Читать книгу Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 4

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Kriminalkommissar Roland Benito fror noch mehr, als er aus dem warmen Auto stieg. Er klappte den Mantelkragen hoch, um seine Ohren zu schützen. Es war kein Spaß, um drei Uhr nachts von Vizepolizeidirektor Kurt Olsens heiserer, verschlafener Stimme aus dem warmen Bett geholt zu werden. Er war kurz angebunden gewesen und hatte ihm nur einige wichtige Informationen wie die Adresse und das, was er bisher wusste, mitgeteilt. Es hatte sich nicht so heftig angehört, wie es nun aussah, als Roland auf das flatternde Band der Polizeiabsperrung stieß, das sich deutlich von der schneeweißen Umgebung abhob und bewies, dass ein Verbrechen geschehen war. Eine Tatsache, die durch die Kriminaltechniker auf dem Hof bestätigt wurde. In der Dunkelheit wurden ihre weißen Schutzanzüge eins mit dem Schnee, der still wie in einer friedlichen Weihnachtsnacht fiel. Mutlos ging er zum Hof hinüber. Die Techniker schauten ihn kurz an und grüßten, als er an ihnen vorbei ging. Der Beamte vor der Tür reichte ihm einen weißen Overall, Latexhandschuhe, Mundschutz, eine blaue Plastikhaube und Überschuhe. Während er sich anzog, bemerkte er flüchtig, dass das Haustürschloss aufgebrochen war.

Die Techniker arbeiteten auch im Haus. Sie nahmen Fingerabdrücke und sammelten Spuren. Kurt Olsen war eingetroffen und sprach mit einer aufgeregten Frau in einem fast stockdunklen Schlafzimmer. Ihn erkannte man in seinem Schutzanzug, der an einem Tatort vorgeschrieben war, auch nicht wieder. Eine zweite Frau saß auf dem Bett. Ihre Nase und Oberlippe bluteten, und das eine Auge war rot und zugeschwollen. Noch ein Raubüberfall im eigenen Haus in einem ansonsten ruhigen und stillen Gebiet weit draußen auf dem Land, wo man früher nicht mal die Tür abschließen musste. Nachdem Banken und Firmen uneinnehmbare Bollwerke der verbesserten Sicherheit geworden waren, mit teuren Alarmsystemen und Überwachungsanlagen, mussten andere herhalten, hauptsächlich Ältere, Unschuldige und Schutzlose, die es sich nie hätten träumen lassen, dass so etwas in ihrer friedlichen Umgebung geschehen könnte und schon gar nicht in ihrem eigenen trauten Heim. Dem Mythos zufolge waren es ausländische Banden, die sich auf so etwas spezialisiert hatten. Besonders die Osteuropäer wurden beschuldigt. Aber eine Analyse der Reichspolizei legte ganz andere Zahlen auf den Tisch. Die meisten Überfälle wurden tatsächlich von jungen Dänen begangen. Oft sogar sehr jungen Dänen.

Was Roland durch die Türöffnung sah, musste der Tatort sein, dachte Roland. Eine Lampe war vom Nachttisch gefallen und auf dem Kopfkissen, das er hinter der Frau im Bett undeutlich erkennen konnte, war Blut. Sie saß da wie eine weiße Gipsfigur und starrte versteinert vor sich hin. Er schätzte sie auf Ende fünfzig. Die Frau, die mit Kurt Olsen sprach, war wohl ein bisschen jünger und hatte ein maskulines Äußeres und grobe Züge. Eine breite Nase wie ein australischer Aborigine, eine Brille mit ovalen Gläsern und mittelblonde Haare. Strähnen guckten aus den zerwühlten, hochgesteckten Haaren hervor – sicher ihre Nachtfrisur. Ihre Stimme war ebenfalls tief und heiser wie die eines Mannes, aber das konnte natürlich auch an Angst oder Nervosität liegen. Er sah sich im Haus um und fand in der Küche den Rechtsmediziner Henry Leander, zusammen mit ein paar Leuten von der Spurensicherung. Sie machten Fotos von einem leblosen Mann, der in einer merkwürdig verdrehten Stellung auf dem Boden lag. Noch ein Tatort. Roland nickte zum Gruß, der schweigend von dem Rechtsmediziner, der sich aus seiner knienden Stellung erhob und ihn mit ernster Miene ansah, erwidert wurde.

»Was würdest du tun, wenn du mitten in der Nacht in deinem eigenen Haus überfallen werden würdest? Gegenwehr leisten und deine Wertsachen verteidigen oder es geschehen lassen?«

Roland zuckte mit den Schultern. Das war nicht gerade eine Situation, über die er nachgedacht hatte.

»Vielleicht hat man keine Wertsachen, die so viel wert sind, dass es sich lohnt, darum zu kämpfen«, seufzte Leander und schaute herunter auf den Mann auf dem Boden. Roland versuchte, es zu unterlassen. Leander hatte Recht, nichts Materielles war es wert, sich so zurichten zu lassen.

»Was ist die Todesursache?«

»Innere Blutungen nach scheinbar wahllosen Schlägen auf den Kopf und den Körper. Er hat sich mit den Händen verteidigt, die Finger sind zur Faust geballt. Die Kniescheiben haben auch was abgekriegt.« Henry Leander zog mit einem Plopp die weißen Handschuhe aus. »Die Obduktion zeigt vielleicht mehr.«

Kurt Olsen hatte Roland entdeckt und kam ihm gemeinsam mit der maskulinen Frau entgegen. Als die Frau ihren Hals reckte, um hineinsehen zu können, schloss Henry Leander schnell die Tür zur Küche. Nervös sah sie zum Fenster, als sie draußen in der Dunkelheit die Sirenen eines Krankenwagens hörten. Kurz darauf stürzten zwei Sanitäter mit einer Trage herein. Kurt Olsen dirigierte sie ins Schlafzimmer und drehte sich anschließend wieder zu ihm um. »Ich fahre mit ins Krankenhaus. Ella Geisler hier ist die nächste Nachbarin. Signe Hovgaard ist zu ihnen geflohen, um Hilfe zu holen. Schau mal, was du aus ihr rausbekommst«, flüsterte er und verschwand durch die offene Tür in die Kälte. Der Flur wurde mit Minusgraden geflutet, während die übel zugerichtete Frau in den wartenden Krankenwagen getragen wurde. Ella Geisler stellte sich in die Türöffnung und sah ihrer Nachbarin nach. Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die Sanitäter schlossen schnell die Türen, als sie die Trage an ihren Platz geschoben hatten, und fuhren in hohem Tempo in Richtung Straße. Ella Geisler trug nur einen türkisfarbenen Velours-Morgenmantel, den sie über ihr Nachthemd gezogen hatte. Aber sie wirkte nicht, als machte die Kälte ihr etwas aus. Vielleicht half ihr ihre kräftige Polsterung, die Wärme zu speichern, aber Roland fror trotz Mantel und den Extrakilos, mit denen ihn die vielen Mittag- und Abendessen über Weihnachten und Neujahr ausgestattet hatten. Sanft zog er Ella Geisler nach drinnen, schloss die Tür und sprach gedämpft mit einem der Techniker darüber, wo sie sich aufhalten könnten, ohne Spuren zu zerstören. Der Techniker zeigte in ein Zimmer, in dem sie fertig waren, aber nichts gefunden hatten.

»Nicht zu glauben, dass so etwas hier passiert«, murmelte Ella Geisler und setzte sich gehorsam in einen Ledersessel, wie er sie gebeten hatte. Er gab ihr eine karierte Wolldecke, die über der Armlehne des Sessels lag, in den er sich selbst setzte. Sie zog die Decke mit automatischen Bewegungen um sich, während sie fortfuhr, eine Menge Unverständliches zu murmeln. Im Wohnzimmer nebenan lagen umgefallene Stühle, zerbrochene Gläser und Blumentöpfe, deren Erde auf einem Perserteppich verstreut war. Die Spurensicherung verteilte kleine Schilder mit Nummern und nahm Bilder aus verschiedenen Perspektiven auf. Es gab deutliche Anzeichen, dass Albert Hovgaard um sein Leben gekämpft hatte. Vielleicht alle beide. Lohnte sich das?, fragte sich Roland erneut und schloss die Tür, damit sie sich ungestört unterhalten konnten.

»Können Sie mir erzählen, was hier heute Nacht passiert ist? Ganz in Ruhe.«

Sie hörte auf zu murmeln, schaute ihn an und begann zu zittern. »Signe hat uns geweckt. Sie war völlig verstört. Ihr Gesicht war voller Blut. Es dauerte eine Weile, bis sie erzählen konnte, was passiert war. Wie Sie sehen können, ist sie völlig am Ende«, begann sie. Ihre Augen waren groß und erschrocken, enthielten aber trotzdem den kleinen Funken Eifer, mit dem die meisten Menschen etwas Sensationelles berichten. In der nächsten Zeit würde wohl viel getratscht werden.

»Hat sie erzählt, was passiert ist?«

»Sie wurde von Tumulten im Haus geweckt und als sie die Augen aufschlug, sah sie sich einem Mann mit Maske gegenüber.«

»Maske?«

»Ja, nur die Augen waren frei. Vielleicht eine Sturmhaube. Ist es nicht das, was die benutzen?«

»Wer?«

»Die Osteuropäer.«

»Glaubt sie denn, dass es Osteuropäer waren?«

»Sind das nicht immer die? Jedenfalls haben sie eine Sprache gesprochen, die Signe nicht verstand. Vielleicht Russisch. Soviel ich weiß, waren die zu dritt oder viert.« Sie zog die Decke fester um sich und schielte zu der geschlossenen Tür.

Der Leichenwagen war angekommen, hatte Roland durch ein nach Süden gehendes Fenster bemerkt. Leander hatte ihn sicher zur Hintertür beordert, damit die Leiche direkt ins Rechtsmedizinische Institut gefahren werden konnte, ohne zu viel Aufsehen zu erregen. Aber man hörte deutlich Unruhe hinter der Tür.

»Was ist dann passiert?«

Sie schaute ihn wieder an und schüttelte still den Kopf. »Albert geriet offenbar in eine Schlägerei und Signe lief zu uns rüber. Wir wohnen gleich dort drüben.« Sie drehte sich um und zeigte auf das Fenster.

»Wir? Sie und Ihr Mann?«

»Ja, und unsere Zwillinge, Sam und Dorthe. Sie sind dreizehn.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Sie sind rausgegangen, um nach den Verbrechern zu suchen, die vielleicht Spuren im Schnee hinterlassen haben.«

Roland runzelte die Stirn. Das war nicht gerade das, was sie bei Ermittlungen gebrauchen konnten.

»Sie haben nicht zufällig die Möglichkeit, sie zu erreichen? Wir sind nicht so glücklich darüber, dass sie rumrennen und Detektiv spielen.«

»Sam und Dorthe haben Handys, aber so etwas benutze ich nicht, daher ...«

Er holte sein eigenes Handy aus der Tasche. »Können Sie sich an die Nummern erinnern?«

»Gerade nicht, ich kann mich kaum an meinen eigenen Namen erinnern.«

Roland gab auf. Es blieb nur zu hoffen, dass im Haus genug Spuren gefunden worden waren. In solchen Fällen gab es die normalerweise. Und falls es drei oder vier Einbrecher gewesen waren, wäre es seltsam, wenn keiner von ihnen welche hinterlassen hätte.

»Wurde Signe Hovgaard auch in die Schlägerei verwickelt?«

Ella rang unter der Decke die Hände.

»Der Mann mit der Maske hat ihr mit der Faust direkt ins Gesicht geschlagen. Wenn sie entdeckt hätten, dass sie durch die Hecke über den Feldweg zu uns rüber gelaufen ist, wären sie ihr bestimmt gefolgt und hätten sie auch getötet. Aber die dachten wohl, sie wäre bewusstlos ... oder tot.«

»Sie haben sich also sofort hierher begeben? Haben Sie irgendetwas von den Tätern gesehen?«

»Nein, die waren weg. Wir mussten ja erst mal kapieren, was Signe schrie. Als wir herkamen, um Albert zu helfen, lag er tot auf dem Boden.« Ella Geisler schluckte, hielt aber die Tränen zurück.

»Sie haben an dem Abend nichts Ungewöhnliches bemerkt? Parkende Autos oder etwas anderes?« Falls es Osteuropäer waren, hatten sie in der Regel eine andere Taktik als dänische Diebe. Sie beobachteten die ausgesuchte Wohnung lange Zeit, und das Ganze ging ohne Eile vonstatten. Dass die Banden ihr Ziel über Tage hinweg überwacht hatten, bevor sie zuschlugen, wenn sie der Meinung waren, dass die Gelegenheit am günstigsten war, hatte man vorher schon gesehen. Solange aßen und schliefen sie im Auto.

»Nee, ich habe nichts bemerkt. Wir können allerdings von unseren Fenstern aus die Straße auch nicht sehen, also, falls die dort geparkt haben ...«

»Wissen Sie, ob irgendwelche Gegenstände verschwunden sind? Waren hier Wertsachen?«

»Nee, das glaub ich nicht. Wir sind doch nur arme Bauern.« Sie lächelte gezwungen.

»Hier sieht es aber nicht besonders arm aus!« Er hatte bemerkt, dass alles neu war, von den Möbeln über die Wände und Fenster bis hin zur Decke.

»Der Hof hat vor ein paar Jahren gebrannt. Das Wohnzimmer und die Küche sind fast bis auf den Grund niedergebrannt. Das war schrecklich. Wir haben um unseren eigenen gefürchtet, der so dicht dran ist. Glücklicherweise ist niemandem etwas passiert, und sie haben ihn mit dem Geld der Versicherung wieder aufgebaut. In den Kneipen gab es Gerede, dass sie den Hof selbst angezündet hätten, und ...«

Sie schwieg. »Haben Sie noch weitere Fragen, ich ...«

Roland schüttelte den Kopf. Es war für alle eine ungewöhnliche Nacht gewesen und mehr bekam er wohl jetzt nicht aus ihr heraus. Er hoffte, Kurt Olsen hatte im Krankenhaus mehr Glück gehabt, falls er überhaupt die Möglichkeit bekommen hatte, mit Signe Hovgaard zu sprechen.

Als er allein war, ging er in die Küche zu dem dort arbeitenden Techniker. Henry Leander war ins Rechtsmedizinische Institut zurückgefahren, um die Leiche unter besseren Bedingungen gründlicher zu untersuchen. Der Küchenfußboden sah aus wie in einem Schlachthof. Der Techniker saß in der Hocke, sammelte mit einer Pinzette kleine weiße Klumpen aus der Blutlache und legte sie vorsichtig in eine Tüte. Er hielt sie Roland hin und schüttelte sie. »Vielleicht gehört einer davon dem Täter«, meinte er, als müsste er die Situation erklären. Roland schluckte ein weiteres Mal, als er plötzlich sehen konnte, dass die weißen Klumpen Zähne waren. Er merkte schnell, dass er in der Küche nur im Weg war, und sah sich stattdessen in den übrigen Räumen um. Es war unmöglich zu sagen, ob etwas gestohlen worden war. Nur Signe Hovgaard konnte das feststellen, aber als er in das Büro kam, das Albert Hovgaards Arbeitszimmer sein musste, sah er, dass die Tür eines soliden Metallschranks offen stand. An der Wand daneben hing eine Medaille an einem rot-weißen Band. Er untersuchte sie näher. Albert Hovgaard war offenbar Schütze. Pistolenschütze. Einer der begabteren Sorte, der eine Goldmedaille gewonnen hatte. Es war kein Safe, wie er zunächst angenommen hatte, sondern ein Waffenschrank für Pistolen, in dem sie laut Gesetz aufbewahrt werden sollten. Er war leer. Auch die Munition fehlte. War es den Dieben gelungen, den Schlüssel zu finden, oder hatten sie den Besitzer gezwungen, ihn herauszugeben und aufzuschließen? In den meisten Schützenvereinen war die Standardpistole ein 22-Millimeter-Kaliber, wusste er, aber vielleicht hatte Albert Hovgaard andere und möglicherweise stärkere Waffen? Waren die das Ziel der Einbrecher gewesen, wussten sie etwas von dem Waffenschrank? Es waren also bewaffnete Mörder auf der Flucht. Plötzlich fühlte er sich todmüde.

In drei Stunden sollte er im Präsidium sein. Es lohnte sich kaum, nach Hause zu fahren und wieder ins Bett zu gehen.

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3

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