Читать книгу Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 12
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War er es womöglich? Schaute er sie nicht so merkwürdig an? Und hatte er das nicht auch die anderen Male gemacht, als er vor ihr auf dem Stuhl gesessen hatte? Ging sein Atem nicht ein bisschen schwer und keuchend, so wie der, den sie immer am Telefon hörte? Wirkte er nicht auch ein wenig … Oder waren das genau die Vorurteile, die sie sonst nicht haben wollte? Die sie absolut nicht haben durfte? Aber waren solche Ängste nicht oft auch berechtigt? Wenn sie an die Fälle zurückdachte, in denen Sozialarbeiter überfallen worden waren, war der Täter nicht oft genug jemand mit einer anderen ethnischen Herkunft gewesen?
Irene lächelte so selbstsicher und entgegenkommend, wie sie konnte, und reichte ihm die Papiere. »Sie können sie draußen im Vorzimmer unterschreiben und sie dort abgeben, dann kümmere ich mich um den Rest.« Ihre Hände berührten sich, als er die Papiere entgegennahm, sie fürchtete, dass er sie festhalten, ein Messer ziehen würde. Seine Haut war fast schwarz, die Handflächen hell. Er kam aus Simbabwe. Aber dann strahlten blendend weiße Zähne in dem dunklen Gesicht auf, auch die Augen lächelten.
»Mache ich. Danke, Frau Benito. Bis nächste Woche.«
Irene atmete langsam aus, während sie ihm mit den Augen hinaus vor die Tür folgte. Ihr Herz klopfte in wildem Galopp. Nein, natürlich war es nicht Solomon Kahari; seine Familie war vor Mugabes Regime geflohen, und nun half sie Solomon dabei, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Das war keine leichte Aufgabe, obwohl er ausgezeichnet Dänisch sprach, gute Qualifikationen hatte und gewillt war, jede Arbeit anzunehmen. Sie goss Wasser in ein Glas, nahm einen Mundvoll und ließ das feuchte Nass die Mundhöhle abkühlen, bevor sie schluckte. Und sich schämte. Die Arbeitgeber hatten genau dieselben Vorurteile, die ihr selbst gerade eben zu schaffen gemacht hatten. Vorurteile, gegen die sie in der Gesellschaft doch so hart ankämpfte, die sie abzubauen versuchte. Niemand sollte aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert und vorverurteilt werden. »Irene, reiß dich zusammen«, flüsterte sie sich zu.
Durch die halboffene Tür sah sie den nächsten Klienten ungeduldig auf der Couchecke aus kobaltblauem Stoff sitzen. Sie war nun nicht mehr so modern, wie sie es damals gewesen war, als sie sie eingerichtet hatten. Den Wartebereich hatten sie in Gemeinschaftsarbeit so gemütlich wie möglich gestaltet – mit Blumen auf dem Tisch und einem Automaten mit Kaffee, Tee und Wasser für die Wartenden. Es war nicht immer leicht abzuschätzen, wie lange jedes Gespräch dauern würde. Einige waren schnell abgefertigt, während andere unaufhörlich irgendwelche Sachverhalte diskutierten, die ohnehin nicht zu ändern waren. Birthe ging draußen auf dem Flur vorbei und grüßte den Wartenden, er erwiderte den Gruß reserviert. Sie waren drei Sozialarbeiterinnen, die nebeneinanderliegende Büros und untereinander einen guten Zusammenhalt hatten, trotzdem hatte sie weder Birthe noch Sonja von dem Telefonterror erzählt, dem sie ausgesetzt war. Birthe war auch schon einmal von einem Klienten belästigt worden; er war über eine regierungsamtliche Kürzung seines Arbeitslosengeldes ungehalten gewesen und handgreiflich geworden, sodass sie die Polizei hatten rufen müssen. Irene wälzte Nacht für Nacht ihre Fälle im Kopf, war inzwischen aber zu dem Schluss gekommen, dass sich eigentlich niemand von ihr ungerecht behandelt fühlen konnte. Oder umgekehrt eben alle: Es war nie schön, im Leben von anderen abhängig zu sein, die einen berieten. Aber Beratung war auch das Einzige, was sie machte, sie bestimmte nicht. Das taten diese Leute selbst – in den meisten Fällen. Vielleicht trug auch die Tatsache, dass sie mit einem Kriminalkommissar verheiratet war, dazu bei, dass sie den Vorfall für sich behielt. Würde sie die anderen einweihen, würden sie sich bestimmt darüber wundern, warum Rolando in der Sache nichts unternahm. Der aber hatte genug Probleme.
Sie drehte den Stuhl zum Fenster und schaute hinaus ins Licht des Vormittags. Der Rathauspark war gut besucht. Leute mit Hunden und Kinderwagen gingen dort unten spazieren. Rolando hatte die Neuigkeit von Olivias Schwangerschaft und bevorstehender Hochzeit glücklicherweise recht ruhig aufgenommen. Doch seine Augen waren kohlschwarz geworden, daher wusste sie, dass der Zorn in ihm schwelte. Aber er musste das einfach als ein freudiges Ereignis sehen – nach jenem Schrecklichen, das der Familie zugestoßen war. Vielleicht war es Salvatores Seele, die nun in dem kleinen neuen Menschen wiedergeboren wurde. Glaubten die Katholiken eigentlich an so etwas? Sie drehte den Stuhl zurück zum Schreibtisch, suchte die entsprechenden Papiere heraus und bereitete sich darauf vor, den nächsten Klienten zu empfangen; einen Drogensüchtigen, der zum Entzug wollte – zum zweiten Mal. Sie fühlte sich jetzt ruhiger, schloss aber die Tür nicht, als er sich setzte. Birthes Tür direkt gegenüber war ebenfalls angelehnt.
»Kommst du auch mit zu mir herüber zum Mittagessen?« Sonja Dam Andersen steckte ihren ergrauten Kopf zur Tür herein.
»Wir essen heute bei dir?«
»Ja, ich habe etwas, was wir feiern sollten, deswegen habe ich eine Kleinigkeit bestellt.«
Sonja war ihre Vorgesetzte, wenn man das so nennen konnte. Jedenfalls hatte sie die Verantwortung für das gesamte Büro, führte sich aber nicht wie eine Chefin auf. Sie war ganz bodenständig und jovial, sodass Irene eigentlich nie an den Hierarchieunterschied zwischen ihnen dachte – nur in Momenten wie jetzt, wenn sie in Sonjas Büro trat. Es war das größte im Haus, mit einem Konferenztisch in der einen Hälfte. Deswegen wurde das Büro auch für größere Meetings benutzt, an denen Sonja in der Regel teilnahm. An den Wänden hingen moderne Gemälde und ein weicher Teppich lag auf dem Boden. Irene und Birthe mussten sich dagegen mit Parkettboden begnügen, auf dem die hohen Absätze laut klackten. Das Essen war gekommen und duftete vom Konferenztisch. Praktisch und unzeremoniös wurde es auf Papptellern und mit Plastikbechern für die Getränke serviert. Typisch Sonja.
Es gab eine Fischplatte, dazu frischgebackenes Brot und Remouladensoße; etwas anderes als das typische Kantinenessen. Sonja verkündete ihnen mit freudiger Erregung in der Stimme, dass sie feierten, weil sie nun zum ersten Mal Oma werden sollte. Irene hätte fast nachgeschoben, dass sie wiederum bald zum zweiten Mal Oma werden würde, wollte aber Sonja, die vor Stolz strahlte, diesen Augenblick nicht nehmen. Daher begnügte sie sich damit, mit Mineralwasser im Plastikbecher anzustoßen und sie zu beglückwünschen. Das Telefon klingelte. Sonja ließ es nach einem Blick auf ihre Armbanduhr läuten. »Alle haben das Recht auf eine Mittagspause«, meinte sie, und im selben Augenblick begann die Rathausuhr mit ihren zwölf Schlägen. Alle drei lachten.
»Ich soll euch übrigens von Birgit aus dem Büro in Aalborg grüßen«, sagte Sonja. »Ich habe sie gerade angerufen und ihr die gute Neuigkeit mitgeteilt, sie kennt meinen Sohn ja auch. Bei der Gelegenheit hat sie mir erzählt, dass sie gestalkt wurde. Was sagt ihr dazu? Ist das nicht unheimlich?«
»Gestalkt? Wie die Promis?«, fragte Birthe und legte den Brotkanten weg, den sie sich gerade hatte in den Mund stecken wollen.
»Ja, ein Mann verfolgt sie. Er hat sie nicht direkt kontaktiert, aber er versucht auch nicht, sich unsichtbar zu machen.«
»Wenn sie ihn gesehen hat, hat sie es denn nicht der Polizei gemeldet?«
»Doch, Birthe, natürlich, aber was kann die Polizei schon machen, wenn er ihr nichts getan hat?«
»Nein, dann noch nicht. Ich erinnere mich gut an einen, der mich mal bedroht hat. Mit dem hat die Polizei sich aber zumindest mal unterhalten.«
»Es kann doch nicht sein, dass erst etwas passieren muss, bevor jemand eingreift«, bemerkte Irene mit schwacher Stimme. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
»Ich gebe zu, dass mich Birgits Nachricht beunruhigt hat. Bestimmt ist es ein Klient, der entweder auf sie wütend oder heillos in sie vernarrt ist. Sie ist ja nicht gerade hässlich. Aber das Ganze ist eine traurige Entwicklung. Wir machen doch bloß unsere Arbeit.« Sonja reichte Irene das Schälchen mit den Garnelen. »Die Gesamtzahl der Drohungen soll laut der Untersuchung des Dänischen Sozialarbeitervereins von 2007 nicht gestiegen sein, trotzdem ist jeder fünfte Sachbearbeiter Gewalt und Drohungen ausgesetzt.« Sie signalisierte Birthe, ihr die Butter zu reichen. »Und inzwischen hat es sich ja herausgestellt, dass so etwas mit Mord enden kann. Zuletzt im Januar drüben in Holstebro. Hier hatte der Klient das Ganze offenbar geplant und auf dem Parkplatz auf sein Opfer gewartet – mit einem Messer. Und könnt ihr euch an den Zwischenfall im Rathaus von Frederiksberg erinnern? Und an all die anderen Fälle im Laufe der letzten Jahre? Niemand kann sich mehr in Sicherheit wiegen.«
»Sonja, hör auf. Das ist nicht lustig. So etwas solltest du deinem zukünftigen Enkelkind aber nicht erzählen. Guck, selbst Irene ist blass geworden.«
Sonja lachte mit ihrem klingelnden Lachen, das Irene sonst immer ansteckte. »Sie muss von ihrem Mann doch noch viel schlimmere Dinge gewohnt sein.«
»Wie geht es Rolando eigentlich? Das mit der Beerdigung in Italien ist doch sicher hart für ihn gewesen«, meinte Birthe, die offensichtlich noch lange nicht mit dem Essen fertig war. Sie schaufelte eine große Portion Fischpastete aus der Schüssel und nahm sich noch ein Stück Brot.
Irene hätte gerne auch noch mehr gegessen, aber sie konnte nicht. In der Tasche steckte ihr Handy – ausgeschaltet. »Ganz gut«, log sie.
Während des restlichen Essens erzählte Sonja überschwänglich von den Erwartungen, die sie damit verband, Oma zu werden. Wie es wohl erst werden würde, wenn das Kind auf der Welt war? Dann würde in der Pause wohl nur noch über Kinder geredet werden. Birthe hatte eine einjährige Tochter, aber auch Irene konnte ja reichlich Gesprächsstoff beisteuern. Olivia sollte im November entbinden. Sie freute sich darauf, heute Abend mit ihr zu sprechen, ob Olivia es nun wollte oder nicht.
Die Telefone begannen wieder zu läuten – genauso wie die Rathausuhr, deren Schläge nun verkündeten, dass die Mittagspause vorbei war. Irenes letzter Klient kam in einer halben Stunde, danach stand für den Rest des Tages nur noch Papierkram an. Sie lösten die Tafel auf und bedankten sich für das gute Mittagessen. Sonja erinnerte die beiden noch an ihr erstes gemeinsames Zumba-Training am Freitagabend. Diesen neuen Fitnesstrend mussten sie natürlich unbedingt einmal ausprobieren.
Während Irenes Abwesenheit waren einige Mails gekommen. Die erste war zehn nach zwölf eingegangen. Ihr Blut gefror zu Eis, als sie sie las: Wieso gehst du nicht an dein Handy, Bitch!!!???