Читать книгу Die Beichte - Roland Benito-Krimi 4 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 14
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Anne entdeckte ihn, als sie mit einer Tüte in der Hand aus dem Haupteingang des Magasin kam. Nun, da der erste Arbeitstag in der neuen Tätigkeit überstanden war, hatte sie sich einen neuen Pullover verdient, wie sie fand. Es war lange her, dass sie es sich hatte leisten können, Klamotten zu kaufen. Er stand auf der Brücke an der Immervad-Straße, zusammen mit einem Kameramann, der gerade damit beschäftigt war, den Blick über den Fluss einzufangen. Sie blieb ein wenig stehen und sah zu ihm hinüber – hauptsächlich, um sicherzugehen, dass er es tatsächlich war. Aber die roten Haare und die Sommersprossen waren unverkennbar. Er hatte sie noch nicht bemerkt.
»Hi, Nicolaj!«, rief sie. Sie fand selbst, dass es ein wenig allzu begeistert klang. Wie konnte sie nur so wild darauf sein, ihren ehemaligen Journalistenschüler zu treffen? Damals, während ihrer Arbeit an dem Moorleichenfall für das Tageblatt, als Chefredakteur Thygesen sie zu Nicolajs Mentorin bestimmt hatte, weil der sich für Stoffe aus dem kriminalistischen Bereich interessierte, hatte sie ihn oft genug weit weg gewünscht. Obendrein hatte er ihr einmal eine schallende Ohrfeige verpasst. Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie nun auf ihn zuging und sich eingestehen musste, wie sehr sie diese Zeit doch vermisste.
»Anne!« Er klang eher überrascht als begeistert, aber seine Augen schienen förmlich zu lächeln, als er sie umarmte. »Was machst du denn hier?« Er sah die Tüte. »Ah, du gehst shoppen.«
»Ausnahmsweise mal.« Sie sah zu dem Kameramann hinüber. Auf seiner Kamera prangte das Logo von TV 2. Nicolaj stellte ihn vor.
»Das ist Tue. Wir filmen für TV 2.«
»Hör auf! Du bist jetzt beim Fernsehen?«
»Nicht ganz. Ich arbeite jetzt freiberuflich und mache als freier Mitarbeiter auch manchmal was fürs Fernsehen. Und du?«
»Ach, ich mach so dies und das«, antwortete sie und sträubte sich innerlich zuzugeben, dass sie nur putzte. Es war ein harter Tag gewesen und sie spürte die ungewohnte Arbeit bereits schmerzhaft im Rücken.
»Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee – wie in den alten Zeiten? Wir können im Magasin Café einen Cappuccino trinken, den magst du doch so gerne.«
»Ah, du erinnerst dich. Aber hast du denn Zeit? Seid ihr nicht gerade am Filmen?«
»Tue kann den Rest auch alleine filmen. Wir drehen einen Beitrag über Tobias Abrahamsens geheimnisvolles Verschwinden im Aarhuser Nachtleben und sind gerade dabei, sein Tun und Treiben zu rekonstruieren. Hast du Zeit?«
»Jep, das kannst du glauben.«
»Geiiil!«
Dieses Wort, das sie einst zur Weißglut gebracht hatte, war nun Musik in ihren Ohren.
Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster. Nicolaj besorgte Kaffee. »Der geht auf mich«, sagte er, als er die Tassen auf den Tisch stellte. Anne protestierte nicht.
»Wer, sagst du, ist verschwunden?«
Nicolaj staunte. »Hast du noch nicht davon gehört?! Gerade du, die so etwas immer vor allen anderen weiß.«
»Ich gebe zu, ich bin momentan nicht besonders gut auf dem Laufenden, es hatte so viel … Wann ist es denn passiert?«
»Tobias ist in der Nacht von Samstag auf Sonntag verschwunden, nachdem er zuvor mit einigen seiner alten Klassenkameraden in der Stadt gefeiert hat. Er war betrunken. Sein Arbeitgeber hat ihn Montag Mittag als vermisst gemeldet, nachdem er nicht bei der Arbeit erschienen war. Er ist Zimmererlehrling.«
Nicolaj genehmigte sich einen Schluck aus der großen Tasse und Milchschaum legte sich über seine Oberlippe. »Roland Benito ist an der Sache dran.« Er blinzelte ihr zu.
»Die sehen das also schon als einen Mordfall.«
»Nach dem, was ich gerüchteweise gehört habe, hat sich der Kriminalkommissar unnötigerweise aus persönlichen Gründen eingemischt.«
»Kennt er denn den Vermissten, oder … Ach, du meinst die Geschichte mit dem Mafiamord in seiner Familie …«
»Genau, so wird gemunkelt.«
»Dann haben sie in Roland Benitos Abteilung wohl zu wenig zu tun«, murmelte sie in ihre Tasse. Sie probierte den Cappuccino. Die jungen, durchtrainierten Baristas des Cafés standen an der Bar und versuchten cool auszusehen, während sie mit den jungen Besucherinnen flirteten.
»Aber ich weiß nicht, ob das stimmt«, fuhr Nicolaj fort. »Vielleicht ist auch etwas aufgetaucht, was auf Mord hinweist.«
»Und du bist jedenfalls dabei, Tobias’ Tun und Treiben nachzuverfolgen?« Sie hoffte, dass er die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht bemerkte.
»Das ist momentan mein Auftrag, ja. Du kannst dir die Sendung später bei TV 2 ansehen.«
Anne nickte.
»Dass das Tageblatt zumachen musste, war echt scheiße. Es war ein richtiger Schock für mich, als Thygesen das gesagt hat. Hast du gehört, was er jetzt macht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist bestimmt tot. Wie kann er ohne seine Zeitung überleben?«
»Hatte er überhaupt ein Leben?«
Die gleiche Frage hatte sie sich auch schon oft gestellt. Sie lächelte, aber eigentlich war das traurig.
»Kamilla ist die Vernünftigste von uns gewesen, sie hat das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen. Hast du sie mal wieder gesehen? Garantiert, nicht? – Best friends forever«, fügte er mit verstellter Mädchenstimme hinzu.
»Eigentlich treffen wir uns nicht besonders oft. Ich habe sie erst gestern mal wieder besucht, aber ansonsten habe ich nur einmal mit ihr telefoniert, seit sie bei der Zeitung aufgehört hat. Aber sie ist im Moment irgendwie nicht ganz sie selbst.«
»Glaubst du nicht, dass sie über ihre Arbeit als Werbefotografin froh ist?«
»Doch, aber das ist es nicht.«
»Hast du eigentlich nie herausgefunden, was bei der Beerdigung ihrer Mutter passiert ist?«
»Das geht mich ja nichts an«, wich Anne aus. Sie legte immer Wert darauf, ihre Quellen zu schützen, und für einen Kriminalreporter könnte Kamillas mysteriöser Vater leicht eine spannende neue Aufgabe werden.
»Natürlich geht das die neugierige, allwissende Journalistin Anne Larsen etwas an.« Er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Im hellen Licht, das durch das Fenster fiel, zeichneten sich auf seiner winterblassen Haut die Sommersprossen deutlich ab. Verschmitztes Vergnügen lag in diesen grünen Augen. Sie ließen ihn immer erscheinen, als amüsiere er sich, auch wenn der Rest des Gesichts ernst blieb. Mal abgesehen von dem Tag, an dem er ihr die Ohrfeige verpasst hatte. Da hatten sie vor Wut geleuchtet. Aber diese Backpfeife hatte sie damals wohl auch verdient gehabt.
»Ich bin keine Journalistin mehr, Nicolaj.« Sie stellte sich der Wahrheit. »Ich bin bis jetzt arbeitslos gewesen. Gerade heute habe ich eine neue Stelle angetreten. Eine ganz neue Tätigkeit. Als Reinigungskraft bei einer privaten Firma.«
»Putzfrau! Das kann nicht dein Ernst sein, Anne! Mit deinen Fähigkeiten! Du könntest ohne weiteres selbst eine … Schau doch mich an.«
»Ich habe den Glauben an die Branche verloren. Du nicht?«
»Doch, am Anfang ist es mir genauso gegangen. Aber wenn es in der Zeitungsbranche keine Arbeit als Journalist mehr gibt, müssen wir uns eben selbst um neue Arbeit kümmern. Du solltest nicht putzen, so aktiv und engagiert, wie du bist. Denk mal dran, wie viele Verbrechen du mit aufgeklärt hast. Vermisst du das nicht?«
»Gott, und wie! Aber was hilft das, wenn es keine Stelle für mich gibt?« Sie rührte den Milchschaum in der Tasse um, irritiert darüber, dass sie nicht denselben Mut hatte wie er. Er war nur ein junger Kerl ohne besonders viel Erfahrung: Wie alt mochte er jetzt sein – zwanzig, einundzwanzig? Sie müsste jetzt eigentlich diejenige sein, die bei TV 2 arbeitete und das Tun und Treiben des Vermissten nachverfolgte.
»Was weißt du sonst noch über diesen Tobias Abrahamsen?«
»Keiner weiß besonders viel über ihn. Stiller Typ, der seine eigenen Wege geht. Ein paar Klassenkameraden haben ihn letzten Samstag offenbar gegen seine Gewohnheit in die Stadt gelockt und betrunken gemacht. Er ist nicht wieder zu Hause eingetroffen und seither wie vom Erdboden verschluckt.«
»Seine Familie?«
»Seine Mutter ist vor drei Jahren gestorben, sein Vater hat vor einem Jahr Selbstmord begangen. Seither hat er bei seiner Oma gewohnt, die sein einziger Vormund ist.«
»Und warum hat sein Vater Selbstmord begangen?«
»Keine Ahnung. Glaubst du, das ist wichtig?«
»Alles ist wichtig, wenn man eine verschwundene Person finden will.«
»Ich hatte jetzt nicht gerade vor, auch die Vergangenheit der Familie unter die Lupe zu nehmen. Die wirklich interessanten Spuren sind diejenigen, die uns verraten, wo er Samstag Nacht hingegangen ist.«
»Natürlich. Aber wenn ich du wäre, würde ich trotzdem ein bisschen auf die Familie schauen. Das macht die Polizei bestimmt auch.«
»Ja, aber wir sollen doch nicht die Arbeit der Polizei erledigen, nicht wahr, Anne?« Er schaute sie mit einem Blick an, dass sie fast wieder eine Ohrfeige erwartete und sich nicht traute zu erwidern, dass sie da anderer Ansicht sei.
»Wo in der Stadt sind sie denn gewesen?«
»Im Fatter Eskild.«
»Ich wette, er ist in den Fluss gefallen.«
Nicolaj schaute hinaus auf den Lauf der Aarhus Å. »Das ist es, was für gewöhnlich passiert. Angesichts all der Cafés, Kneipen und besoffenen Menschen wundert es mich fast, dass da nicht noch öfters jemand ein unfreiwilliges Bad nimmt oder gar ertrinkt – bei der schlechten Absperrung.«
»Tja, je weniger Vorbeugung, desto besser ist es oft. So wissen die Leute wenigstens, dass man leicht hineinfallen kann, und passen auf. Es sind ja auch nicht unbedingt die, die direkt an einer vielbefahrenen Überlandstraße wohnen, die überfahren werden, stimmt’s?«
Er deutete mit dem Finger auf sie, als habe sie den Nagel auf den Kopf getroffen. »Genau! Aber darf ich jetzt was von deiner neuen Arbeit hören? Was hast du heute gemacht? Wie viele Kloschüsseln hast du geschafft?« Wieder funkelte Vergnügen in seinen Augen.
»Du solltest dich nicht über Reinigungskräfte lustig machen, Nicolaj. Das ist wirklich harte Arbeit. Im Vergleich zu so vielen anderen machen wir uns für unseren erbärmlichen Lohn echt verdient.«
»Ich weiß. Meine Mutter ist auch putzen gegangen. Sie hat sich regelrecht zu Tode geschuftet. Deshalb finde ich ja auch, dass du dir eine andere Arbeit suchen solltest.«
Tue, der Kameramann, stand plötzlich vor dem Fenster und klopfte. Er zeigte auf seine Uhr und gab Nicolaj hektische Zeichen, dass sie weitermussten. Nicolaj leerte seine Tasse und erhob sich.
»War schön, dich wiederzusehen, Anne, ich muss jetzt los. Wir sehen uns ein andermal.« Er umarmte sie noch einmal, sie atmete den Duft seines Deos ein und erinnerte sich an die gemeinsamen Fahrten in Kamillas Geländewagen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz zu einer kleinen Rosine zusammenschrumpfen.
Er warf eine schicke Visitenkarte auf den Tisch. »Melde dich, wenn du Lust hast.«
Sie blieb sitzen und sah den beiden neidisch nach, als sie plaudernd Richtung Busstraße gingen.