Читать книгу Tiefe Schreie - Ингер Фриманссон - Страница 12

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André, ihr Klassenlehrer, war zu ihr nach Hause gekommen. Er trat durch die Tür und seine Hände rochen nach Tabak, genau wie immer, und seine Lider waren schwer und halb geschlossen.

Sie wollte nicht, dass er sie hier drinnen sah, wo alles so privat war.

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Du«, sagte er und trat näher. »Ich bin ganz schlecht in so was. Aber ich möchte gern, dass du zurückkommst. Ich möchte, dass es dir wieder gut geht. Alle in der Klasse möchten das.«

Sie zuckte mit den Schultern, ließ die Hände aber, wo sie waren.

André legte den Arm um sie, das war wie ein Schlag von einem elektrischen Zaun. Sie stand von ihrem Stuhl auf, blieb mit gebeugtem Rücken stehen.

»Unfälle passieren, wenn man sie am wenigsten erwartet. Aber nichts wird dadurch besser, dass man sich in seiner Höhle verkriecht.«

Sie stand unbeweglich da.

»Ich habe auch schon Schlimmes erlebt ... Als wir klein waren ... Mein kleiner Bruder ist von einem Auto angefahren worden. Der Fahrer hatte getrunken, er hat meinen Bruder nicht gesehen, der am Straßenrand auf dem Fahrrad fuhr ... na, er hat ihn wohl schon gesehen, konnte aber den Abstand nicht richtig abschätzen. Mein Bruder sitzt heute im Rollstuhl. Er ist gelähmt.«

Sie drehte sich langsam um. Was habe ich damit zu tun?

Nein. Sie sagte es nicht.

Er stand da in seiner hellen Hose und dem blau karierten Hemd, das ihm so gut stand, sie und Kristina hatten schon oft darüber gesprochen, er ist ja echt süß, hast du seine Hände mal gesehen?

Er stand auf dem Flickenteppich in ihrem Zimmer und er hatte seine Schuhe ausgezogen. Er redete über etwas, was vor hundert Jahren passiert war.

Geh!, dachte sie. Du kapierst doch überhaupt nichts!

Wenn alles wie immer gewesen wäre, hätte sie ihn danach in ihre nächtlichen Phantasien mit einbauen können. Die Tatsache, dass er bei ihr daheim gewesen war. Sie hätte sich vorgestellt, wie sie auf ihrer Bettkante saßen, dass er sie umarmte und ihr übers Haar strich. Mehr nicht.

Aber nichts war mehr wie immer und würde es auch nie mehr werden.

Sonst wäre sie sofort zum Telefon gestürzt und hätte Kristina angerufen, rate mal, wer hier war, rate mal, wer hier in meinem Zimmer war, in meinem Zimmer, du, mir die Hand gegeben und mich umarmt hat?

Kristina hätte atemlos zugehört, sie wäre ein bisschen eifersüchtig gewesen, aber da sie ja die allerbesten Freundinnen waren, hätte sie es nicht gezeigt.

Und dann?, hätte sie nur geflüstert und keine Ruhe gelassen, bis alle Details auf dem Tisch waren, wie er den Kopf gehalten hatte, welche Klamotten er angehabt hatte, ob er gemusterte Strümpfe trug, was er gesagt hatte, als er eintrat, und was, als er ging.

Alles pflegten sie sich zu erzählen, schließlich waren sie Blutsschwestern, sie waren eine einzige Person.

Zum Beispiel, als sie zum ersten Mal mit einem Jungen ins Bett gingen. Kristina hatte es als Erste gemacht, sie war ja auch älter, sie war die große Schwester. Kristina war betrunken gewesen und hatte kaum mitbekommen, was vor sich ging, und hinterher verspürte sie Ekel und wollte den Typen nie wieder sehen. Sie wusste nicht einmal seinen Namen, das war bei einem Fest in einer Villa gewesen und sie lagen in einem fremden Bett.

Josefina hatte es bis jetzt noch nicht geschafft. Sie war zwar schon mit mehreren Jungs im Bett gewesen, aber keiner hatte es geschafft, richtig in sie einzudringen, jedes Mal bekam sie da unten einen Krampf und es tat höllisch weh.

Zuerst Patrik, ein mehrere Jahre älterer Junge, den sie im letzten Sommer kennen gelernt hatte. Josefina und ihre Eltern hatten ein Haus am Meer gemietet, er kam mit dem Motorrad, und sie kletterte hinter ihm drauf und fuhr mit.

Um nicht runterzurutschen, musste sie sich an seiner Taille festhalten, anfangs saß sie verkrampft da und wagte kaum aufzuschauen aus Angst, das große Motorrad könnte in einer Kurve umkippen. Als sie anhielten, meinte sie ihn schon ein wenig zu kennen, schließlich hatte sie dicht bei ihm gesessen, die Wärme seiner Hüften und seines Rückens an ihrem Bauch gespürt. Gut roch er auch, da war etwas an seinen Haaren.

Sie fuhren zum Meer hinunter und es war Abend. Dort unten fand ein Fest statt, mit vielen Menschen, die grillten. Patrik kannte sie, aber er wollte nicht zu ihnen gehen, er wollte lieber Hand in Hand mit ihr am Wasser entlangspazieren, er war so ein romantischer Typ und er fand ein paar schöne Muscheln, die er ihr in die Tasche schob. Hinter den Sanddünen machte er ihnen ein Lager zurecht. Vorsichtig half er ihr sich hinzulegen, zog ihr die Shorts aus und versuchte dann in sie einzudringen. Sie wollte und wollte auch wieder nicht. Hatte sich sozusagen noch nicht genügend darauf vorbereitet. Vielleicht klappte es deshalb nicht.

Er sagte, das sei nicht schlimm, aber sie spürte, dass es ihn störte. Da erklärte sie, sie müsse nach Hause. Er machte sich gar nicht die Mühe, sie daran zu hindern. Er fuhr sie zurück ins Zentrum, ließ sie an der Stelle absteigen, wo er sie aufgelesen hatte. Ein paar Alte regten sich über das Motorrad auf, das laut knatterte. Josefina versuchte ganz cool zu erscheinen.

»Ja, dann«, sagte sie.

Er hob die Hand.

»Ja, dann, bis bald!«

Sie sah ihn ein paar Tage später wieder, in einer ganzen Gang von Motorradfahrern. Zuerst wollte sie sich verstecken, dann wollte sie zu ihm laufen und die Arme ausbreiten, direkt vor den dröhnenden schwarzen Motorrädern. Aber plötzlich hatten sie gewendet und waren wie ein Schwarm wütender Wespen davongebraust. Es wurde ganz still. Patrik schien sie nicht einmal gesehen zu haben. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand direkt ins Gesicht geschlagen.

Das nächste Mal war in einer Wohnung in der Surbrunnsgatan. Kristina und sie hatten zwei Engländer kennen gelernt, Tony und Chris. Die beiden hatten die Wohnung von einem Typen gemietet, der offenbar irgendwo im Ausland war. Chris und Kristina schienen sich Hals über Kopf ineinander zu verlieben, sie lagen auf dem Sofa, eine karierte Wolldecke über sich gezogen.

Tony sah sie an, verzog das Gesicht und zunächst dachte Josefina, er würde verächtlich auf Kristina herabsehen, weil sie mit einem Jungen, den sie gar nicht kannte, da unter einer Decke lag. Blonde, schwedische Mädchen, sie wusste nur zu gut, welchen Ruf sie hatten. Er schenkte Wein ein, amüsierte sich über ihre Namen, die so ähnlich klangen. Chris and Christina. Er drehte die Musik so laut, dass die Nachbarn von unten schließlich gegen die Decke klopften. Er war ganz niedlich, so blass und weich, wie englische Jungs es oft waren.

Josefina trank zwei Gläser Wein. Tony drehte die Musik leiser und legte Schmusemusik auf, Sailing mit Rod Stewart. Das hatte ihre Mutter sich für ihre Beerdigung ausgesucht. Nicht, dass sie krank war oder so, nur für alle Fälle, falls ihr etwas zustieß. Eine Freundin von ihr starb vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt. Es kam vollkommen überraschend. Danach ging Mama zu dem Beerdigungsinstitut Fonus und besorgte sich ein »Weißbuch«, das war so eine Mappe, in die man alles Mögliche reinschreiben und festlegen konnte, wie man die Dinge nach seinem Tod geregelt haben wollte. Oder nach seinem »Fortgang«, wie es dort hieß.

Tony forderte sie auf, indem er sich übertrieben tief vor ihr verbeugte, eine Hand auf der Brust. Er war mager, sie spürte seine Rippen unter dem Hemd, er war verschwitzt und dünn. Er tanzte mit ihr ins kleine Zimmer, das zum Hof hinaus lag, und zog sie mit sich aufs Bett. Dann löschte er das Licht. Das machte ihr die Sache leichter, denn plötzlich überfiel sie eine große Scheu. Nicht, weil sie sich nicht selbst nackt zeigen mochte, sondern weil sie seinen Körper nicht sehen wollte und Angst hatte, sie könnte etwas entdecken, was sie mit Unlust erfüllen würde.

Er flüsterte ihren Namen, sprach ihn auf Englisch aus. »Josephine, oh Josephine!« Für kurze Zeit hatte sie das Gefühl, in einem englischen oder amerikanischen Film mitzuwirken. Er war warm und äußerst vorsichtig, und sie entspannte sich und zog ihn zu sich heran. Dennoch ging es nicht. Es war wie ein Riegel da drinnen und es tat weh.

Tony wurde wütend auf sie. Er sagte nichts, aber sie merkte es an seinen Bewegungen, an seiner Art, ihr die Kleider zuzuwerfen. Sie stolperte ins große Zimmer, es war schon reichlich spät und sie hätte schon vor langer, langer Zeit zu Hause sein sollen.

Nicht einmal mit Kristina konnte sie darüber reden.

Etwas stimmt nicht mit mir, etwas stimmt da nicht.

Tiefe Schreie

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