Читать книгу Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich - Inge Seiffge-Krenke - Страница 9
2.1.1 Erik H. Erikson: Der Begründer der psychoanalytischen Identitätstheorie und seine ganz persönliche Identitätskrise
ОглавлениеWenn wir gegenwärtig, wie noch genauer zu schildern sein wird, eine veränderte Identitätsentwicklung mit einer relativ langen Phase der Exploration, des Ausprobierens, für charakteristisch halten, so sollte dies nicht den Blick darauf verstellen, dass es schon immer Personen gab, die eine ausgedehnte Explorationsphase durchmachten, in der sie sich fragten, wer sie seien und welche Ziele sie in ihrem Leben anstreben wollten. Allerdings war eine solche Entwicklung eher die Ausnahme, und, wie man anhand der Biographie von Erikson sehen kann, durchaus auch quälend. Vielleicht waren aber die vielen biographischen Brüche und die von ihm selbst als belastend erlebte Unschlüssigkeit und Unklarheit, welchen Beruf er ergreifen sollte, die persönliche Grundlage dafür, dass er sich dem Identitätsthema widmen konnte.
Erikson wurde 1902 bei Frankfurt/Main geboren. Er war der Sohn einer dänischen Jüdin, die sich kurz zuvor von ihrem dänischen Ehemann getrennt hatte, der allerdings nicht der leibliche Vater von Erikson war. Sein ganzes Leben lang hat Erikson die Frage, wer sein Vater war, sehr beschäftigt, er stellte viele Nachforschungen an, und es belastete ihn, dass er diese Frage nie wirklich klären konnte. Die ersten drei Jahre seines Lebens trug er den Nachnamen seiner Mutter, er hieß also Erik Abrahamsen, nach deren Heirat mit dem Kinderarzt der Familie 1905 hieß er Erik Homburger. Auch sein Stiefvater war Jude, und manche antisemitischen Angriffe während seiner Schulzeit in Karlsruhe machten aus ihm einen scheuen und zurückhaltenden Jugendlichen. Hier lernte er mit 16 Jahren Peter Blos kennen, der aus Karlsruhe stammte, mit dem er später intensiv zusammenarbeiten sollte und der ebenfalls eine Differenzierung in Phasen mit spezifischen Entwicklungsanforderungen und Aufgaben formulierte, allerdings lediglich für das Jugendalter.
Nach seinen Schuljahren geriet Erikson in eine Krise, weil er sich für keinen Beruf entscheiden konnte. Eriksons Eltern hatten genaue Vorstellungen von seiner beruflichen Ausrichtung, mit denen er sich jedoch nicht anfreunden konnte. Durch seine Weigerung, die von den Eltern gewünschte Arztlaufbahn einzuschlagen, geriet er nach dem Abitur in ein langes krisenhaftes Moratorium. Er versuchte sich als Künstler, brach aber immer wieder den Versuch, eine künstlerische Ausbildung an einer Kunstakademie zu absolvieren, ab und unternahm eine Wanderung durch Europa. Diese Wanderjahre, in denen er sich immer wieder als Künstler versuchte, waren durch eine innere Unausgeglichenheit gekennzeichnet, die ihn später, wie er schreibt (Erikson, 1982), zu dem Thema der Identitätskrise disponierte.
Später holte ihn Peter Blos nach Wien, wo er als Lehrer an der Burlingham-Rosenfeld-Schule arbeitete, deren Direktor sein Freund Peter Blos war. Erikson war zu jener Zeit Mitte zwanzig und verstand sich selbst als Künstler. Er arbeitete mit Holzschnitten und stellte verschiedentlich aus, u. a. in München zusammen mit Max Beckmann und Wilhelm Lehmbruck. Erikson war zwar weiterhin an der Kunstakademie eingeschrieben, machte sich aber, rastlos wie er war, immer wieder auf die Wanderschaft und verbrachte eine Zeit in der Toskana. Rückblickend schreibt er: »Ich war zu jener Zeit wohl ein ›Bohemien‹.« Erst in der Wiener Zeit und nur mit Hilfe seines Freundes Peter Blos habe er »regelmäßig arbeiten« gelernt (Erikson1982, S. 27).
Die frühe Psychoanalyse mit ihren unkonventionellen Ansichten, die insbesondere die sexuelle Prüderie und Doppelmoral entlarvte, übte auf Erikson einen großen Reiz aus. Die dort vertretenen Ideen halfen ihm dabei, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und seine berufliche und weltanschauliche Identität zu formen. Er machte seine Lehranalyse bei Anna Freud und unterzog sich einer Ausbildung zum Psychoanalytiker. In dieser Zeit, etwa 1927, hatte er eine schwere depressive Krise und lernte auch seine spätere Frau Joan, eine Kanadierin, kennen. Seine Heirat in diesen Jahren war ein weiterer Faktor für nun zunehmende Stabilität in seinem Leben. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Das jüngste Kind, Neil (* 1944), litt an einem Down-Syndrom und es blieb eine belastende Erfahrung für die gesamte Familie, dass Neil in ein Heim gegeben wurde und jung, mit 21 Jahren, starb.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verließ die Familie mit dem ältesten Sohn Kai Wien und emigrierte in die USA. Dieser Wechsel war auch mit einer Veränderung des Nachnamens der Familie verbunden. Der bisherige Name »Homburger« wurde für alle in »Erikson« (»Eriks Sohn«) umgeändert, lediglich Erikson behielt den Namen »Homburger« als mittleren Bestandteil seines Namens bei.
Eriksons Ideen über Kultur und Gesellschaft wurden beflügelt durch die Bekanntschaft mit Alfred Kroeber, einem deutschen Anthropologen, der in Berkeley einen der letzten Überlebenden der Yahi-Indianer in die westliche Zivilisation gebracht und die Anpassungsversuche von Ishi beobachtet und beschrieben hatte. Gemeinsam mit Kroeber lebte er im Jahr 1938 eine Zeitlang mit einer Untergruppe der Sioux-Indianer, den Oglaja, im Pine Ridge Reservat, Süd Dakota, zusammen und analysierte deren Zusammenleben und die Kindererziehung, die er in Kindheit und Gesellschaft darstellt. In diesem Buch beschreibt er auch den an der Westküste lebenden Indianerstamm der Yurok, die andere Erziehungshaltungen ihren Kindern gegenüber hatten als die Oglaja. Wie sich dieses so andere Erziehungsverhalten in einem anderen kulturellen und Lebenskontext auswirkte, schildert er eindrucksvoll. Beide Indianerstämme hatten sehr verschiedene Lebensräume und entwickelten auch sehr verschiedene Identitäten und Persönlichkeitsmerkmale.
Nach seiner Emigration war Erikson zunächst als Psychotherapeut und Dozent tätig und hatte später eine Professur in zwei sehr renommierten amerikanischen Hochschulen (Harvard und Berkely) inne, eine ganz ungewöhnliche und in Deutschland ohne akademische Ausbildung undenkbare Karriere. Zu diesem Zeitpunkt gab es durch die Emigration vieler jüdischer Psychoanalytiker wie Karen Horney, Erich Fromm, Wilhelm Reich bereits Erweiterungen des klassischen Ansatzes, für Erikson blieb das Werk von Sigmund Freud aber seine wichtigste geistige Prägung. Er entwickelte Freudianische Ideen weiter, mit seiner Stufenfolge der Entwicklung und der Identitätstheorie bezeichnete er sich als Stiefsohn Freuds. Erikson wurde 1956 nach Frankfurt eingeladen, um den Festvortrag zum 100. Geburtstag von Sigmund Freud zu halten. Zahlreiche Ehrungen und Preise, z. B. 1970 der Pulitzer Preis für seine Arbeit über Ghandi, krönten das Lebenswerk des genialen Autodidakten (Conzen, 2017). In seinen späteren Lebensjahren, etwa ab 1980, zog sich Erikson zunehmend zurück und litt wieder stärker unter Depressionen und Gefühlen der Wertlosigkeit, die ihn auch früher schon begleitet hatten. Möglicherweise setzte er sich während dieser Zeit wieder verstärkt mit Fragen der Identität auseinander. In der letzten Stufe seines psychosozialen Modells der Entwicklung geht es wiederum verstärkt um Identität und die Frage der Akzeptanz und Zufriedenheit mit dem eigenen realisierten Identitätsentwurf. In dieser Zeit war seine Frau Joan seine wertvollste Stütze, sie setzte die Arbeit an dem Stufenmodell der psychosexuellen Entwicklung fort und beschäftigte sich besonders mit der letzten Phase, dem Übergang zum Tod. Sie starb 3 Jahre nach ihrem Mann, im Jahre 1997.
In Identität und Lebenszyklus gibt er einigen Aufschluss über ein Thema, dass ihn persönlich wohl auch sehr beschäftigt haben mag. Er schildert verschiedene Fallvignetten aus seinen psychotherapeutischen Behandlungen, in denen Unterdrückte, Ausgestoßene unbewusst das negative Bild übernehmen, das die Gesellschaft oder verschiedene Gruppen ihnen zuschreiben. Für einen Patienten, einen hochgewachsenen Ranger, verlief das Leben äußerlich erfolgreich, aber er war innerlich von Ängsten, Zweifeln und Zwängen geplagt. Nur seine Frau wusste, dass er als Jude geboren und in einer Judenstraße in einer Großstadt aufgewachsen war. In der Analyse wurde deutlich, dass seine Freunde und Gegner unbewusst die Rolle der deutschen Jungen einnahmen, die den kleinen Jungen auf seinem Schulweg quälten – der Weg, wie er schreibt, »von einer abgelegenen und vornehmeren Judenstrasse durch feindliche Häuserruinen und Bandenkriege zu einem kurzfristigen Aufenthalt in einem demokratischen Klassenraum« (Erikson, 1971, S. 30). Die Analyse dieses Mannes zeigte auf betrübliche Weise das negative Bild einer jüdischen Identität, eines jüdischen Aussehens, dem dieser Patient sogar durch Schönheitsoperationen abhelfen wollte. Hier wird deutlich, dass die Identität auch das körperliche Ich umfasst, und bereits Freud betonte, dass das erste Ich vor allem ein körperliches ist. Selbstkonzept und Körperkonzept sind also untrennbar in der Identität miteinander verschmolzen.