Читать книгу Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi - Ингер Фриманссон - Страница 23

5. KAPITEL

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Sie gingen zum Kahlschlag hinauf, es war schon spät. Sie stolperte über Zweige und Wurzeln. Ulf ging neben ihr, hielt sie ab und zu fest, aber nicht mit liebevollen Händen, sondern mit den Händen eines ganz gewöhnlichen Mannes.

Und sie?

Eine ganz gewöhnliche Frau!

Silberglanz zwischen den Blaubeersträuchern, sie musste hin und nachsehen. Es war ein Fisch, ein Barsch, der noch nicht lange tot war. Sein Kopf zeigte von ihr weg und Dreck und Tannennadeln bedeckten sein Auge.

Sie war betrunken, sie waren beide sehr betrunken.

»Sieh mal«, flüsterte sie. »Sieh mal, wie seltsam! Hier gibt es doch gar kein Wasser, wie kann ein Fisch da auf dem Trockenen landen?«

Ulf war bei ihr und stubste ihn mit seinen kurzen sauberen Fingernägeln an.

»Ja, das ist wirklich merkwürdig.«

»Als wäre er vom Himmel gefallen.«

Er drehte ihn mit dem Fuß um, die Kiemen waren aufgerissen und rot. Eine Schmeißfliege summte um sie herum.

»Wo kommt er nur her?«

»Keine Ahnung«, flüsterte sie, hatte aber noch keine Angst.

Ulf nahm den Rucksack ab und holte eine verschmierte Flasche und zwei Pappbecher heraus. Es war Madeira, den sie vor vielen Jahren aus Äpfeln gekeltert hatten. Sie verwahrten ihn im Vorratskeller, tranken aber nur selten davon. Er war sämig und viel zu süß. Ulf klemmte die Flasche zwischen die Knie und zog den Korken heraus.

»Na dann, Prost!«

»Prost . . . ich komme einfach nicht über diesen Fisch weg.«

»Jetzt lass das doch!«, fuhr er sie an. »Vermutlich werden wir nie etwas über ihn erfahren. Da brauchen wir auch nicht weiter darüber zu spekulieren.«

»Was ist eigentlich los mit dir, Ulf, was ist los?«

Er fuhr herum, seine Lippen waren blass und aufgesprungen.

»Mit mir? Nichts ist mit mir.«

»Doch, ich weiß, dass da was ist, das sehe ich dir an, ich weiß es. Und ich möchte, dass du mir erzählst, was los ist . . . Im Grunde will ich es gar nicht, aber ich kann doch nicht die ganze Zeit den Kopf in den Sand stecken, du hast doch selbst gesagt, dass ich so bin, dass ich ein feiger und ängstlicher Mensch bin, der am liebsten immer vor allem davonläuft, und das will ich jetzt auch, Ulf, ich will davonlaufen, aber wenn ich dich hier so bei mir stehen sehe, wenn ich weiß, das, was du mir zu sagen hast, könnte mein ganzes Leben verändern, falls es etwas Furchtbares und Schlimmes ist . . . dann muss ich es doch trotzdem . . . wagen. Man muss doch auch mal mit gutem Beispiel vorangehen, nicht wahr?«

Sie lachte mit steifen Lippen.

Ulf hob seinen Becher an die Lippen, sie sah die Bewegungen seines Adamsapfels. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Du hast Recht«, sagte er feindselig. »Es ist etwas. Und wenn du nicht so darin herumgestochert hättest, dann hätte es sich vielleicht von selbst wieder gelegt. Aber jetzt hast du es ans Licht gezerrt und wir wollen es uns genauestens ansehen.«

Er sprach ein wenig lallend und machte eine Pause, so als wollte er ihr die Chance geben, sich die Ohren zuzuhalten und sich vor seine Füße zu werfen, um ihn anzuflehen, doch zu schweigen, wie sie es sonst immer tat, diesmal aber nicht.

Also sagte er es.

»Ich habe in letzter Zeit oft mit Ylva geredet und wir sind uns wieder etwas näher gekommen. Wenn man ein Kind mit jemandem hat, wird alles irgendwie . . . so innig.«

»Innig?«

»Ja. Innig.«

Sie fühlte sich auf einmal seltsam leicht und hatte das Gefühl, ihre Füße würden vom Moos abheben und sie würde zwischen den Baumstämmen schweben. Der Sturm hatte im letzten Frühjahr hier gewütet, an mehreren Stellen lagen umgestürzte und abgeknickte Bäume. Ulf saß auf einem Baumstamm. Sie dachte, dass seine Hose Harzflecken bekommen würde, aber dass ihr das jetzt auch egal sein konnte, Ylva, seine frühere Frau, würde sich darum kümmern, so wie sie sich um alles kümmern würde, was mit ihm zu tun hatte. Um seine Kleider, seine Gedanken, seinen Sohn.

»Weiß Albin davon?«

Sie hatten sich hingelegt, aber das Zimmer drehte sich in der Dunkelheit.

»Was meinst du, was soll Albin wissen?«

»Dass du und Ylva euch trefft.«

»Wir haben nie aufgehört uns zu treffen.«

»Ja, aber so, wie du gesagt hast. Innig.«

»Es kann Albin ja wohl kaum schaden, dass seine Eltern sich nicht mehr streiten.«

Beth riss sich das Betttuch vom Leib, es drückte auf ihre Brust und machte ihr das Atmen schwer.

»Wie ist es dazu gekommen?«, flüsterte sie. »Wie konnte diese Innigkeit wieder aufleben? Doch! Ich will es wissen.«

Ulf saß auf der Bettkante, nackt und aufrecht.

»Ich weiß nicht, sie ist doch jetzt allein, Robban ist ausgezogen. Aber ich weiß nicht, wie es gekommen ist, dass wir . . . Auf so eine Frage gibt es keine Antwort.«

Sie weinte, konnte nicht mehr klar denken.

Er hatte sich jetzt zu ihr umgedreht, seine Stimme war schneidend und kalt.

»Beth, du hast mich doch selbst gezwungen, es zu erzählen!«

»Was meinst du mit innig?« schrie sie.

»Was?«

»Du hast gesagt, dass alles so innig wird, wenn man Kinder mit jemandem hat. Das hast du da oben auf dem Kahlschlag gesagt.«

»Ach was, ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt, musst du immer jedes Wort auf die Goldwaage legen! Aber ein Kind schweißt einen eben zusammen. Das lässt sich doch nicht abstreiten.«

Beth machte das Licht über ihren Betten an. Er sah krank aus, die Haare auf seinen Armen sträubten sich. Als würde er hier oben unter dem Dach frieren, als wäre es auf einmal Herbst, November.

»Aber es muss natürlich ein lebendiges Kind sein«, sagte sie.

»Nein, fang jetzt nicht wieder damit an.«

»Sollte einen ein totes Kind dann nicht noch mehr zusammenschweißen? Oder zwei wie bei uns. Zwei kleine, tote Zwillinge . . . die einen Tag gelebt haben . . . und dann gestorben sind.«

»Reiß dich zusammen, das geht zu weit.«

»Wenn du mir damals eine Stütze gewesen wärst . . . wenn du dich nicht von mir abgewandt und mich allein gelassen hättest . . . dann hätten wir gemeinsam trauern können. Wenn du nicht so egoistisch gewesen wärst. Du hast mir Angst gemacht, ich saß die Tage und Abende da, Juni rief an, bist du etwa ganz allein, du darfst jetzt nicht allein sein, dann kam sie vorbei und hatte Pastete und dunkle Trauben gekauft, du musst essen, Beth, du musst jetzt stark sein!«

»Das geht unter die Gürtellinie. Ich habe das alles schon hundert Mal gehört, so oft, dass es nicht mehr . . . und das weißt du auch, es hat keinen Sinn, weiter mit dir zu reden, es funktioniert nicht, ich komme nicht an dich heran, das ist mir noch nie gelungen, jedenfalls nicht, wenn es um dieses Thema geht.«

Sie konnte einfach nicht aufhören:

»Und Juni hat mich gefragt, was ist mit Ulf, wo ist er, hat sie gefragt. Was sollte ich denn antworten? Er ist auf der Arbeit, ich glaube, es sind ein paar Leute ausgefallen, deshalb musste er . . . Wenn ich dich ausgeliefert hätte . . . dann wäre das doch auch auf mich zurückgefallen, ich wäre eben nicht in der Lage gewesen, meinen Mann zu Hause zu halten, den Vater der toten Kinder, sie wäre wahnsinnig wütend auf dich geworden und das konnte ich nicht ertragen . . . als hätte ich dich dadurch dann auch noch verloren, Ulf, ich brauchte dich doch so sehr. Ja, innig.« Sie lachte auf. »Wenn ich so sagen darf.«

Er saß mit gesenktem Kopf da.

»Ich habe doch auch getrauert«, sagte er mit belegter Stimme, »und das weißt du verdammt gut. Aber auf meine Art eben. Es können nicht alle so trauern wie du. Wenn du das doch irgendwann einsehen könntest! Ich konnte nicht schreiben, die Worte verhedderten sich und wurden Buchstabensalat, ich konnte nicht weinen. Nicht wie du, du hast es doch wenigstens irgendwie rausgelassen. In gewisser Weise hast du mir die Trauer abgenommen.«

»Oh nein, mein Lieber!«, schrie sie. »Das kannst du nicht sagen! Trauer lässt sich nicht messen, sie ist nicht rationiert. Die Trauer reicht für alle, alle.«

Er schwieg.

»Albin durfte seine kleinen Halbschwestern nicht behalten«, fuhr sie fort und wusste, dass sie jetzt zu weit ging, aber sie konnte sich nicht bremsen. »Ich weiß, dass er traurig darüber war. Während der ganzen Schwangerschaft haben Albin und ich uns über sie unterhalten, jeden Tag. Über Kinder und wie sie entstehen. Und dann . . . Er wusste, dass er zwei Schwestern bekommen hatte, sie aber nie nach Hause kommen würden, er würde sie nie zu Gesicht bekommen oder ihre kleinen warmen Köpfchen anfassen dürfen, die Fontanellen, ich hatte ihm das alles erklärt, er war alt genug, um es zu verstehen, fünf Jahre alt. Er war ein aufgeweckter kleiner Junge, dein Albin. Trotz allem, was er durchgemacht hatte.«

Ulf stand bei den Kleidern, suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Seine Fersen donnerten die Treppe hinunter. Sie folgte ihm in ihrem nahezu durchsichtigen Nachthemd.

Nylon, dachte sie. Aber es war aus gewöhnlicher Baumwolle.

Sonst!

Hätte sie!

Mit der Glut zu nahe kommen und in Flammen aufgehen können.

Sie standen auf der Treppe und rauchten. Hier draußen war es kühl und feucht, die Sträucher hatten tiefere Farben bekommen. Ihre Fußsohlen brannten, sie tauchte sie ins Gras, schauderte. Weiter weg am Waldrand sah sie etwas Helles. War es die Katze, die auf Mäusejagd war?

»Weißt du, heutzutage darf man seine toten Babys fotografieren«, sagte sie leise. »Man darf sie sogar mit nach Hause nehmen, wenn man will. Ein paar Stunden, einen Abend, es ist ein Stück Trauerarbeit. Anita, die Psychologin, mit der ich damals gesprochen habe, hat mir das erzählt.«

»Das ist doch krank!«, sagte er gepresst. »Mit Leichen nach Hause zu fahren!«

»Es sind immerhin die eigenen Kinder.«

»Ja, aber trotzdem!«

»Man darf sein totes Baby waschen und ihm eine Windel anlegen. Wenn man will, kann man ihm die Kleider anziehen, die man bereitgelegt hatte, ein paar Kerzen anzünden und eine schöne, stimmungsvolle Atmosphäre schaffen, damit sie nicht einfach nur verschwinden wie unsere. Sie verschwanden irgendwo im Keller in einer Kühlbox. Die kleinen Körper, die ich fast sieben Monate lang gewärmt habe, mit meinem eigenen Blut gewärmt habe, sollten plötzlich mir nichts dir nichts in die Kälte.«

»Ich habe sie doch gesehen«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich habe sie gesehen, als sie herauskamen. Aber nicht lange, sie haben sie genommen und sind mit ihnen losgerannt und dann habe ich sie noch einmal im Brutkasten gesehen, ihre kleinen, krummen Beine. Wenn du die Kraft gehabt hättest mitzukommen, ehe sie . . . Aber du warst ja so müde und . . . du hast gesagt, dass du sie nicht . . .«

»Du hättest versuchen sollen mich zu überreden, du musst doch begriffen haben, wie es mir ging nach all dem Schrecklichen. Ich stand unter Schock, verstehst du, ich hatte in diesem Moment einfach nicht die Kraft, für andere als mich selbst da zu sein und musste mich erst erholen, aber nachher, wenn ich gewusst hätte . . .«

Sie hatte fast dreißig Stunden im Kreißsaal gelegen. Wegen der Schmerzen konnte sie nicht mehr denken, keine Sehnsucht mehr empfinden. Am nächsten Tag hatte man sie in einem Rollstuhl hinübergefahren, aber da war es bereits zu spät. Seite an Seiten lagen die kleinen Mädchen vor ihr, eingewickelt in saubere gelbe Decken. Bei dem einen war die Oberlippe ein wenig hochgeglitten. Beth konnte die blasse Rundung des Gaumens erkennen.

Sie hatte zu der Ärztin aufgeblickt, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen. Sie empfand tiefes Mitleid mit dieser Frau, von der nun eine Erklärung erwartet wurde. Hoch über Beth erklang ihre heisere Stimme:

»Ja . . . manchmal ist man furchtbar machtlos in diesem Beruf. Und dabei sind es so hübsche Kinder. Sie können mir glauben, ich weiß, was Sie jetzt durchmachen.«

Nein. Das konnte sie nicht wissen. Nur sie selbst konnte das wissen. Sie, die Mutter, denn sie hatte die beiden unter ihrem Herzen getragen und mit einer fröhlichen und ungeduldigen Sehnsucht in ihrem ganzen Körper erwartet.

Sie organisierten eine richtige Beerdigung. Der Gottesdienst fand in der Kirche von Hässelby Villastad statt. Der Weg, der zur Kirche hinauf führte, war mit feuchtem Laub bedeckt. Sie erinnerte sich noch, dass sie ausrutschte und fast hingefallen wäre. Sie hatte das Gesicht ihres Vaters vor Augen, es war das erste Mal, das sie ihn weinen sah, seine hochgezogenen Schultern und das schüttere Haar. Und ihre Mutter.

»Du schaffst das schon, Beth, du schaffst das schon. Ruh dich jetzt etwas aus und dann fangt ihr noch einmal von vorn an.«

Die Bestatterin, eine Frau namens Margit Gustavsson, hatte nicht darauf bestanden, dass Beth oder Ulf bei den Vorbereitungen dabei waren, was für sie eine große Erleichterung war. Die Frau hatte flache und weiße Hände und mit diesen Händen hatte sie die beiden Kinder in ein Leichentuch gehüllt und in den gleichen Sarg gebettet, die Gesichter einander zugewandt. Beth hatte die Lieder ausgewählt und dabei »Die Blütezeit nun kommet« durchgesetzt, obwohl es ganz und gar nicht zur Jahreszeit passte, aber das Lied machte ihr Hoffnung, Hoffnung auf eine Fortsetzung. Sie war zwar nicht religiös, aber es tat ihr dennoch gut, im Gesangbuch zu blättern, und auf ihrem Platz in der vordersten Kirchenbank sang sie auswendig mit lauter und energischer Stimme.

Nachher fuhren sie zu Hägerstalunds Wirtshaus, um mit Verwandten und Freunden zu Mittag zu essen. Auf dem Weg zum Wagen sah sie die Schule, in der sie arbeitete. Sie hatte Erziehungsurlaub nehmen wollen. Anderthalb Jahre hatte sie zu Hause bleiben wollen.

Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi

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