Читать книгу Tiefe Schreie - Ингер Фриманссон - Страница 10

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Es gelang ihr, den Schlafsack rauszuschaffen. Sie warf ihn ins Gras, aber als sie ihn später holen wollte, war er vollkommen durchnässt. Das Löschwasser hatte ihn so ziemlich ruiniert. Das machte nichts. Sie dachte sowieso nicht daran, jemals wieder in einen Schlafsack zu kriechen.

Als sie klein war, zelteten sie immer. Sie lag auf einer Decke zwischen Papa und Mama, reingestopft in einen quietschgrünen Schlafsack, den Reißverschluss bis oben geschlossen, sodass sie in Panik geriet. Sie wollte lieber zu Mama rüberkriechen und sich an sie schmiegen, Mama sollte ihr über den Rücken streichen, sie wollte den ganz besonderen Mamageruch schnuppern. Aber das ging in einem Zelt ja nicht.

Sie erinnerte sich, dass es Spaß machte, das Auto zu packen. Sie nahm Bücher und einen Malblock mit, Farbstifte, einen Walkman und einen Band mit den Märchen der Brüder Grimm. Sie hatte neue weiße Socken und unter dem einen war ein Kaugummi festgeklebt. Sie kratzte daran, bekam ihn aber nicht los, sie fühlte ihn wie einen harten kleinen Knoten unter der Fußsohle. Papa klappte das Autoverdeck auf und fuhr, dass sein blonder Pony geradewegs nach oben stand.

»Jetzt haben wir verdammt noch mal endlich Urlaub!«

Und er war gar nicht böse, als er das sagte, auch wenn er fluchte. Er legte eine Hand auf Mamas Schenkel, und Mama band sich ein Tuch um und malte sich die Lippen an.

Sie fuhren nie auf Campingplätze. Sie wollten lieber für sich sein. Sie bauten ihr Zelt an irgendeinem See oder auf einer schönen Sommerwiese auf, aber das Problem war, dass es meistens sehr lange dauerte, bis sie den richtigen Platz gefunden hatten. Wenn alles fertig war, war es schon ziemlich spät geworden.

In der immer dichter werdenden Dunkelheit zog Papa den Korken aus einer Weinflasche. Josefina bekam Apfelcidre. Das Essen kochten sie auf einem kleinen Spirituskocher. Nachdem sie gegessen hatten, merkte sie, dass die Eltern es am liebsten hätten, wenn sie ganz schnell schliefe, schließlich legte sie sich auch hin, schloss die Augen und versuchte so schwer zu atmen, wie man es tut, wenn man schläft.

Sie wollte ihnen und dem, was sie machen wollten, nicht im Weg sein. Dabei gab es absolut keinen Platz für ein Kind.

Wenn sie dachten, sie würde schlafen, zogen sie sich nackt aus und liebten sich im Gras vor dem Zelt.

Jetzt dachte sie daran und verspürte ein Gefühl des Ekels.

Und sonst. Wenn keine Ferien waren. Sie hatte ziemlich häufig das Gefühl gehabt zu stören. Das war in den letzten Jahren noch schlimmer geworden, Mama hatte jetzt immer wieder Schreibprobleme, fühlte sich nicht inspiriert. Wenn man versuchte ihr etwas zu sagen, konnte es vorkommen, dass sie zusammenzuckte und dann anfing zu schimpfen. Weil man ihre Gedankengänge unterbrochen hatte. Weil man überhaupt da war.

Und oft, oft kam es zu einem Streit zwischen Mama und Papa. Er wollte etwas zu essen, wenn er nach Hause kam, sie könnte doch mindestens einkaufen. Derartige Vorwürfe machten Mama bleich vor Wut.

»Du glaubst wohl, dass ich hier zu Hause den ganzen Tag nur faulenze, weil nicht unmittelbar zu sehen ist, was ich tue. Aber vergiss eine Sache nicht, Stellan: Ich bin kein Hausmütterchen, auch wenn dir das recht wäre, und ich habe nie die Absicht gehabt, nur Hausfrau zu sein. Ich bin von Beruf Schriftstellerin. Das bin ich.«

Und dann pflegte ihr Vater mit seiner Litanei zu kommen, wie gerne er doch lieber Berufsmusiker geworden wäre, aber jemand musste ja das Geld ranschaffen, alle konnten nicht so in der Luft schweben und sich künstlerischen Tätigkeiten hingeben wie sie, Anna.

Danach gingen sie beide auf Josefina los. Dass man bitte schön von einer fast erwachsenen Tochter ein bisschen mehr Hilfe erwarten könnte. Dass das Badezimmer geputzt werden müsste, sah sie das denn nicht, dass der Boden in der Küche gewischt werden musste, dass ihre Winterkleidung immer noch an der Garderobe hing, obwohl es doch Sommer war – oder das Gegenteil, wenn es Winter war. Plötzlich stritten sie sich nicht mehr. Plötzlich bildeten sie eine Front gegen sie.

Da war es schön, Kristina zu haben. Sie wusste ganz genau, wie das war.

Zumindest, bis Martin auftauchte.

Aber bis dahin, ja, da waren sie wirklich wie Schwestern und eines Tages spätabends, als sie zehn Jahre alt waren, stachen sie sich mit einer Nähnadel in den Zeigefinger und vermischten die schüchternen kleinen Blutstropfen, die sie herausgedrückt hatten. Sie standen hinter einer der Garagen, legten einander die Hände auf die Schultern und tanzten einige Schritte im Kreis. Dann küssten sie sich schnell mitten auf den Mund.

Anschließend war es ihnen fürchterlich peinlich, und da es schon spät am Abend war, liefen sie lieber schnell nach Hause.

Als Kinder hatten sie ihre eigenen Zeremonien gehabt und Spiele gespielt, die fast alle darauf hinausliefen, die Zukunft vorherzusagen. In einem der Spiele ging es darum, Dackel zu zählen. Hundert Dackel musste man gesehen haben, aber es durften nie die gleichen sein, dann funktionierte es nicht. Und nachdem man diese hundert Dackel gezählt hatte, musste man drei Runden um einen Schornsteinfeger gehen. Anschließend würde man den künftigen Ehemann im Traum sehen.

Josefina und Kristina veränderten die Regeln ein wenig, so viele Dackel konnten sie dort, wo sie wohnten, gar nicht finden. Sie nahmen an, dass die Regeln aus einer Riesenstadt stammen mussten, aus New York oder London, und dass es sicher nichts ausmachen würde, wenn die Magie ein wenig an die lokalen Verhältnisse angepasst würde. Fünfundzwanzig Dackel, das müsste reichen, beschlossen sie. Übrigens war es mühsam genug, die zu finden. Das mit dem Schornsteinfeger war auch nicht besonders einfach, aber eines Tages stand plötzlich einer auf dem Schulhof, es war ein junger Bursche, den sie sicher hätten fragen können, ob sie ein paar Mal um ihn herumgehen dürften. Aber keine von beiden traute sich. Stattdessen warteten Josefina und Kristina ab, bis er im Schulgebäude war, und dann gingen sie gemeinsam, so schnell wie möglich, drei Runden um das ganze Haus, inklusive Schornsteinfeger und allem.

Als sie älter wurden, schrieben sie Faltgeschichten über andere aus der Klasse, über Lehrer, Leute, die sie kannten. Zuerst einigten sie sich auf die Person und das Thema, es konnte etwas sein, was gerade erst passiert war, beispielsweise dass der Englischlehrer beim Joggen ausgerutscht war und sich den Fuß verstaucht hatte. Jede schrieb auf ihren Zettel den ersten Satz der Geschichte – nach einem bestimmten Rhythmus. Beispielsweise: Tàm ta tàm ta tàm ta tà.

Josefina schrieb zum Beispiel:

Pelle K. sprang in dem Wald

Und Kristina konnte schreiben:

Jogging kann gefährlich sein

Ohne sich das Geschriebene gegenseitig zu zeigen, falteten sie ihren Zettel, sodass der Satz nicht mehr zu sehen war, und tauschten die Papiere. Sie verrieten sich gegenseitig nur das letzte Wort und jetzt ging es darum, darauf etwas zu reimen. Kristina hatte das Wort Wald, auf das sie einen Reim finden musste. Deshalb schrieb sie vielleicht:

Da fiel er hin, dass es knallt

Josefina musste auf sein reimen. Sie schrieb vielleicht:

Er lief dahin, war ganz allein

Dann falteten sie wieder, tauschten, und dann mussten sie neue Zeilen und ein neues Reimwort schreiben. Das Ergebnis konnten lange, vollkommen sinnlose Erzählungen sein, da jede bei ihrer einmal angefangenen Geschichte blieb.

Als Martin dazukam, versuchten sie eines Abends ihn mit in ihr Reimspiel einzubeziehen, aber er erwies sich als vollkommen unbedarft, was irgendwelche Rhythmen anging, sodass das Projekt im Sande verlief.

Nicht alle Menschen waren Dichter. Jakob war keiner. Johan war einer. Jakob war eher Realist. Er lebte irgendwie in einer ganz anderen Welt als sie, Josefina. Jakob las jeden Tag die Zeitung und sah die Nachrichten. Er war gut in Geschichte und Politik, wusste alles über sämtliche Kriege und Bündnisse.

»Du musst das Ganze sehen«, versuchte er ihr zu erklären. Dann hielt er einen langen Vortrag darüber, was in Frankreich nach Robespierres Sturz passiert war, über die so genannte Direktorialverfassung, die 1795 verabschiedet wurde. Josefina konnte nicht einmal das Wort aussprechen. Während der Geschichtsstunden malte sie Blumengirlanden auf ihren Block und Frauen mit Schmollmund.

Jakob redete viel und hatte zu allem eine Meinung. Sie schwieg in seiner Gegenwart. Sie legte den Kopf zur Seite und sah aus, als würde sie ihm zuhören. Einmal, als er das Gefühl hatte, dass sie an etwas anderes dachte, als er mit ihr redete, war er richtig wütend auf sie geworden, weil sie »ihn nicht genügend beachtete«. Das wollte sie nicht noch einmal riskieren, sie wollte von Jakob nicht ausgescholten werden, von niemandem. Sie wandte ihre Augen nicht von ihm, während er sprach, aber insgeheim war sie ganz woanders. Das würde er niemals durchschauen können.

Manchmal schwieg er und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände.

»Du sagst nicht viel, du. Und falls du doch mal was sagst, hört man nicht, was du sagst.«

Sie dachte, wenn er doch etwas häufiger die Klappe halten würde ... aber sie sagte nichts.

Er hatte erklärt, er sei bereit, auf sie zu warten. Als hätte er entschieden, dass sie zusammenblieben. Als ob sie gar nichts zu sagen hätte. Das ärgerte sie. Sie begann zu lügen und sagte, sie hätte keine Zeit, wenn er sich mit ihr treffen wollte. Dann lief sie wie auf glühenden Kohlen herum vor Angst, er könnte anrufen und ihre Mutter nach ihr rufen und damit alles auffliegen lassen. Es war nicht möglich, Mama dazu zu bringen, bei dem Spiel mitzumachen und zu lügen.

»Man muss zu dem stehen, was man will!«, betonte sie und ihr Blick kam zurück von den Gefilden des Schöpferischen, er wurde scharf und gegenwärtig.

»Und wenn man jemanden nicht verletzen möchte?«

»Man verletzt nicht weniger, wenn man lügt.«

Aber es gab Notlügen. Und Ausreden. Wenn man nicht mehr wollte. Wenn man am liebsten ein für alle Mal Schluss gemacht hätte.

Aber sie wäre natürlich gezwungen, ihn weiterhin jeden Tag zu sehen, sie würden im gleichen Klassenraum sitzen, er würde sie mit traurigen und vorwurfsvollen Augen anschauen, sie hätte ihn dann verletzt, ihn, der doch schon genug Kummer zu tragen hatte. Mit der Kindheit seines Vaters und allem.

Aber warum sollte ihr das eigentlich Kopfzerbrechen bereiten?

Tiefe Schreie

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