Читать книгу Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 5
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Anne Larsen fuhr wütend den Laptop runter. Knallte ihn krachend zu. Auch heute war nichts zu finden. Es war hoffnungslos! So lange hatte sie von einem Alltag ohne Arbeit und Verpflichtungen geträumt, wie in ihren Teenagerjahren, als sie ihre Zeit dafür verwendet hatte, auf Demonstrationen für Gerechtigkeit zu kämpfen, leere Häuser zu besetzen und überhaupt eine aktive Autonome in Nørrebro zu sein. Jetzt langweilte sie sich, weil sie nicht mit dem Fahrrad zur Redaktion fahren konnte. Die Zeiten hatten sich geändert. Und wie!
Eigentlich wusste sie genau, dass es so nicht weitergehen konnte. Als sich zusätzlich zu einer ohnehin schon schweren Zeit für die Zeitungsbranche auch noch die Finanzkrise ankündigte, war nicht mehr viel zu machen. Die Krise kam unaufhaltsam über den Atlantik aus den USA angerollt – wie alles mögliche andere – McDonald’s, Hip-Hop, Inlineskates und Skateboards. Wenn es over there schlecht lief, würde es garantiert auch auf Europa abfärben. So klang es jedenfalls in allen Medien von Journalisten, Finanzleuten, Wirtschaftswissenschaftlern, Zukunftsforschern und anderen Weltuntergangspropheten. Sie wurden dafür verantwortlich gemacht, dass sie durch ihren mangelnden Glauben an die Zukunft mit einer self-fulfilling prophecy die Finanzkrise verstärkten. Aber das war ein heißes Thema. Es verkaufte Zeitungen. Alle wollten wissen, wie es am nächsten Tag wohl aussehen würde. Mit dem Wohnungsmarkt, den Banken, den Aktien – dem Arbeitsmarkt. Vielleicht bliesen sie die Krise auf, vielleicht auch nicht. Aber jetzt waren viele Arbeitsplätze abgebaut, mehrere Unternehmen zwangsversteigert und viele Angestellte gefeuert worden. Hatten sie also übertrieben? Und das Schlimmste stand noch bevor, prophezeite man.
Die Stimme von Redakteur Ivan Thygesen hatte gezittert, als er ihnen mitteilte, dass die Redaktion schloss. Er war sehr bewegt gewesen, so hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Er selbst hatte geplant, in den Vorruhestand zu gehen, aber er hatte sein ganzes Leben lang in der Zeitungsbranche gearbeitet, alle Tages- und teils Nachtstunden mit Schreiben und Vermitteln verbracht, kaum Urlaub gemacht oder Zeit gehabt, sich ein Hobby für sein Rentnerdasein zu suchen. Was tat man, wenn das Arbeitsleben vorbei war?
Kamilla hatte das meiste Glück. Sie war seit der Beerdigung ihrer Mutter im letzten Oktober nicht sie selbst gewesen. Von einem auf den anderen Tag kündigte sie, weil sie einen Job als Werbefotografin in einem Fotostudio in der Nørrestraße bekommen hatte. Das war der Beruf, zu dem sie ausgebildet war – nicht zur Pressefotografin, hatte sie gegen die Proteste von ihnen allen argumentiert. Es gab zwei andere Fotografen, mit denen sie zusammenarbeiten sollte, und Anne verstand die Entscheidung gut, obwohl sie enttäuscht darüber war, dass Kamilla sie alle verlassen würde. Sie selbst zurücklassen würde. Sie waren doch so etwas wie Freundinnen geworden, die zusammenhielten und sich in allem unterstützten. Dennoch gab es etwas, über das Kamilla nicht offen gesprochen hatte. Irgendetwas war bei der Beerdigung im Herbst passiert, das sie verändert hatte und worüber sie nicht reden wollte. Nicht mal mit ihr. Es tat weh, dass Kamilla ihr Vertrauen nicht erwiderte. Aber vielleicht lag es an all dem, was sie durchgemacht hatte. Natürlich bekam man Angst, Vertrauen zu zeigen und sich zu sehr zu öffnen. Dann war sie abgezogen, bevor die Finanzkrise und der Tumult richtig ausbrachen. Aber wie auch immer – sie wären ja ohnehin voneinander getrennt worden, so wie es nun gekommen war. Es hätte sich nur um ein paar Monate gehandelt. Das Tageblatt war aufgelöst und sie war arbeitslos. Die nächsten sechs Monate war sie auf sich allein gestellt und sollte selbst einen neuen Job finden, hatten sie bei ihrer Arbeitslosenversicherung gemeint, bei der sie im Verbund Journalistik, Kommunikation und Sprache glücklicherweise Mitglied war. Nach diesen sechs Monaten würde sie ein Wiedereingliederungsangebot vom Jobcenter bekommen, aber hatte sie das Pech, keine Arbeit zu finden, was sie momentan noch bezweifelte, würde sie die Möglichkeit in Erwägung ziehen, Fortbildungskurse zu besuchen und sich weiterzubilden. Zu was, wusste sie noch nicht, aber es würde bestimmt etwas mit Kommunikation zu tun haben, obwohl angekündigt wurde, dass die kommenden Jahre noch härtere – fast brutale – Medienjahre werden würden und dass die Medienbranche in vier Jahren nur noch halb so groß sein würde. Viele gefeuerte Journalisten waren in ganz andere Branchen gewechselt, um die Unsicherheit zu umgehen. Einige waren Taxifahrer geworden, andere Unternehmensberater oder etwas ganz anderes – aber wo konnte man sich sicher fühlen?
Sie war am Kiosk an der Ecke gewesen, um ein paar Zeitungen zu kaufen. Trotz allem gab es noch einige. Die Zeitungskonzerne hatten sich gegenseitig aufgekauft. Leider hatte niemand das Tageblatt im Visier gehabt. Ein kleines Käseblatt voller Werbung. Soviel sie wusste, war Thygesen bei ein paar Besprechungen gewesen, aber das hatte nie zu einem Verkauf geführt, der sie vielleicht hätte retten können. Bald gab es wohl nur noch eine einzige Zeitung, die das ganze Land abdeckte – bis auch die der digitalen Welt unterlag.
Langsam blätterte sie in der Zeitung, während sie den Blick über die Spalten gleiten ließ. Taufen, Hochzeiten, Jubiläen und Todesanzeigen auf der gleichen Seite. Ein Überblick über die Lebensphasen. Sie warf einen schnellen Blick auf den Stapel alter Tageblätter auf dem Fußboden. Plötzlich fand sie das Design zutiefst altmodisch im Vergleich zu den anderen Zeitungen auf dem Tisch. Andere Redaktionen hatten ihr Layout in der Krise im Kampf um die Leser erneuert. War es nur das, was sie verkehrt gemacht hatten? Dass sie sich nicht erneuert hatten? Hätte sie Thygesen vorschlagen sollen, Danny Cramers Werbeagentur zu kontaktieren und ihn um Hilfe für ein neues, junges Design und modernere Farben zu bitten? Hätte das geholfen? Sicher nicht, und was hätte es bei Kamilla ausgelöst, wenn Danny miteinbezogen worden wäre? Dann hätte sie ganz sicher damals schon gekündigt. Aber das Tageblatt war veraltet. Zeitungen würden auch mit der Zeit nur noch eine nostalgische Erinnerung für sie sein. Sie hatte die Ausgaben aufbewahrt, in denen sie die größten Triumphe gefeiert hatte. Unter anderem den Gitte-Mord und den Moor-Fall von diesem Herbst. Unheimliche Mordfälle, die sie noch nicht vollständig abgeschüttelt hatte. Aber wie soll ich ohne die Kriminalthemen leben?, fragte sie sich. Sollte sie Privatdetektivin werden? Bei dem Gedanken an die Stellenausschreibungen, die sie auf der Homepage der Polizei von Ostjütland gefunden hatte, als sie dort herumsuchte, lächelte sie. Sie suchten Polizeianwärter mit einem Abschluss in öffentlicher Verwaltung oder in Wirtschaftswissenschaften. Leider hatte sie nur einen Abschluss in Journalismus, sonst hätte sie sich wohl auf die Stelle beworben. Roland Benito würde sicher große Augen machen, wenn sie angestellt werden würde. Sie suchten auch Polizeibeamte, vielleicht wäre das ein besserer Job für sie. Leider würde es zu lange dauern, bis sie fertig wäre und im Präsidium in Aarhus eingesetzt werden könnte. Dann würde Benito sich die Haare raufen. Er musste jetzt erleichtert sein, dass sie sich nicht länger in seine Arbeit einmischen konnte. Sie schluckte schwer, als sie einsah, dass sie ihn tatsächlich vermissen würde. Wie konnte sie ihren Job entbehren?
Als sie die Stellenanzeigen des Tages sowohl im Netz als auch in den Zeitungen vergebens durchsucht hatte, goss sie eine Kanne Kaffee auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie setzte sich aufs Sofa und starrte aus dem Fenster. Der Frost hatte die Scheibe mit hübschen Eisblumen verziert, die in der Sonne zu schmelzen begannen. Sollte sie sich nicht darüber freuen, dass sie nicht eingepackt in einen dicken Mantel, mit Handschuhen, Schal und Mütze nach draußen in die Kälte musste, um zur Arbeit zu kommen? Die Räumfahrzeuge hatten bestimmt den Schnee von der Straße auf die Fahrradwege geworfen, sodass die Autos und Busse vorankommen konnten. Dann hätte sie das Auto nehmen müssen und der alte, gelbe Lada stand im Hof, von Eis und Schnee bedeckt, und würde garantiert nicht anspringen. Was für einen Ärger das gegeben hätte, wenn sie nicht gefeuert worden wäre. Sarkastisch lächelnd schnippte sie die Asche von der Zigarette. Aber es gab wohl genug andere, denen es schlechter ging als ihr. Mads Dam zum Beispiel, ihr ineffizienter Sportjournalistenkollege, der mehr Zeit in der Kneipe als auf dem Fußballplatz verbrachte.
Würde er im Suff enden? Ihre Kollegin Britt würde mit dem Busen, mit dem sie ausgestattet war, sicherlich Arbeit finden. Sie könnte leicht einen Job in einem Nachtclub oder in einer Bar bekommen. Da könnte sie dann Bierflaschen für Mads Dam öffnen. Anne lächelte wieder bitter. Und Thygesen – was würde aus ihm werden, wenn er sich nicht länger über Kleinigkeiten in der Redaktion aufregen und ihr die Leviten lesen konnte? Würde das dann seine Frau abkriegen, sodass eine Scheidung das nächste Unglück wäre?
Schöne Schicksale! Sie hatte Lust, Kamilla anzurufen und zu hören, wie es ihr in dem neuen Job erging. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit sie auf Reisen gegangen war. Es war so viel passiert. Tatsächlich hatten sie seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht besonders viel miteinander gesprochen. Es muss hart für sie gewesen sein, obwohl Kamilla sagte, dass sie und ihre Mutter sich nicht besonders nahegestanden hätten. Genau wie sie selbst und ihre Mutter. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Wer sollte es ihr auch erzählen, falls sie nicht mehr lebte? Ist mir auch egal, dachte sie, drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und trank einen Schluck von dem heißen Kaffee. Sie konnte sich nicht überwinden, Kamilla anzurufen. Das konnte warten, bis sie selbst einen Job gefunden hatte, damit sie etwas Gutes zu berichten hatte und nicht zugeben musste, immer noch arbeitslos zu sein. Sie war in Gedanken weit weg und hörte nur schwach ein leises Klimpern, so als ob irgendwer sich nicht traute, den Klingelknopf ganz durchzudrücken. Aber als es wieder klingelte, hörte sie es, zuckte vor Schreck zusammen und verschüttete fast ihren Kaffee.
Ihre Gedanken waren gerade zu ihrem Stiefvater Torsten gewandert. Wie er immer die Stirn gehabt hatte, ohne Klamotten herumzulaufen.
»Ja, ja, ja!«, murmelte sie irritiert und stand auf, als die Klingel schon wieder schrillte. Als sie endlich öffnete, sah sie eine kleine Frau, die offenbar aufgegeben hatte und wieder auf der Treppe auf dem Weg nach unten war. Sie drehte sich sofort um, als sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Ihr halblanges, graues und strähniges Haar war mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Schultern hingen, die eine noch mehr als die andere, weil sie eine riesige Tasche trug, deren abgenutzter Riemen ihre Schulter weiter nach unten zog. Ihr Mund war von den feinen, kleinen Falten umgegeben, die einen starken Raucher verrieten. Die Tränensäcke und Augenringe konnten auch auf einen Hang zum Alkohol schließen lassen – vielleicht sogar Drogen. Aber sie trug einen hübschen Mantel mit Pelzkragen und man konnte sehen, dass sie sich mit ihrem Aussehen Mühe gegeben hatte, so gut sie konnte. Die Schicht Rouge war gerade einen Tick zu rot, sodass es statt nach natürlich roten Wangen eher so aussah, als hätte sie ein paar Ohrfeigen bekommen, und der Lippenstift lief in die Falten um den Mund aus. Der blaue Lidschatten war auch nicht glücklich aufgetragen. Aber als Anne in die müden, grauen Augen sah, wuchs ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Sie erinnerten sie an etwas, das sie nicht benennen konnte.
»Ja?«, sagte sie abweisend und rechnete damit, dass ihr der ›Wachturm‹ gereicht werden würde. Aber die Frau drehte sich mit einem vorsichtigen Lächeln um, und als sie es geschafft hatte, die Treppe hochzugehen, schien es, als wollte sie sie umarmen. Sie bezwang sich zwar, aber die Stimme war belegt. »Anne?«
Anne nickte verständnislos. Das stand doch auf dem Namensschild an der Tür, also warum fragen? Aber für eine einfache Frage lag in dem Wort auch zu viel Gefühl.
»Ich hätte dich fast nicht erkannt. Nur die Narbe, die ...« Die Frau streckte die Hand aus, wollte ihre Augenbrauen berühren und wie in einem Flashback sah Anne Torstens Hand an dem Abend, als er sie hier in der Wohnung überrascht hatte. Er hatte auch ihre Narbe anfassen wollen. Es war Roland Benito zu verdanken, dass sie überlebt hatte. Sie packte grob das schmächtige Handgelenk, bevor die Hand sie berühren konnte.
»Wer bist du?« Die Stimme klang wie ein Fauchen, denn tief in ihrem Innern wusste sie genau, wer die Frau sein musste. Sie hatte die Augen erkannt, und das Gefühl in ihrer Brust musste Hass sein.
»Darf ich nicht ein bisschen reinkommen, kleine Ann? Es ist so lange her ...«
Jetzt war sie sich sicher. Sie war die Einzige, die sie Ann nannte, und sie sagte es so, als würde sie es nicht fertig bringen, das letzte jämmerliche E auszusprechen. Ihr sehr markanter Nørrebro-Dialekt war auch nicht zu verkennen.
»So lange her, dass es zu spät ist«, unterbrach Anne mit eiskalter Stimme. »Warum bist du gekommen? Was willst du?«
»Ich kann dir alles beantworten, wenn du mich reinlässt. Rieche ich da Kaffee?« Sie inhalierte den Duft aus der Küche, sodass sich ihre Nasenlöcher weiteten.
»Wir haben ganz bestimmt nichts zu bereden!«
Der graue Blick bohrte sich in ihren. Ihre Augen waren voller Reue und Verzweiflung. Es war wie ein Blick in den Spiegel. Die gleiche graublaue Farbe und der etwas schläfrige Ausdruck wegen der großen Augenlider, die mit Lidschatten toll aussahen – also, wenn man ihn richtig auftrug.
»Okay, dann komm halt kurz rein«, sagte sie willenlos. »Aber ich hab viel zu tun«, beeilte sie sich hinzuzufügen und versuchte ein bisschen Stress in ihre Stimme zu legen. Was machte sie hier? Warum suchte sie sie nach so vielen Jahren auf? Wenn nur Torsten nicht dabei war und plötzlich auch auftauchte. Sie schaute zur Sicherheit ins Treppenhaus hinunter, bevor sie die Tür schloss und verriegelte. Nein, er saß wohl immer noch ein. Falls er nicht schon wieder auf Bewährung entlassen worden war.
Nervös sah sich die Frau in der Wohnung um, als wagte sie es nicht, sich zu setzen.
»Setz dich einfach, Mama«, sagte Anne und stellte einen weiteren Becher auf den Tisch. Ihre Mutter sah schnell zu ihr hinüber und sie erschrak selbst darüber, dass das Wort aus ihrem Mund kam. Es wieder zu sagen war überraschend leicht, doch es ohne Zorn auszusprechen war schwer. Sie hatte sie einfach nie anders genannt; »Rose Teresa Larsen« passte nicht zu ihr. Eigentlich passte »Mama« auch nicht zu ihr.
Rose setzte sich, während ihr Blick weiter alle Sachen von Anne inspizierte.
»Sieht so aus, als kämst du gut zurecht, Ann. Bist eine bekannte Journalistin mit festem Job und gutem Gehalt geworden. Eigene Wohnung. Möbel und eine Menge schöner Dinge.« Der Blick verharrte jäh bei einem Foto im Regal. Sie lächelte blass. »Du hast immer noch deinen Vater hier stehen, wie ich sehe.«
»Was willst du? Ich habe seit bald – ja, wie lang mag das sein? – dreizehn, vierzehn Jahren nichts von dir gesehen oder gehört? Und dann tauchst du plötzlich mitten am Vormittag hier auf – unangemeldet!«
Rose sah ihre Tochter lange an. »Du warst erst vierzehn, ja. Ich erinnere mich genau.« Ihr Blick flackerte, und sie beeilte sich, ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche zu suchen. »Es tut mir leid, was zwischen dir und Torsten passiert ist, ich wollte ...«
»Was wolltest du? Mir helfen? Nein, verdammt, das wolltest du nicht. Du hast nur an diese vier Mistkinder gedacht – seine Nachkommen. Die haben dir mehr als deine eigene Tochter bedeutet!«
»Nein, Ann. Das stimmt nicht! Natürlich warst du am wichtigsten. Aber du warst so ...«
Sie schaute sie prüfend an. »Du hast dich sehr verändert. Nur deine schwarzen, widerspenstigen Haare sehen noch wie früher aus. Damals warst du ein wandelndes Nadelkissen, überall Metallstifte und das schwere, schwarze Make-up und deine Klamotten, du sahst ja furchtbar aus.« Sie lachte heiser und konzentrierte sich darauf, ihre Zigarette anzuzünden. Das Feuerzeug klickte ein paarmal, bis es gelang.
Anne starrte sie böse an.
»Und niemand hat uns verstanden. Einen Dreck habt ihr verstanden!« Sie zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, ihre Hand zitterte.
»Wir haben für Gerechtigkeit gekämpft. Aber wie sollte ich Gerechtigkeit in der Welt fordern, wenn sich herausstellt, dass mein Stiefvater ein gemeiner Drogendealer und Mörder ist und meine Mutter ihn darin auch noch unterstützt!«
Rose zupfte nervös an ihren Ärmeln, ihre Augen waren auf die fast geschmolzenen Eiskristalle an der Fensterscheibe gerichtet. Sie hatte den Mantel nicht ausgezogen und Anne bat sie auch nicht darum, denn sie sollte bald wieder gehen.
»Du hast bestimmt mitbekommen, was heutzutage in Nørrebro passiert, oder?! Nennst du das Gerechtigkeit?« Ihre Mutter schaute sie wieder an. »Wir können nicht auf die Straße gehen, ohne Angst haben zu müssen, von verirrten Kugeln rivalisierender Banden getroffen zu werden. Heute gibt es wirklich etwas, worum man in Nørrebro kämpft, wenn man Gerechtigkeit haben will. Damals war das nicht so. EU-Abstimmung und – ein Jugendzentrum!« Sie schnaubte das Wort zusammen mit dem Rauch aus, der aus beiden Nasenlöchern kam.
So kannte sie ihre Mutter. Anne hatte nie etwas getan, das in ihren Augen gut genug gewesen wäre. Natürlich war sie von zu Hause abgehauen, ohne zu sagen, wo sie sich aufhielt. Aber hatte ihre Mutter sie als vermisst gemeldet? Hatte sie überhaupt nach ihr gesucht? Sie hätte tot sein können. Ermordet!
»Wie hast du mich eigentlich gefunden? Damals hast du mich doch auch nicht gefunden«, fragte sie zurückhaltend.
»Das war Torsten, Schätzchen. Er hatte mir versichert, es wäre am besten, dich in Ruhe zu lassen. Dass du deine eigenen Erfahrungen machen würdest.«
»Okay – als Vierzehnjährige?!« Anne zog vorwurfsvoll eine Augenbraue hoch und schüttelte missbilligend den Kopf. »Und auf Torsten hast du immer gehört. Weißt du, dass er mich aufgesucht hat, als er auf Bewährung freigelassen wurde?« Sie schaute die kleine Frau direkt an, die unter ihrem Blick noch weiter zu schrumpfen schien.
»Nein, das hat er nicht erwähnt. Ich besuche ihn nicht mehr so oft. Ich kann es nicht ausstehen, in dieses Gefängnis zu gehen. Er hat dir doch wohl nichts getan?« Sie klang aufrichtig besorgt.
»Ich hab’s überlebt, wie ich es immer ohne deine Hilfe geschafft habe – und mit ein paar zusätzlichen Narben als Erinnerung.«
»Du wirst doch wohl verstehen, dass ich nicht eingreifen konnte, wenn er dich geschlagen hat. Dann hätte er mich totgeschlagen. Das weißt du doch!«
»Hätte er sich nur mit Schlagen begnügt. Du hättest von ihm wegziehen können, Mutter! Warum sind wir nicht einfach umgezogen?« In ihrer Stimme lagen Tränen, wie damals bei dem kleinen Mädchen, das seine Mutter anflehte umzuziehen, ohne dass die zuhörte. Das tat sie jetzt auch nicht. Sie hatte eine Ausgabe des Tageblatts aus einem Stapel auf dem Boden genommen und sie beiläufig durchgeblättert. »Das ist also die Zeitung, die du machst«, stellte sie mit mütterlichem Stolz in der Stimme fest.
»Ich mach die nicht. Darin sind nur ein paar Artikel, die ich geschrieben habe.« Der Themenwechsel kam ihr sehr gelegen. Sie wollte über die Vergangenheit und Torsten am liebsten weder reden noch nachdenken.
»Du musst gut verdienen, wenn du es dir leisten kannst, hier zu wohnen. Ich bin in eine kleine Einzimmerwohnung in Nørrebro gezogen. Konnte mir nichts anderes leisten, die alte wurde renoviert und die Miete stieg um mehr als das Doppelte. Die andere ist billig, aber das ist auch eine alte Bruchbude.« Sie seufzte und legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, während sie weiterblätterte. Anne überlegte, was wohl aus ihren Stiefgeschwistern geworden war, aber fragte nicht. Wollte es eigentlich gar nicht wissen.
»Hast du Arbeit?«, fragte sie stattdessen.
»Nee, was kann ich machen? Einen Dreck. Ich habe nicht deine Fähigkeiten. Aber glücklicherweise wohnen wir ja in einem Land, das sich um die Schwachen kümmert, obwohl es hart sein kann, in diesem System zu sein. Die fordern heutzutage so viel von uns, es wird immer schlimmer und das Geld immer weniger.« Sie hatte die letzte Seite erreicht und schmiss die Zeitung gleichgültig zurück auf den Stapel. Anne saß unruhig auf dem Stuhl. Sie wollte nie wie ihre Mutter enden, so viel stand fest. Aber war sie auf dem Weg dorthin? Das soziale Erbe – war das trotzdem am stärksten?
»Du ähnelst deinem Vater. Von ihm hast du die kohlrabenschwarzen Haare.« Rose sah wieder auf das Foto ihres verstorbenen Mannes. Ein kleines, liebevolles Lächeln, das ihre Züge milderte, erschien um ihren faltigen Mund. Plötzlich konnte Anne sehen, dass ihre Mutter wohl einmal hübsch gewesen war.
»Alles in allem hast du nicht besonders viel über ihn erzählt«, meinte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß nicht mal, wie er gestorben ist.«
Rose schaute immer noch auf das Foto, als spräche sie mit ihm und nicht mit Anne.
»Jonas war ein guter Mensch. Er war LKW-Fahrer und fuhr für verschiedene Firmen nach Dänemark. Ich hab ihn getroffen, als ich in einem Autobahncafé gearbeitet habe. Er kam immer rein und bekam ein Sandwich mit Hühnchen und eine Tasse Kaffee bei mir.«
»Er fuhr nach Dänemark – von wo aus?«
»Litauen. Er hieß Jonas Maldeikis.«
»Mein Vater war Litauer?!« Anne konnte ihre Verblüffung nicht verbergen.
Rose nickte. »Wir haben uns entschieden, dir nicht seinen auffälligen Nachnamen zu geben. Er war ein echter Kommunist.«
»Wie ist er gestorben?«
»Bei einem Autounfall an der polnischen Grenze. Du warst gerade zwei geworden.«
»Warum hast du mir das nie erzählt?«
Rose zuckte mit den Schultern. »Was hätte das gebracht? Du warst ja so klein. Im Jahr darauf traf ich Torsten, der stattdessen dein Vater sein sollte. Aber du hast ihn nie akzeptiert. Dann bist du weggelaufen. Du hast ihm nie eine Chance gegeben.«
»Jetzt hör aber auf!« Aufgebracht räumte Anne die Becher vom Tisch ab. Ihr Kopf rauchte von der neuen Information, dass sie litauisches Blut in den Adern und eine unbekannte Familie dort drüben hatte. Bedeutete das etwas für ihre Zukunft? Konnte sie das überhaupt zu etwas gebrauchen? Sie hatte noch nicht herausgefunden, welchen Zweck ihre Mutter mit ihrem Besuch verfolgte, aber das tat sie, bevor sie mit den leeren Bechern die Küche erreichte.
»Ich kann nicht zufällig ein paar Tage bleiben, Ann? In Nørrebro ist es so unsicher, ich trau mich nicht allein zu sein, und – ich hab nur dich.«