Читать книгу Tiefe Schreie - Ингер Фриманссон - Страница 11
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ОглавлениеSie schlief ein und träumte vom Feuer. Sie weinte und fuhr hoch. Mama war da, Mama lag auf den Knien im Nachthemd vor dem weißen Sofa, murmelte etwas, dass der Boden so hart sei.
»Liebling, hast du wieder schlecht geträumt? Hast du vom Feuer geträumt?«
»Ist schon gut«, sagte sie steif.
»Du hast im Schlaf geweint, ich wollte gerade auf die Toilette und da habe ich dich gehört.«
»Ist schon in Ordnung, Mama, ich kann mich nicht mehr dran erinnern, ich habe es schon vergessen.«
Sie spürte, wie die Decke hochgehoben wurde und der große weiche Körper ihrer Mutter sich neben sie aufs Sofa schob. Sie kniff die Augen zu, fest, ganz fest.
»Ich bleibe eine Weile bei dir liegen«, flüsterte Mama. »Ich bleibe hier, bis du eingeschlafen bist.«
Josefinas Hals schnürte sich zusammen, sie konnte kaum noch atmen. Mutters Bauch an ihrer Hüfte, die runden, vorstehenden Knie, sie wäre am liebsten aufgesprungen und auf den Hof gelaufen: Geh, lass mich in Ruhe, verschwinde.
Aber Mamas Hand kam hoch und streichelte ihr übers Haar, zögernd, vorsichtig. Josefina lag regungslos da. Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus, sie musste sich aufsetzen und Licht anmachen.
»Was ist denn?«, murmelte Mama.
»Entschuldige bitte ... aber es ist so eng auf diesem schmalen Sofa.«
»Ja, es ist ein bisschen eng, das stimmt.«
Mama setzte sich auf, die Haare fielen ihr auf die Brust.
»Soll ich lieber gehen?«
»Ja ... das ... ich glaube schon.«
»Bist du dir sicher?«
»Mmm.«
»Versprich mir aber zu rufen, wenn du wieder traurig bist, versprichst du das, Josefina?«
»Ja.«
Nicke, der Hund, war aufgewacht. Als Mama ging, blieb er im Zimmer. Die Lampe brannte. Er schaute Josefina mit schräg gelegtem Kopf an, die äußerste Schwanzspitze zuckte.
»Okay, komm!«, flüsterte sie.
Da sprang er mit einem Riesensatz in ihr Bett und rollte sich am Fußende zusammen. Die Wärme seines wolligen Körpers drang in ihre Eiseskälte ein.
Im Traum war Johan da gewesen. Er lag auf einer Bahre, aber statt der Augen hatte er nur leere dunkle Löcher. Er würde nie wieder sehen können. Und daran war Josefina schuld, auch wenn nur sie es wusste. Niemand hatte gesehen, wie sie die Kerze angezündet hatte. Aber sie hatte es gemacht und sie hatte sie am Fenster stehen lassen. Sie hatte sich betrunken und vergessen, dass man nie eine brennende Kerze allein lassen darf. Sie hatte das Leben eines Menschen zerstört. Und ein schönes altes Haus in Schutt und Asche versinken lassen.
Sie selbst war es nicht wert weiterzuleben.
Die Eltern fuhren wieder nach Hause. Es regnete, als sie abfuhren. Onkel Bosse nahm sie mit, er arbeitete in der Stadt. Es war schön, sie endlich los zu sein, richtig schön. Jetzt gab es nichts mehr, was Josefina an das andere Leben erinnerte, das sie hinter sich gelassen hatte.
Tante Hessli war mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Josefina vollkommen allein. Abgesehen von den Tieren natürlich. In einem großen Bauer in der Nähstube saßen zwei Wellensittiche. Der Boden unter dem Käfig war voller Federn und Futter. Sie trat zu ihnen, steckte einen Finger durch das Gitter. Erschrocken flatterten sie von ihren Stäben hoch und ließen noch mehr Federn herausfliegen.
Idioten, dachte sie. Mikrogehirne.
Auf dem Küchentisch stand das Frühstück, aber sie aß nichts, ihr Magen war leer, aber sie verspürte keinen Hunger. Sie fand eine quietschgelbe Regenjacke und nahm den Hund mit nach draußen.
Ein sanfter, leiser Nieselregen fiel vom Himmel. Sie wandte ihr Gesicht nach oben und schloss die Augen. Das Gras wurde langsam grün. Es duftete nach Erde und Nässe.
Weiter hinten auf dem Hofgelände grasten die drei Pferde. Als sie sie sahen, begannen sie zu laufen, ihre Mähnen flogen wie in einem Film aus Island, den Kristina auf Video hatte, Der Rabe fliegt. Sie dachte ganz kurz an Kristina, die Pferde liebte und mehrere Male in der Woche ritt, sogar schon Preise im Dressurreiten gewonnen hatte.
Die Pferde standen nun wartend am Gatter, aber sie hatte nichts für sie, sie schnaubten und schwangen ihre Schweife, betrachteten sie mit ihren ruhigen, glänzenden Augen. Sie hatte ihre Namen gehört, sie aber wieder vergessen, es waren merkwürdige isländische Namen und unterscheiden konnte sie sie auch nicht.
Tante Hessli hatte sie letztes Jahr gekauft, sie von einem übernommen, der sie nicht mehr halten konnte. Das war typisch Tante Hessli. Sie kümmerte sich immer um die Schwachen und Vernachlässigten.
Jetzt sollte sie sich um Josefina kümmern.
»Ich habe nichts«, sagte sie laut. »Steht nicht so da und glotzt mich an.«
Sie ging durch das Gras und ihre Turnschuhe wurden schnell nass, selbst ihre Füße waren nass. Sie schlenderte zum Meer hinunter. Jetzt war es ganz ruhig, sie sah den Regen wie einen Nebel über der Wasseroberfläche. Ein Vogel flog von einem Grasbüschel auf und begann über ihr zu kreisen, nur wenige Meter über ihr. Er schrie, sodass sie direkt in seinen wütenden roten Schnabel gucken konnte. Ihr war klar, dass er irgendwo in der Nähe sein Nest haben musste. Sie ging durch den Sand und hinterließ weiße Spuren von trockenem Untersand. Der Hund war losgerannt, sie konnte ihn nur noch als schwarzen Punkt in der Ferne ausmachen.
»Nicke!«, rief sie. Er schien nicht zu hören.
Sie legte sich auf den Rücken in den Sand. Der Regen fiel auf ihre Lippen und Augenlider, sie öffnete den Mund und ließ ihn auf die Zunge tropfen. Er schmeckte nach gar nichts.
Ich will sterben, durchfuhr es sie. Lieber Gott, wie gern würde ich sterben!
Aber dabei spürte sie weder Trauer noch Angst.