Читать книгу Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 7

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Schnell hatte Roland den Tisch mit Tobias Abrahamsens Freunden entdeckt. Jeder hatte ein Glas frischgezapftes Bier vor sich stehen. Die Journalistin von TV 2 Ostjütland und Mikkel Jensen gaben ihm Winkzeichen, als er über die Brücke an der Immervad ging. Die Uhr an der Fassade des Kaufhauses Magasin zeigte fünf vor sechs. Essenszeit. Irene, Rikke und Marianna warteten jetzt zu Hause in der Villa in Højbjerg. Er öffnete die Jacke, der Schlips wehte ihm nach hinten über die Schulter. Es war einer dieser ersten Tage mit Vorgeschmack auf den Frühling, die nach einem rekordlangen und harten Winter nun höchst willkommen waren. Die Cafébesitzer fingen an, Hoffnung auf eine einträgliche Freiluftsaison zu schöpfen. Doch bisher hatten sich nur wenige Gäste an die Tische draußen gesetzt. Einzelne hatten vorsichtig die Jacke ausgezogen, aber sie hing griffbereit über der Stuhllehne. Noch vor wenigen Wochen waren die Fliesen eisglatt gewesen und es hatte hohe Schneewehen gegeben. Die Mitarbeiter der Stadt hatten Schwierigkeiten damit gehabt, die alten wegzuräumen, bevor sich neue auftürmten. Noch konnte man sich kaum vorstellen, dass Sonne und Wärme nun bald wieder die Vorherrschaft übernehmen würden.

Auf dem Tisch lagen DIN-A4-Handzettel mit dem Bild des Vermissten. Roland war bereits in der Strøget auf einige davon gestoßen, aufgehängt an Laternenpfählen und an Mauern. »Wo ist Tobias?«, stand dort über einem Privatfoto eines blonden, blassen jungen Mannes mit einem Zucken um den Mund; ein scheues Lächeln, das nicht herauswollte. Tobias sah nicht wie ein Achtzehnjähriger aus, sondern älter. Seine Mutter war vor drei Jahren gestorben und sein Vater hatte vor einem Jahr Selbstmord begangen. Das hatte den Sohn sehr mitgenommen, und eine so große Trauer konnte selbst die ganz Jungen altern lassen. Nach dem Tod des Vaters war die Großmutter sein Vormund geworden. Aber er war kein ganz gewöhnlicher Jugendlicher; es gab keinen Computer mit E-Mail-Verkehr, kein Handy und damit auch keine Anrufe oder SMS, die verfolgt werden könnten. Tobias hatte kein Interesse an so etwas; er machte eine Zimmererlehre, genauso wie einst sein Vater. Ging seiner Arbeit nach und schien alles in allem ein tüchtiger, anständiger junger Mann zu sein. Roland wunderte sich, dass es solche Jugendlichen heutzutage überhaupt noch gab, wo sie doch tagtäglich von Werbung und Reality-TV beeinflusst wurden. Er warf einen schnellen Blick auf Mikkel Jensen und die Journalistin und setzte sich auf einen freien Stuhl. Ein Mädchen verrückte den ihren ein bisschen, sodass mehr Platz war.

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie und schaute Roland mit leeren Augen an. »Ich bin Tobias’ Freundin, Trine.«

»Leider nicht, wir verfolgen selbstverständlich die Spuren, die wir haben, aber vielleicht könnt ihr uns helfen. Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«

»Samstag Nacht vor dem Fatter Eskild, wir hatten gefeiert und er wollte zur Park Allee und den Nachtbus nach Hause nehmen.« Der Kahlrasierte, der diese Antwort gegeben hatte, nahm einen Schluck von seinem Bier. Fast könnte er ein bisschen an Mikkel Jensen erinnern, aber bei seiner Gesichtsform wirkte die mangelnde Haarpracht längst nicht so charmant wie bei Mikkel.

»Und du bist?«

»Ich heiße Bertram. Tobias und ich sind fast Nachbarn.«

»Hast du auch einen Nachnamen?«

»Dinesen. Bertram Dinesen.«

»Wie spät ist es gewesen, als sich Tobias von euch verabschiedet hat?«

»Öh …« Bertram schaute ratlos zu den anderen, und alle redeten durcheinander, bis sie sich einig wurden, dass es wohl ungefähr halb eins gewesen war.

»War er betrunken?«, fragte Roland weiter. Die Großmutter hatte behauptet, dass ihr Enkel nie Alkohol trank, aber auf derartige Aussagen aus der nahen Familie war oft nicht allzu viel zu geben. Ihr war offenbar auch nicht klar gewesen, dass er Freunde hatte, mit denen er Party machte. Sein Arbeitgeber hatte ihn als vermisst gemeldet, als er nicht zur Arbeit gekommen war und er nur Tobias’ verwirrten Vormund zu Hause angetroffen hatte.

»Ja, er war nicht ganz sicher auf den Beinen«, antwortete Trine und starrte verloren ins Glas. Obwohl sie in der warmen Sonne saß, zog sie ihre Daunenjacke fester um sich. Ihre Wimperntusche war verschmiert und die Nase rot. Sie schniefte.

»Wieso bist du auch nicht beim ihm geblieben?« Ein blondes Mädchen in Trines Alter warf ihr einen wütenden Blick zu.

»Darüber haben wir doch geredet, Miriam, also lass es jetzt gut sein!« Bertram sah die beiden Mädchen verärgert an, als sei das ein Punkt, den sie schon reichlich durchdiskutiert hatten.

»Welche Verbindung habt ihr jeweils zu Tobias Abrahamsen?« Mikkel Jensen stand auf, die Hände in der Tasche; der beengte Platz an dem runden Tisch war ihm offensichtlich zu unbequem geworden. Die Journalistin stand mit dem Rücken zu ihnen, den Blick auf das Wasser der Aarhus Å gerichtet, als würde sie im Fluss nach einer Leiche suchen, und sog an ihrer Zigarette.

»Ja, also ich bin ja seine Freundin«, antwortete Trine als Erste. Das wurde nicht mit Stolz gesagt. Eher, als ob sie diejenige sei, die ihnen leidtun müsste, so wirkte es auf Roland. Keiner von ihnen schien besonders betroffen über das Verschwinden ihres Freundes, aber es stand ja auch keineswegs fest, dass er nicht bald wieder zurückkommen könnte. Das war bei Vermissten in diesem Alter schließlich öfters mal der Fall. Er hatte vielleicht einfach nur ein anderes Mädchen getroffen und war mit ihr nach Hause gegangen – genau den gleichen Gedanken hatte auch Roland bei Salvatore zunächst gehabt, als er nicht nach Hause gekommen war. Die Hubschraubersuche und die Hundestreife hatten nichts gefunden, was ihnen irgendeine Erklärung für Tobias’ Verschwinden hätte geben können. Brachten die Informationen der Freunde keine verwertbaren Neuigkeiten, kamen sie nicht weiter. Dann würden sie den Fall erst einmal zurückstellen und auf das Beste hoffen müssen – oder das Schlimmste befürchten. Rolands Blick wanderte ebenfalls zum Fluss. Das Wasser der Å strömte still und geheimnisvoll wie ein stummer Zeuge. Tobias könnte leicht hineingefallen und aufs offene Meer hinausgetrieben worden sein; dann könnten sie jetzt nur darauf warten, dass die Leiche irgendwann auftauchte. Falls sie es je tat. Bald mussten die Taucher raus, aber sie fanden selten etwas.

»Und ich bin, wie gesagt, fast ein Nachbar von Tobias, wohne gerade mal ein paar Häuser entfernt«, machte Bertram weiter.

»Aber wir sind alles alte Klassenkameraden. Wir haben verabredet, uns letzten Samstag zu treffen und ein bisschen zu feiern, weil es jetzt zwei Jahre her ist, dass wir mit der Volksschule fertig sind«, erläuterte ein Rothaariger mit schulterlanger Mähne näher. Wären da nicht die roten Bartstoppeln gewesen und die Tatsache, dass er sich als Aksel Møller Lund vorstellte, hätte er fast wie ein Mädchen gewirkt.

Miriam zupfte an einem Fleck auf ihrem Jackenärmel und nickte.

»Ihr habt ihn also mitten in der Nacht einfach allein und betrunken fortgehen lassen?« Mikkels Stimme war nicht ohne Empörung. Man vergisst schnell, wie es gewesen ist, als man selbst jung war.

»Ja, das wollte er so«, erwiderte Bertram.

»Und wir waren ja echt nicht weniger betrunken!«, fügte Aksel tonlos hinzu.

»Wir wollten weiter durch die Stadt ziehen, es war ja noch nicht sehr spät, aber Tobias wollte lieber heim, er ist nie auf Partys gewesen, also …« Trines Stimme war heiser, sie räusperte sich und nahm einen Schluck von ihrem Bier.

»Ich verstehe nicht, wie er einfach so verschwinden kann, er muss doch irgendwo sein«, murmelte Miriam. Sie schaute auch zum Fluss hinüber, aber mit einem leeren und gleichgültigen Ausdruck in den Augen.

»Wir haben heute alle extra die weiterführende Schule sausen lassen, damit wir suchen können. Jetzt haben wir die hier in der ganzen Innenstadt aufgehängt, damit uns die Leute helfen, ihn zu finden.« Bertram hielt einen der DIN-A4-Handzettel mit Tobias’ Foto vor Roland in die Höhe. »Außerdem hoffen wir, dass die Sendung heute Abend die Leute zum Helfen motiviert und …«

»Ja, und ich habe einen Suchaufruf bei Facebook gestartet«, unterbrach ihn Trine, »es sind schon fast zweitausend mit dabei.«

Die Journalistin trat an den Tisch und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Jetzt kommt das Kamerateam, wir müssen uns also fertigmachen. Wollen Sie dabei teilnehmen?«, fragte sie, den Blick auf Roland gerichtet.

Er nickte. »Wir haben ja nicht wirklich viele Informationen, aber es ist wichtig, dass wir eine präzise Suchmeldung rausgeben und all die Dinge vermitteln, die wir bisher wissen, daher … klar, selbstverständlich.«

Mikkel Jensen schaute ihn verwundert an. Die Presse war keine Instanz, mit der Roland normalerweise freiwillig zusammenarbeitete. Am liebsten hatte er das immer Vizepolizeidirektor Kurt Olsen überlassen. Aber nun hatte er erfahren, wie es ist, als Angehöriger zurückzubleiben und nicht zu wissen, was aus einem Familienmitglied geworden ist. Die nagende Furcht. Die schwindende Hoffnung. Es war so wichtig, dass die Leute sich an der Suche beteiligten, ihren Teil beitrugen, und es bestand ja vielleicht noch Hoffnung für Tobias Abrahamsen.

Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4

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