 6: Intimität vs. Isolation (frühes Erwachsenenalter)

Bereits in der davorliegenden Phase geht es um den Aufbau von Partnerschaftsbeziehungen als Erweiterung der Identität. Dieses Thema steht nun im Zentrum, und es sollte ein gewisses Maß an Intimität mit einem Partner möglich sein, ohne dass man Angst hat, seine Grenzen, seine Identität zu verlieren. »Es gibt keine wahre Zweiheit ehe man nicht selber eine Einheit ist« (Erikson, 1971, S. 115). Psychoseähnliche Ängste vor zu großer Nähe, aber auch zu große Distanzierung vom Partner und zu starke Selbstbezogenheit zeigen an, dass dieser Konflikt nicht gut gelöst werden konnte. Wird dieser Konflikt dagegen, aufbauend auf den erfolgreichen Lernprozessen der früheren Phasen, gemeistert, ist der junge Erwachsene zur Liebe fähig.

Phase 7: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)

Liebe ist die Voraussetzung für Generativität im Sinne Eriksons, die mehr umfasst als lediglich das Zeugen und Versorgen eigener Kinder. Es geht darum, insgesamt Sorge für die zukünftige Generation zu tragen, sich um sie zu kümmern und sich sozial verantwortlich in die Gesellschaft zu integrieren. Menschen, denen dies nicht gelingt, stagnieren in ihrer Entwicklung, dies hält Erikson, ebenso wie die Flucht vor der Intimität, für eine Kernpathologie. Verantwortung für andere zu übernehmen, wird als wesentlich für eine reife Persönlichkeitsentwicklung angesehen. Wenn dies nicht gelingt, führt dies zur Stagnation, zu Einsamkeit und Egoismus. Die Fähigkeit zur Fürsorge sollte allerdings nicht so weit gehen, sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren.

Phase 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)

In dieser Phase erfolgt in der Regel ein Lebensrückblick mit einer Bilanzierung, inwieweit man seinen Identitätsentwurf auch verwirklichen konnte und mit seinem Leben zufrieden ist, oder ob man verzweifelt versucht, noch nicht gelebte Facetten umzusetzen: »Die Zeit ist kurz, zu kurz, um ein neues Leben zu beginnen« (Erikson, 1971, S. 119). Die Verzweiflung am Lebensende, die Todesfurcht sind wesentliche Anzeichen dafür, dass der Konflikt dieser Phase nicht angemessen gelöst werden konnte. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen gelebten Leben ist für Erikson wichtiger Abschluss, in dem erneut integrative Fertigkeiten notwendig sind, um die verschiedenen Aspekte des gelebten Lebens zusammenzubringen und nicht ob des Resultats zu verzweifeln.

Jede der acht Phasen stellt demnach eine Krise dar, mit der das Individuum sich aktiv auseinandersetzten sollte. Die Stufenfolge ist für Erikson unumkehrbar. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsphase liegt in der Klärung des Konflikts auf dem positiv ausgeprägten Pol. Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen, und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. Dabei wird ein Konflikt nie vollständig gelöst, sondern bleibt ein Leben lang aktuell, war aber auch schon vor dem jeweiligen Stadium als Problematik vorhanden. Das wird besonders deutlich beim Identitätsthema, wie noch zu zeigen sein wird.

Die erste Fassung des Stufenmodells wurde 1950 im Buch Childhood and Society unter »Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit« veröffentlicht. Es ist interessant zu sehen, dass es offenkundig nicht ganz einfach ist, die Phase, in der man sich gerade befindet, konzeptuell zu bearbeiten. Erikson ist selbst ein gutes Beispiel dafür, dass man in der Regel nicht den Blick hat für die eigene Entwicklungsphase, sondern dass dies eher durch eine Sicht von außen ermöglicht wird (Seiffge-Krenke, 2012a):

Das siebte Stadium Generativität war ursprünglich gar nicht vorgesehen. Wie ist es entstanden? Erikson war mit seiner Frau auf dem Weg zu einem Vortrag; von Berkeley aus wollte er den Zug nach Los Angeles nehmen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie drei kleine Kinder. Während der Autofahrt von Berkeley zur Train Station San Francisco amüsierten sie sich darüber, dass Shakespeare, als er die »Seven ages of men« aus »As you like it« beschrieben hat, komplett das Play Stage vergessen hatte, und kamen sich sehr weise vor. »Oh Schreck, er hat sieben Stadien und das Spielstadium vergessen. Haben wir nicht auch sieben Stadien? Was haben wir eigentlich übersehen? Wir sind von Intimität, Stadium 6, zu Integrität im höheren Erwachsenenalter, Stadium 7, gesprungen«. Während der Autofahrt, die Zeit eilte, haben Erikson und seine Frau relativ schnell ein neues, ein siebtes Stadium entwickelt, die Generativität. Interessanterweise sind sie auf das Stadium, in dem sie sich selber befanden, Generativität, erst durch einen Zufall gekommen (Erikson, 1982/1997, S. 3).

Nach Eriksons Tod legte seine Frau Joan eine Weiterentwicklung des Modells vor, in dem sie 9 Phasen postuliert (Erikson, 1982/1997). Die letzte Phase der Gerotranszendenz setzt sich mit dem Altern und dem Tod auseinander. Sie ordnet sie den 80- und 90-Jährigen zu, die sich mit körperlichen Einschränkungen und Verfall, Aufgeben der Autonomie beschäftigen müssen, und nennt sie »a second childhood without play« (Erikson 1982/1997, S. 118). Die Perspektive liegt hier auf dem Kosmischen, Transzendenten, dem Eins-Sein mit der Welt.

Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich

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