Читать книгу Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi - Ингер Фриманссон - Страница 26

8. KAPITEL

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Ihr Vater stand auf der Türschwelle, die Tür war nur einen Spalt weit geöffnet. Die Haare standen ihm wie ein luftiger Heiligenschein um den Kopf.

»Ich habe euch vom Fenster aus kommen sehen. Ich muss jetzt einkaufen gehen.«

»Jetzt?«, fragte sie und trat ein. Er machte Anstalten sie zu umarmen, hielt aber inne und begann, auf dem Teppich im Flur hin und her zu gehen.

»Wir müssen doch etwas essen und ich habe nichts im Haus, wisst ihr, ich lasse sie nur ungern allein.«

»Kannst du sie nicht mehr allein lassen, geht es ihr jetzt schon so schlecht?«

»Ich nutze manchmal die Gelegenheit, wenn sie schläft. Aber man weiß nie, auf was für Ideen sie kommt. Außerdem hat sie nicht gut geschlafen . . . die ganze Woche nicht. Vielleicht liegt es an der Hitze. Es hat seit dem 27. Mai nicht mehr geregnet.«

In einem Auge war eine Ader geplatzt, der Augapfel war rot. Beth konnte kaum hinsehen.

»Soll ich mitkommen?«, fragte sie.

»Nein, ich gehe allein. Geht lieber zu ihr. Vielleicht bekommt ihr sie aus dem Bett.«

Die Wohnung bestand aus drei Zimmern und einer großen rechteckigen Küche. Sie gingen in die Küche. Ihr Vater war gegangen, sie hörten seine Schritte auf dem Kiesweg. Auf dem Tisch stand eine Kaffeetasse ohne Untersetzer, er hatte ein bisschen Milch auf der Wachstuchdecke verschüttet. In der Spüle standen Teller und Gläser.

»Er kommt einfach nicht dazu«, flüsterte Beth. »Er ist immer so penibel in allem gewesen . . . aber er kommt jetzt einfach nicht mehr dazu.«

Ulf setzte sich an den Küchentisch, schlug die Lokalzeitung auf und begann zu lesen.

Beth holte ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser und trank.

Mit mehreren Kissen im Rücken saß ihre Mutter im Bett und versuchte sich die Lippen zu schminken. Lippenstift war auf dem Betttuch und ihren Händen. Der Stift war abgebrochen. Ihre runzligen Augenlider waren golden geschminkt. Die Augäpfel unter ihnen bewegten sich flatterhaft und starr. Sie trug ihr geblümtes Nachthemd und hatte sich ihre Pelzboa um die Schultern gelegt, die wie ein dünner und schlaffer Schwanz aussah.

Beth trat an ihr Bett. Das ganze Zimmer roch nach Puder und Zitrone. Ihre Mutter schien sie zunächst überhaupt nicht wahrzunehmen, griff nach einem Spiegel, begann eingehend ihre Zähne zu begutachten und wackelte am Oberkiefer. Vorsichtig setzte Beth sich auf die Bettkante. Ihre Mutter wandte sich zu ihr um und warf ihr einen gleichgültigen, verschleierten Blick zu. Aus ihrem Gesicht war jede Ähnlichkeit mit der Frau und Mutter, die sie einmal gewesen war, gewichen.

Beth räusperte sich.

»Hallo, Mama«, sagte sie. »Da sind wir. Wir kommen euch besuchen. Wie . . . wie geht es dir?«

Die Frau im Bett antwortete nicht. Stattdessen hielt sie den Spiegel näher an ihr Gesicht und zog an einem Haar, das aus ihrem Kinn spross, zog daran, schnaubte.

»Mama, ich bin es, Beth.«

Ihre trüben Pupillen, der rote Schlitz ihres Munds: »Sind Sie die Detektivin?«

»Aber Mama, wovon redest du?«

»Warum sind Sie nicht eher gekommen? Ich habe um Hilfe gebeten, aber es hat gedauert, alles dauert immer so lange. Und dabei habe ich bald nichts mehr.«

Beth griff nach ihrem Handgelenk, an dem Gold klimperte. Ihr Haut war kühl und weich wie Seide.

»Mama, ich bin es, Beth, erkennst du deine eigene Tochter nicht mehr?«

Es war, als hätte sie ihre Worte gar nicht gehört.

»Und dann all diese Ringe«, meckerte sie weiter. Auch ihre Stimme war verändert, klang gröber, wie bei einem Mann. »Ich habe gesucht und gesucht, aber jetzt weiß ich Bescheid, hier drinnen gibt es Linsen, die alles sehen, und wenn ich schlafe, kommen die Agenten und klauen meine Ringe und meinen Schmuck.«

»Aber du trägst deinen Schmuck doch, den Armreif und die Ringe . . .«

»Sie kommen, während ich schlafe. Es sind Agenten. Versuch nicht, mir was weiszumachen. Ich weiß genau, was hier vorgeht. Ich bin nicht so dumm, wie ihr denkt!«

»Aber Mama, was für Agenten, wovon redest du?«

Ulf stand in der Tür.

»Hallo, Susanne«, sagte er. »Wie geht es dir?«

Ihre Augen blitzten auf, die Hände kam auf der Decke zur Ruhe.

»Ach Ulf, mein Junge, du bist hier und kommst eine alte Dame besuchen!«

Beth stand auf und gab ihm zu verstehen, dass er näher treten solle. Gleichzeitig schlug ihre Mutter das Bettzeug zur Seite und schwang ihre Beine unerwartet geschickt über die Bettkante.

»Zeit, in die Gänge zu kommen!«

Beths Vater kehrte mit Brathähnchenhälften und Kartoffelsalat zurück. Außerdem hatte er Bier und Saft eingekauft. Sie saßen da und sahen ihm beim Tischdecken zu. Zuvor hatten sie auf dem Balkon eine Zigarette geraucht und Beths Mutter war aufgestanden und hatte sich angezogen. Als sie sich an den Esstisch setzten, beugte sie sich zu Ulfhinüber und flüsterte: »Hörmal, was ist das eigentlich für eine Person, die du da mitgebracht hast?«

»Mama!«, sagte Beth.

Ihr Vater sagte aus dem Mundwinkel: »Kümmere dich gar nicht darum, nimm es ihr nicht übel, sie ist nicht mehr die, die sie einmal war.«

Beth nahm ihre Serviette und streckte die Hand aus, um zu versuchen, etwas Lippenstift vom Kinn ihrer Mutter zu entfernen. Da blitzte eine Gabel auf und ihre Mutter stach zu. Sie verfehlte Beths Hand nur um Zentimeter, verlor das Gleichgewicht und wäre sicher gefallen, wenn Beths Vater nicht aufgesprungen wäre und sie festgehalten hätte.

Die Frau, die ihre Mutter war, betrachtete Beth mit ruhigen Augen.

»Ich habe dich gesehen«, sagte sie und senkte die Stimme, »ich habe gesehen, was in deinem Inneren ist. Und das ist wahrlich kein schöner Anblick, es ist ein Geschwür, das schwelt und stinkt.«

»Aber Mama, hör auf damit, du machst mich ganz traurig, wenn du so etwas sagst!«

»Jetzt wird gegessen!«, sagte ihr Vater fast so bestimmt wie früher, wenn Beth und Juni sich am Esstisch stritten und er den ganzen Tag gearbeitet hatte und müde war.

»Ejnar.« Sie schob seine Hände weg. »Ejnar. Ist das die Detektivin? Kann man sich denn so mir nichts dir nichts auf eine Frau verlassen?«

Nachher, beim Kaffee, war sie fast wieder wie früher, aber ihr Gesicht war ausgezehrt und die Knochen um ihre Augenhöhlen traten hervor wie die Ränder kleiner Krater. Ihre Haare waren lang, aber sie waren schütter geworden und an mehreren Stellen schimmerte die Kopfhaut durch, was sie schutzlos aussehen ließ.

»Dein Papa hat es nicht leicht mit mir«, sagte sie und ihre Tränen kullerten die Falten ihrer Wangen herab. »Er ist ein Kavalier, dein Vater, ein richtiger Kavalier.«

Beth streichelte ihre Hand.

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß genau, was du meinst.«

Es entwickelte sich ein ganz normales Gespräch, zunächst nur zögernd, aber dann immer entspannter. Ihr Vater fragte, ob es ihnen im Sommerhaus gefallen habe, wie lange sie noch blieben und wann Juni und ihr Mann kommen wollten. All das wusste er längst, aber es war notwendig, um die Konversation in Gang zu halten.

»Juni war so furchtbar dünn, als sie das letzte Mal hier war«, sagte Beths Vater. »Sie ist doch nicht etwa krank? Oder Beth? Du weißt das doch sicher.«

»Sie isst bestimmt nicht besonders regelmäßig«, erwiderte Beth.

»Und Werner? Ihr Mann? Wie geht es ihm?«

»Wir treffen die beiden fast nie. Sie arbeiten die ganze Zeit. Sie haben viel zu viel um die Ohren.«

»Bei Werner kann ich das ja noch verstehen. Bankleute führen ein hektisches Leben. Aber Juni? Wo arbeitet sie jetzt nochmal? Ich kann es mir einfach nicht merken, sie hat es mir zwar gesagt, aber ich bin trotzdem nicht ganz sicher.«

»Sie arbeitet als freie Journalistin, Papa. Sie schreibt für alle möglichen Zeitungen. Unter anderem für eine namens ›Metro‹, aber die kennst du bestimmt nicht, die kann man nicht kaufen. Sie liegt in Stockholm in der U-Bahn aus und ist gratis.«

Ihr Vater wandte sich an Ulf.

»Gratis? Wie ist das möglich?«

»Sie finanziert sich durch Anzeigen«, antwortete Ulf.

»Tatsächlich.«

»In Göteborg gibt es sie auch. Und in ein paar Städten im Ausland.«

»Aber ich verstehe das nicht ganz, besteht sie denn nur aus Anzeigen?«

»Nein, nein, es stehen auch richtige Artikel darin, manchmal sogar richtig gute Reportagen. Ich habe selbst schon ein paar Artikel an sie verkauft.«

»Es kostet doch sicher einiges, sie zu machen, oder? Die Journalisten wollen ihr Honorar haben. Und die Druckerei.«

»Zumindest sparen sie die Kosten für den Vertrieb. Die Leute nehmen sie sich einfach in der U-Bahn.«

»Tatsächlich.«

Beth beobachtete ihren Vater, seine schönen langen Finger. Er hatte sich sein Dasein als Rentner sicher anders vorgestellt. Sie wollten gemeinsam auf Reisen gehen, Bridge spielen, gut essen und das Leben in vollen Zügen genießen. Sie bekam Lust, die knorrige Gestalt zu umarmen und lange und fest zu halten. Aber so hatte man sich in ihrer Familie nie verhalten. Nur ganz selten kam es zwischen ihnen zu körperlichem Kontakt. Sie würde ihn nur verlegen machen, vielleicht sogar wütend.

Beths Mutter stand plötzlich auf und begann, die Kissen auf dem Sofa hochzuheben. Sie murmelte etwas, stieß kurze Wortfetzen aus, immer kraftvoller, aber dennoch unverständlich.

»Sie sucht«, sagte ihr Mann müde.

»Was sucht sie denn?«

»Nun ja, in erster Linie ihren Schmuck. Die Sucherei setzt einem ganz schön zu, sie verrückt die Möbel und räumt Sachen um, bis man am Ende nichts mehr findet.«

Beth griff nach dem Rock ihrer Mutter.

»Mama . . . suchst du nach deinen Ringen? Du trägst deine Ringe doch. Und den Armreif auch. Siehst du das denn nicht?«

Die Augen der alten Frau waren unstet, aber dann sah sie Beth mit stechenden Augen an: »Willst du mich etwa daran hindern?«

Beth schaute zu ihrem Vater hinüber. Ulf ging zum Fenster.

»Lass sie in Ruhe«, flüsterte ihr Vater. »Man kommt nicht an sie heran, wenn sie so ist.«

Er ging zum Sofa und fasste seine Frau bei den Schultern.

»Susanne«, flüsterte er. »Bist du müde? Möchtest du dich vielleicht ein wenig ausruhen?«

Sie sackte zusammen, ihre Wange ruhte an seiner Schulter. Eine weiße Haarsträhne fiel auf ihre Lippen herab.

»Obwohl es eigentlich nicht gut ist, wenn sie tagsüber schläft, denn dann ist sie nachts umso aktiver. Und ich muss doch auch irgendwann einmal schlafen.«

»Papa, willst du nicht versuchen, sie irgendwo unterzubringen?«

Er schwieg.

»Du hältst das sonst nicht durch. Du bist doch auch nicht mehr der Jüngste. Dann könntest du uns auch einmal in Hässelby besuchen kommen und wir könnten ins Technische Museum gehen und so. Dinge tun, die dir Spaß machen. Ein Konzert besuchen oder ins Theater gehen.«

»Wir werden sehen, Beth. Wir nehmen jeden Tag, wie er kommt. Ich will auf keinen Fall etwas beschleunigen, verstehst du.«

Er half der alten Frau zum Sofa, hob ihre Beine hoch und zog ihr die herabgerutschten Strümpfe wieder hoch. Anschließend holte er ein Betttuch und deckte ihren zusammengekauerten Körper vorsichtig damit zu. Ihre Mutter lag da wie ein kleines Mädchen.

»Möchtet ihr noch eine Tasse Kaffee?«, fragte er.

»Ich glaube nicht, wir werden uns bald wieder auf den Weg machen«, erwiderte Ulf.

»Ja, natürlich, ach übrigens . . . Ich habe in der Zeitung gelesen, dass aus dem Gefängnis in Tidaholm zwei Häftlinge entflohen sind. Sie sollen extrem gefährlich sein. Ihr seid doch vorsichtig, nicht wahr?«

»Ja, das habe ich auch gelesen«, meinte Ulf.

Beth stand auf. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

»Und wie stellt man das bitteschön an«, sagte sie hitzig. »Vorsichtig zu sein, meine ich? Wenn sie ausgebrochen sind, dann sind sie eben ausgebrochen. Daran können wir jetzt auch nichts ändern. Wir können nur zu Gott beten, dass sie nicht zufällig auf die Idee kommen, ausgerechnet unsere bescheidene Bleibe heimzusuchen.«

Ulf starrte sie an.

»Sie sollen bewaffnet sein«, fuhr ihr Vater fort. »Keine Ahnung, wie sie an Waffen gekommen sind. Das kann man sich nun wirklich fragen. Aber wir wollen hoffen, dass die Polizei sie schnappt, ehe sie etwas anstellen können.«

»Darf ich mal sehen, wo steht das denn?«, fragte Beth.

»Hier, schau.«

Er schlug die Zeitung auf. Die Schlagzeile prangte auf der Titelseite:

Gefährliche Häftlinge aus Tidaholm ausgebrochen.

Sie dachte an die Kätzchen und hatte keine Ruhe mehr:

»Wir müssen los.«

Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi

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