Читать книгу Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 12

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Obwohl draußen hinter den dunklen Gardinen der Schneesturm wütete, war es hier drinnen unter den Lampen warm. Ihre Füße hatten angefangen zu pochen, nachdem sie den ganzen Tag in zu enge Stiefel gezwängt gewesen waren, und als sie nun allein im Studio war, setzte sie sich auf einen kleinen Schemel, den sie benutzten, wenn die Fotoaufnahmen eine sitzende Position erforderten. Sie zog die Reißverschlüsse der Stiefel auf, während sie die Aufstellung von Schmuck und Uhren betrachtete, mit der sie gerade beschäftigt war, und wackelte in den Wollsocken mit den Zehen, sobald sie von dem engen schwarzen Leder befreit worden waren.

Die Rolex links musste einen Hauch nach rechts verschoben werden, schätzte sie mit ihrem geübten Auge und ihrem Sinn für grafische Komposition. Die Kälte des Steinfußbodens drang durch die Socken, aber sie wirkte auf die gequälten, heißen Füße sehr lindernd. Sie richtete ihre Konzentration wieder auf die Kamera und die Aufstellung. Sie fotografierte eine Serie aus verschiedenen Blickwinkeln. Jetzt waren nur noch zwei Aufnahmen zu machen, dann waren sie fertig mit dem Uhren- und Schmuckkatalog. Aus der kleinen, bescheidenen Küche holte sie sich einen Kaffee, bevor sie mit der nächsten Aufnahme weitermachte. Der Duft von Kaffee und die Fotoausrüstung, die Dunkelheit um sie herum, in der nur die Lampen ihr helles Licht auf die Objekte auf dem Fototisch warfen, und das Sausen des Sturms draußen vor dem Fenster versetzten sie in eine wohlige Stimmung. Es gab nichts Besseres, als hier allein zu sein und sich so zu fühlen, als wäre es ihr eigenes Studio, in das sie ging und arbeitete. Das Zimmer in dem alten Haus im Mejlbyweg, damals ihr Studio, das sie als freiberufliche Fotografin benutzt hatte, war schon längst zur Abstellkammer für all das geworden, wofür sie sonst keinen Platz hatte, und sie konnte nicht verstehen, wie sie früher ohne es ausgekommen war. Die Furcht, dass sie bereuen könnte, im Herbst in der Redaktion gekündigt zu haben, war völlig unbegründet gewesen. Es war ein weitaus besserer Entschluss gewesen, als sie geglaubt hatte. Hier war nichts mit Fotos von unheimlichen Fundstellen, von Tatorten und Toten, die einem schlaflose Nächte bereiten konnten. Pressefotografin würde sie nie wieder werden, jedenfalls nicht zusammen mit einer Kriminalreporterin. Sie hatte gelesen, dass die Redaktion geschlossen worden war, und das hatte ihre Gedanken zurückwandern lassen zu Anne, Thygesen, Britt, Mads Dam und Nicolaj, der nicht mal mit seinem Praktikum fertig geworden war. Sie hatte mehrmals Lust gehabt, Anne anzurufen, um zu hören, was eigentlich passiert war, aber sie hatte mit dem neuen Job so viel zu tun, und es hatte bestimmt auch einen Grund, dass Anne sie nicht kontaktiert hatte ...

Nach der letzten Aufnahme räumte sie auf, legte die teuren Uhren und den Schmuck in den Safe und setzte sich anschließend auf eine schwarze Lederchaiselongue, die oft von den superdünnen Dessous-Models benutzt wurde, um darauf zu posieren. Pierre-Louis war Experte darin, sich um sie zu kümmern, er war Modefotograf. Er war auch der Boss. Sie war besser mit leblosen Objekten – wenn es nicht gerade Leichensäcke waren –, daher waren sie und Oliver die Produktfotografen.

Sie zog ihre Haarspange heraus und schüttelte den Kopf. Blondes Haar umgab sie wie eine Seidenwolke und fiel auf ihre Schultern. Ihre Augen fühlten sich trocken davon an, den ganzen Tag in dem grellen Licht zu stehen und sich auf etwas zu fokussieren. Ein Kopfschmerz hämmerte in den Schläfen. Sie massierte sie und legte sich wieder mit geschlossenen Augen auf die Chaiselongue. Es war weit nach Feierabend. Was das betraf, war die Arbeit hier nicht besser als die in der Redaktion, wo es auch oft spät geworden war, aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte ohnehin niemanden, zu dem sie nach Hause kam – nur Tarzan, der ihr weiterhin treu blieb, obwohl er eine Katzenklappe in der Tür zur Waschküche hatte und gehen konnte, wohin er wollte. Sie streckte sich und hörte die Tür im Erdgeschoss ins Schloss fallen. Sofort danach hörte sie Schritte, die die Treppe hochkamen. Pierre-Louis sah gar nicht, dass sie da war und auf der Chaiselongue ausgestreckt lag. Er fluchte leise mit französischem Akzent. Sein Vater war Franzose, die Mutter Dänin, aber er hatte jetzt viele Jahre in Dänemark gewohnt und sein Fotoatelier in der Nørrestraße vor sechs Jahren eingeweiht. Es lief gut, die Kunden waren treu gewesen. Trotz der Krise musste Werbung geschaltet werden – oder für manche sogar wegen der Krise.

»Mensch, Kamilla!«, rief er laut und ließ beinahe die Fototasche fallen. »Hast du mich erschreckt, ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Warum liegst du hier im Dunkeln?« Er stellte die Tasche auf dem Boden ab und schaltete das Deckenlicht an, das nicht grell war, sie aber trotzdem die Augen zusammenkneifen ließ. Sie setzte sich auf, plötzlich peinlich berührt darüber, in Socken vor dem Boss dazuliegen, obwohl es spät war und obwohl sie alle ihre Aufträge erledigt hatte.

»Hallo, Pierre. Entschuldigung. Nur ein bisschen Kopfschmerzen.«

»Nein, bleib jetzt liegen.« Er verschwand in der Küche und kam mit einem großen Glas Wasser zurück. »Wie ich dich kenne, hast du eimerweise Kaffee getrunken. Hier, trink das.«

Wenn Pierre befahl, gab es keine Widerrede, daher trank sie das Wasser, während er sie mit seinen dunklen Augen betrachtete, als wäre sie ein Kind, dem sein Lebertran verabreicht werden müsste. Sie reichte ihm das leere Glas, er lächelte zufrieden und stellte das Glas auf den Boden, dann drückte er sie zurück auf die Chaiselongue und setzte sich auf die Kante.

»Manchmal mache ich mir ein wenig Sorgen um dich. Du mutest dir viel zu viel zu. Gibt es denn niemanden, zu dem du nach Hause musst?«

Sie hatte ihm nicht mehr als das Nötigste über sich erzählt, und darüber war sie froh. Es gab niemanden, der sie mitleidig ansah oder sie wie zerbrechliches Glas behandelte, weil sie nicht wussten, was sie durchlitten hatte. Und Pierre und Oliver sollten nichts wissen, das machte den Alltag viel leichter und ließ sie auch selbst mehr Abstand zu dem Ganzen bekommen.

»Doch, ich hab eine Katze«, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln und zog sich unbewusst ein Stückchen zurück, als er ihr vorsichtig eine Locke aus der Stirn strich.

»Ich versteh nicht, dass du alleine bist! Warst du verheiratet? Hat dich jemand verlassen ... oder gibt es vielleicht jemanden, der ...«

»Worüber hast du geflucht?«

Pierre zuckte mit den Schultern und gab wieder mal auf, mehr über sie herauskriegen zu wollen. »Ach, das war diese Besprechung, bei der ich wegen des neuen Auftrags war, du weißt schon. Die wollen die Fische am Hafen fotografiert haben. Es passt perfekt, dass es gerade Schnee und Eis gibt, wie sie es in dieser Werbung haben wollen, aber die wollen echte Fische haben, um diese Scheiß-Plattfische auf ihrem Kutter zu präsentieren.« Müde fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. »Ich habe sämtliche Fischer im Hafen von Aarhus angerufen und endlich einen gefunden, der bei dem Auftrag dabei wäre, aber jetzt will der Kunde das nicht im Hafen von Aarhus aufgenommen haben, sondern es soll einen großen Strand im Hintergrund haben. Herrgott!« Er stand auf und begann, die Fototasche auszupacken.

»Strand? Ja, aber wie willst du das machen?«

»Ich hab ein paar Fischer in Bønnerup Strand angerufen, das wäre optimal«, meinte er, während er mit schnellen Bewegungen ein Kabel aufrollte. »Aber es gab niemanden, der bei diesem Unterfangen mit von der Partie sein wollte. Die Fischer dort wirken noch scheuer und zurückhaltender. Als sie hörten, dass sie selbst mittun sollten, machten sie alle einen Rückzieher.«

»Wie soll das dann gehen?« Kamilla konnte es nicht lassen, ein bisschen über diese Episode zu schmunzeln. Das Ganze drehte sich um ein paar lumpige Schollen für eine Anzeigenkampagne. Das war ganz sicher eine spezielle Branche. Aber die Fischer und Bønnerup Strand erweckten auch andere Gedanken in ihr. Sie hatte es aufgegeben, ihren biologischen Vater zu kontaktieren, als sie die Stimme seiner Frau und Kinderlachen gehört hatte, damals im Herbst, als sie versucht hatte, ihn anzurufen. Sie wollte sein Leben nicht zerstören. Er war Fischer am Bønnerup Strand und hätte sie ihn gekannt, hätte er Pierre vielleicht helfen können, aber sie hatte nicht den Mut gehabt, noch mal anzurufen. In ihrem Leben gab es keinen Platz für weitere Rückschläge.

Pierre legte das eng zusammengerollte Kabel zurück in die Fototasche und zog den Reißverschluss zu. Er richtete sich auf, fuhr mit der Hand durch die dunklen, modisch geschnittenen Haare, die im Nacken ein wenig zu lang waren, und lächelte siegessicher. »Es ist mir tatsächlich gelungen, ein williges Opfer zu finden. Morgen fahre ich dahin und weißt du was, Kamilla, da es sich nun um Produktaufnahmen handelt – weil die Schollen ja tot sind und keine lebenden Modelle, nehme ich an –, finde ich, du solltest mitkommen, hast du Lust?«

Der Kopfschmerz nahm zu. Wollte sie das? Wollte sie sich dem Gebiet nähern, wo ihr Vater mit einer anderen Familie wohnte, vielleicht nicht ahnend, dass er eine Tochter von einem tragischen Unglück in seiner Jugend hatte? Sie schaute Pierre an, der gespannt auf eine Antwort wartete.

»Klar.«

Wenn Pierre befahl, gab es keine Widerrede.

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3

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